Imagologie von Himmel und Hölle.
Zum Verhältnis von textueller und bildlicher Konstruktion imaginärer Räume.
Bilder denken: Imagines agentes in Schrift und Bild
Himmel und Hölle sind imaginäre Räume, deren Bedeutung für das christliche Abendland schwerlich zu überschätzen ist.Nach Vorläufen im vorderorientalischen, jüdischen und griechischen Kulturraum bildet sich in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten die triadische Topographie von irdischem Lebensraum und zwei Jenseitsräumen, der göttlich-angelischen Sphäre und dem zumeist unterirdischen Strafort. Beide Jenseitsräume werden räumlich ausdifferenziert und bilden die Aufenthalte für spezifische Populationen, zunächst für die Ureinwohner, also für Gott selbst, die Engel, die gestürzten Engel und die Dämonen. Diese Ureinwohner werden schon während der historischen Zeit und endgültig beim Weltgericht um die Masse der Toten ergänzt. Sind Himmel und Hölle die Modifikationen der civitas dei, so bildet sich die irdische Sphäre nach den sozialen Regeln der civitas mundi. So verschieden die Ordnungen von civitas dei und civitas mundi auch sind, so gewinnt letztere auf erstere insofern Einfluß, als die prozessuale Besiedlung der Jenseitsräume durch die Toten sich grosso modo nach den moralischen Qualitäten der ehemals auf der Erde Lebenden richtet. Dabei können sich Positionen radikal verändern, so daß weltlich oder geistlich Hochstehende, wie Fürsten oder Bischöfe, sich in den schrecklichsten Regionen der Hölle wiederfinden, während sozial Niedrigstehende und Machtlose in die höchsten Ränge der Seligkeit erhoben werden können. Denn es ist für das metaphysische Spektakel grundlegend, daß Ansehen und Erscheinung in der Welt wenn nicht durchgehend, so doch oft ein täuschender Schein sind, bloße doxa, welche die moralische Qualität einer Person verhüllt. Die prozessuale Verteilung der Toten auf spezifische Jenseitsregionen dagegen ist als Hervortreten von derem unverhüllten Wesen zu verstehen: sie gelangen genau dorthin, wo es ihrem Wesen gemäß zugeht. Das Gericht ist das finale Ereignis, das das Durcheinander von Sein und Schein, Wahrheit und Lüge auf der Erde ultimativ beendet und durch Wägung der entblößten Existenzen eine endgültige Entmischung vornimmt. Gegenüber der ungerechten und zumeist gewaltsamen Verteilung der Daseinslasten und Lebenschancen auf der Erde sind die Jenseitsräume insgesamt Sphären der Wahrheit und Gerechtigkeit. Nicht nur im Himmel, sondern auch in der Hölle geht es gerecht und wahr zu.
Bis diese mentale Architektur des Weltbaus, sagen wir: bei Augustin, entwickelt war, vergingen etwa tausend Jahre. Für mehr als weitere tausend Jahre herrschten die Grundlinien dieses mental mapping im christlichen Abendland uneingeschränkt. Dies gilt, auch wenn eine große Zahl wichtiger Differenzierungen im Laufe der Jahrhunderte hinzutrat, z.B. das Purgatorium als "dritter Ort" (LeGoff), die immer genauere Vermessung der Höllentopographie, die Optimierung von Strafformen und Seligkeiten oder die immer ausgetüfteltere Erfassung der Populationen. Nach dem Ende des Mittelalters brauchte es mehrere Jahrhunderte, um diese dreisphärische Architektur wenn nicht zum Einsturz zu bringen, so doch soweit zu mediatisieren, daß Himmel und Hölle invertierten und gleichsam auf der Erde selbst Platz nahmen: als irdische Paradiese oder irdische Höllen. Auch im postreligiösen Zeitalter werden die kollektiven Phantasmen von vergangenen Religionsformen gespeist, wie man leicht an massenmedialen Produkten, sei's im Film, Roman oder im Cyberspace, ablesen kann, die nach wie vor ohne Jenseitsräume nicht auskommen können. Doch auch an kognitiven Konstruktionsformen postreligiöser Weltbilder, die bis heute oft diadische oder triadische Grundmuster aufweisen, ist das Weiterwirken der metaphysischen Architektur von Himmel, Hölle und Erde zu beobachten.
Es scheint die überaus große kulturelle Selbstverständlichkeit von Himmel und Hölle zu sein, die erklärt, warum es dazu so erstaunlich wenig seriöse nicht-theologische, also religionswissenschaftliche, ethnologische, kultur- und mentalitätsgeschichtliche, ikonologische, gar diskursgeschichtliche oder strukturalistische Untersuchungen gibt. In diesem Punkt ist Europa ziemlich unaufgeklärt über sich selbst. Das kann ich nicht ändern. Was ich an wenigen Beispielen zeigen will, ist vielmehr das intermediale Verhältnis, das Himmel, Hölle und Erde hinsichtlich ihre textuellen und ikonischen Konstruktion einnehmen. Ausgang meiner Überlegungen bildet die Formel, die ich eingangs bereits benutzte, nämlich daß Himmel und Hölle imaginäre Räume seien. Das gr. Wort fantasia bezeichnet nicht nur Trugbilder, sondern vor allem das Vermögen, etwas in Erscheinung treten zu lassen. Beiden Bedeutungsrichtungen entspricht die lat. imaginatio, die in der Formel der 'imaginären Räume' steckt. Himmel und Hölle sind Effekte produktiver Ein-Bildungs-Kraft. Im Sinne der klassischen ars memoria sind es imagines agentes, die nicht nur etwas vorstellen und erinnerbar machen, sondern effektuierende Kraft auf diejenigen ausüben, die sich selbst oder anderen etwas vorstellen. Man kann es auch so ausdrücken: Himmel und Hölle sind Codes zur medialen Erzeugung von Vorstellungsräumen, die eine enorme performative Sättigung aufweisen. Die Performanz von Himmel und Hölle zielt vor allem auf die Festigung des kollektiven Gedächtnisses, in das über die imagines agentes eine moralische Ordnung unverlierbar eingebrannt werden soll.
Was hat dies mit dem Thema "Bilder-Denken" zu tun? Der Antwort will ich vorwegschicken, daß Religionswissenschaftler wie Axel Michaels oder Walter Burkert von einem biologischen Primat der Angst in den Religionen sprechen. Das will ich nicht diskutieren, sondern nur sagen, daß, sofern diese Hypothese zutrifft, die wesentliche Antriebskraft für die Bildung der christlichen Jenseitsräume danach die Angst wäre. Das leuchtet für die Hölle unmittelbar ein, die, als gesteigerter Reflex existenzialer Angst in der Welt, der gewaltigste Raum der Angst ist, den diese Kultur überhaupt hervorgebracht hat. Der Himmel dagegen ist der Raum für diejenigen, welche, weil auf immer von dieser Angst erlöst, eben selig sind. Angst und Seligkeit sind komplementär. "In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden." (Joh 16,33).
Nun zeigt sich, daß die beiden Jenseitsräume, insofern sie Codierungen von Angst sind, in unterschiedlichen Medien ausdifferenziert werden. Man kann auch sagen: Himmel und Hölle sind Codierungen anderer Codes. Sie sind kognitive Verarbeitungen biologischer, kulturspezifischer, sozialer, situativer, biographischer Codes von Angst. Kognitiv nenne ich die Entwürfe von Jenseitsräumen, weil sie bewußte, elaborierte und strategische Anknüpfungen und Transformationen vorfindlicher Angst-Codes darstellen.
Für eine erste mediale Differenzierung ist es wichtig zu sehen, daß sich die klassischen Jenseitsräume im Umkreis theologischer Diskurse und literarischer Erzählungen, und zwar in Schriftform, bilden. Das wird leicht vergessen, weil unsere Vorstellungen von Himmel und Hölle überwiegend durch das Bildgedächtnis geprägt sind. Historisch ist es aber umgekehrt: Erst mehrere Jahrhunderte nach der schriftförmigen Ausarbeitung von Himmel und Hölle setzt die Hochkonjunktur von bildnerischen Darstellungen in Miniaturen, Handschriftenillustrationen, skulptural an Kirchenportalen, in Gemälden und schließlich auch in privaten Andachtsbildern ein. Noch später, im Hochmittelalter, beginnt die akustische Eroberung der Jenseitsräume: mit der Korrespondenz, die zwischen musikalischen Elementen der Liturgie und der musica mundana, d.h. der himmlischen Sphärenmusik besteht, wird der Versuch eingeleitet, auch die Klangwelt der Jenseitsräume, wenigstens des Himmels, nicht nur zu imaginieren, sondern musikalisch zu realisieren. Vermutlich erst in unserem Jahrhundert wurde es gewagt, die schon im Mittelalter gedachte Kakophonie der Hölle klanglich umzusetzen. Fragt man nach einer medienhistorischen Großgliederung, so gilt zweifelsfrei, daß die Reihe Schrift, Bild und Klang auch ein zeitliches Nacheinander dieser drei Medien in der Vergegenwärtigung der Jenseitsräume darstellt.
Himmel und Hölle sind also Codes zur Erzeugung von Vorstellungen dessen, was nicht zu sehen, zu hören oder zu fühlen ist. In Kulturen wie der jüdischen und der christlichen, die unter einem generellen Bilderverbot standen, leuchtet es deswegen ein, wenn das primäre Medium der Imagination von Jenseitsräumen nicht das Bild, sondern die Schrift ist. Die theologische Reflexion und die literarische Erzählung, wozu ich die Berichte von Jenseitsreisenden zähle, sind mithin der Ursprung der Bilder des Jenseits. Diese Bilder werden zuerst be-/geschrieben (Ekphrasis), auch wenn die Schrift sehr oft ausgegeben wird als das erinnernde Festhalten dessen, was ein Jenseitsreisender gesehen und gehört hat. Die apokalyptischen Texte sind darum Reflexe und Reflexionen eines katathymen Bilderlebens, das ins Medium der Schrift übersetzt wird und damit eine geronnene, wiedererkennungsfähige, also erinnerbare, aber nicht mortifizierende Gestalt gewinnt: denn es gehört zu den Merkmalen der Jenseitstexte, daß ihre performative und rhetorische Dimension extrem stark ist.Imagines agentes sind mithin nicht an Bildmedien gebunden, sondern sie entfalten ihre Wirksamkeit auch in der Schrift und dort durch die rhetorisch-evokativen, man möchte sagen: pygmaliontischen Effekte der tropischen Figuren und animatorischen Potenzen der Sprache. Die Sprache zuerst ist das Medium des Imaginären, also der Sphäre der Imaginatio, des Ein-Gebildeten, das im Hegelschen Sinne die Form des Erinnerns, nämlich ein "Sich-innerlich-machen, Insichgehen" darstellt.
Katathymes Bilderleben und sein Sediment in der Schrift, nämlich die imagines agentes, sind Indikatoren dafür, daß das Raum-Zeit-Kontinuum des Diesseits nicht so kontinuierlich ist, wie man glaubt. Sondern es ist gleichsam perforiert. Es kann überall Tore aufweisen für den Einfall des Jenseitigen. Nur über diese Tore, die dadurch zu 'magischen Kanälen' werden, und durch die irdischen Jenseitsreisenden, sofern sie sich als Ethnographen des Jenseits bewährten und nicht blind und stumm vor erhabener Begeisterung waren, – nur über diese Nachrichtenkanäle wissen wir einiges über das Jenseits. Diesen Nachrichten zufolge besteht eine religionsübergreifende Einigkeit darüber, daß das Jenseits räumlich verfaßt ist, öfters sogar auch zeitliche Vektoren aufweist – wie z.B. in Dantes "Divina Commedia". Die großen europäischen Entdecker dieser Räume – wie Odysseus, Äneas, der Jenseitswanderer im 10. Buch von Platons "Politeia", Johannes der Apokalyptiker, St. Brandan und ihrer aller Erbe: Dante in Begleitung von Vergil – all diese Piloten des Jenseits sind auch Kartographen und Vermesser, Ethnologen und Schriftsteller. Von diesen Reisenden der Schrift, die einen rhetorischen Kanon des Jenseits bildeten, übernahmen erst viel später die Maler die Angaben für die Ikonographie von Himmel und Hölle, welche unser Bildgedächtnis ausfüllt. Es kann also kein Zweifel sein, daß die bildenden Künste hinsichtlich von Himmel und Hölle in der Schrift ihr Apriori finden. Doch die Schrift selbst hat ihr Apriori wiederum im Bild, nämlich dem inneren Bildvermögen, der imaginatio, ohne deren performative Kraft die Schrift niemals fähig wäre, imagines agentes zu entwerfen: sie wäre sonst nur ein mortifiziertes Relikt inkommensurabler Bilder, Index des Unsagbaren und Unausdrückbaren, dürres Rascheln von Blättern, "Beinhaus der Wirklichkeiten", wie Hegel sagt.
Wie Schrift und Bild im Verhältnis zur Imaginatio stehen, will ich untersuchen. Dabei kommt ein weiteres Verhältnis ins Spiel, nämlich das zum Körper. "Bilder denken" im Sinne von imagines agentes heißt nicht, bloße Vorstellungen von etwas ohne Gegenwart eines Gegenstandes im Kopf haben, wie Kant die Einbildungskraft im Unterschied zur Anschauung definiert. Agent, also aktiv, ergreifend, handlungsauslösend zu sein –: dies heißt mehr, nämlich daß Bilder inkorporiert werden und körperliche Erregungen, Veränderungen oder Handlungen auslösen. Das ist die Performanz der Bilder. Diese körperliche Spur der Bilder, ja, das Einspuren des Körpers durch Bilder ist die energischste Form, in der Erinnerungen inskribiert werden, und die energischste Form, in der Bilder zur Resonanz von Körpern und Körper zur Resonanz von Bildern werden können.
Die Visio Tnugdali und die Hölle der Sexualität
Im Mittelalter werden viele Jenseitsreisen geschildert – mit Vorstufen in der jüdischen und patristischen Tradition. Im folgenden dient nur ein Text als Exempel: es ist "Visio Tnugdali", die 1149 von dem Regensburger Mönch Marcus auf lateinisch aufgeschrieben wurde. Die Vision kursierte mehrere Jahrhunderte durch ganz Europa. Sie handelt von einem Ritter, der in einer dreitägigen Ekstase eine Jenseitsreise besteht. Tundal wird von einem – der üblichen – Angelus interpres an den Stätten des Strafgerichts vorübergeführt wird, bis er das Paradies erreicht – eine Route, die unschwer als die klassische erkennbar ist, die später auch Dante mit Vergil durchwandert. Das Besondere ist, daß Tundal bei jeder Station an eigener Seele die Pein der Gemarterten durchleiden muß. Jenseitsreisen beruhen auf der ekstatischen Möglichkeit, daß die Seele den Körper verlassen kann, um in den Räumen des Imaginären umherzuschweifen. Dies ist auch hier so. Aber die Seele ist, abgesehen vom Bewußtsein ihrer Schuld, nur ein anderer Körper – wie auch die leiblosen Toten, die verdammten Seelen, nichts anderes als transfigurierte Leiber sind: sie sind immateriell und virtuell, doch mit allen Qualitäten des lebendigen Fleisches ausgestattet. Diese Evidenz der Leiblichkeit der (toten) Seelen ist in den mittelalterlichen Texten über Himmel und Hölle derart verbreitet, daß leiblose Seelenvorstellungen die Minderheit darstellen.
In der Hölle werden die lustvollen Leibessünden oft zu Strafen umgekehrt: die Völlererer werden ununterbrochen mit Unrat vollgestopft und Jauche wird ihnen eingetrichtert; die Geizigen, die nichts geben wollten, zernagen ihre eigenen Glieder; die Unzüchtigen werden in eine ewige Verschlingung ihrer Leiber gezwungen. Zwischen Sünde und Strafform besteht eine spiegelnde Proportion, was ein Indiz dafür ist, daß weder die Seele noch die Strafe abstrakt gedacht sind. Durchweg gilt, daß gerade dort, wo der irdische Leib abwesend ist, seine Vermögen ins Unendliche gesteigert und gegen ihn selbst gewendet werden. Die Seele im Mittelalter ist keine raumlose Instanz des Ich, sondern im Gegenteil: sie ist der intakte Leibraum, von dem nur das Fleisch abgeschält ist. Wir heute anerkennen die Erscheinung des Phantomschmerzes bei Amputierten. Dieses Phänomen absolut gesteigert – das ist die mittelalterliche Seele in der Hölle: der Ganz-Leib als Phantom, in allen Sinnen präsent, aller Empfindungen fähig, ja, übersensibel und ohne die Ausflucht zu anästhesierenden Schutzmechanismen, deren lebende Körper fähig sind. Es gilt von den frühesten Höllenvisionen an – bereits für das jüdisch-äthiopische Henoch-Buch (Mitte des 2.Jhs.v.Chr), erst recht seit der christlichen Apokalypse des Petrus (ca. 135 n.Chr) oder der sog. Paulus-Apokalypse (Mitte des 3.Jhs.) –, daß die Seele der Toten nichts anderes ist als ultimativ gesteigerte Leiblichkeit.
Im Fortgang kommentiere ich kontinuierlich die Passage über jenen Ort, wo die Kleriker, Mönche und Nonnen bestraft werden, die Gott anlügen, indem sie Keuschheit geloben und doch unkeusch leben. Die dabei zutagetretende Radikalität teilt der Text mit dutzenden anderer Höllenberichte, die trotz ihrer topischen und rhetorischen Festgelegtheit als Spuren phantasmatischer Erfahrungen von Angst ernst genommen werden müssen:
"Als der Engel also voranschritt, sahen sie eine Bestie, die ... zwei Füße und zwei Flügel hatte, auch einen sehr langen Hals und eisernen Schnabel. Sie hatte auch eiserne Krallen, und durch ihr Maul ergoß sich eine unauslöschliche Flamme. Diese Bestie saß über einem Sumpf aus gefrorenem Eis. Die Bestie verschlang aber alle Seelen... und nachdem sie in ihrem Bauch durch Martern zu nichts (ad nihilum) gemacht worden waren, gebar sie sie in dem Sumpf aus gefrorenen Eis, und dort wurden sie zur Qual erneuert (renovabantur)."
Synthetische Misch-Monster sind in Höllenvisionen die Regel. Sie stehen zu Satan im selben Verhältnis wie die Engel zur Trinität: sie sind Attribut- oder Assistenz-Figuren. Die hier zugrundeliegende Vorstellung ist die einer aggressiv oralen Einverleibung, die im Verdauungsapparat eine Annihilation zur Folge hat, aus der wiederum über den Darmausgang eine die christliche Resurrektion obszön pervertierende Wiedergeburt hervorgeht. Diese ermöglicht, daß die Qual ad infinitum verlängert werden kann. Die unendliche Zeitdehnung ist für die Strafform der Hölle charakteristisch: doch sie ist an Bedingungen geknüpft, welche erlauben, daß Straf-Arten, die am irdischen Leib dessen schnellen Tod (und damit ihr Ende) herbeiführten, über alles Denkbare hinaus verlängert werden können: die Flamme, in der man brennt, verbrennt nicht; das Eis, in das man stürzt, läßt erstarren: doch es gibt keinen Erfrierungstod; die Zerfleischung durch Geräte vollzieht sich bei ewig wachem Schmerzbewußtsein; man wird gefressen, aber das Gefressenwerden endet nicht; man erstickt an giftigen Dämpfen, doch das Erstickende erstickt nicht. Das ist eine der größten medialen Erfindungen des Mittelalters: einen Ort zu denken, an welchem das leibliche Empfinden für die Ewigkeit gerettet wird, damit der Schmerz unendlich währt. Diese Vorstellung kann nur im Medium der Sprache gebildet werden – einer Sprache allerdings, die vor allem deren sinnliche Evokationskraft mobilisiert und dadurch das Imaginäre und die Memoria aufs höchste erregt.
"Es wurden aber alle Seelen, die in den Sumpf herabstürzten, schwanger, sowohl die Männer als auch die Frauen, und so erwarteten sie schwanger die Zeit, daß sie zur Geburt kommen sollten."
Hier zeigt sich, daß die Strafe in genau der Matrix erfolgt, in der die Sünde begangen wurde: nämlich der Sexualität. Die Befruchtung von Männern wie Frauen geschah offenbar im Inneren der Vogel-Bestie selbst. Der aggressiven Einverleibung im Feuermaul entspricht die aggressive Geburtsausstoßung in die Kälte. Überhaupt sind Feuer und Eis, wie in vielen Visions-Texten, die einzigen höllischen Temperaturaggegate; sie sind die absoluten Flanken der schmalen Zwischenzone des Wohltemperierten, in welcher Leben überhaupt möglich ist. Die vier Elemente und ihre Qualitäten werden in den Höllenvisionen durchweg als Todfeinde des Menschen eingesetzt.
"Innen aber wurden sie (= die Schwangeren) in den Eingeweiden nach Schlangenart von der empfangenden Nachkommenschaft gebissen, und so vegetierten sie armselig in der stinkenden Woge des durch das feste Eis toten Meeres dahin. Und als es Zeit war, daß sie gebären sollten, erfüllten sie schreiend die Hölle mit Geheul und gebaren auf diese Weise Schlangen."
Die Leibesfrucht zeigt, eingeschlossen im Inneren der Verdammten, dieselbe orale Aggressivität wie die Vogel-Bestie. Dies ist eine psychotische Phantasie von Schwangerschaft: dasjenige, was im Leib heranwächst, ist ein fremdartiges Monstrum, das einen von innen her auszehrt und zerstört. Der Fötus ist selbst jenes Untier, das die Vertreibung aus dem Paradies initiierte, die Schlange, die den Fluch der Sexualität über den Menschen brachte. In jeder Schwangerschaft setzt sich dieser Fluch fort. Alle erleben die Geburt in den Schmerzen, die Gott bereits der Urmutter Eva ankündigte. Im Geburtsschmerz straft sich die Lust. Dieses mythische Gesetz, auf beide Geschlechter ausgedehnt, wird hier zur höllischen Strafe. Die Geburt erfolgt ins Eisige hinein. Auch dies ist ein archaischer Reflex und zugleich eine anthropologische Generalisierung, wonach Geborenwerden heißt, nie mehr in einer Wärme-Homöostase zur Umwelt leben zu können.
"Es gebaren, sage ich, nicht nur die Frauen, sondern auch die Männer, nicht nur durch diese Glieder, die die Natur als für diesen Vorgang passend angelegt hat, sondern auch zugleich durch die Arme und durch die Brust; und sie kamen, durch alle Glieder hervorbrechend ins Freie."
Die Geburt wird phantasiert als ganzleibliches Zerrissenwerden, als ein grausiges Hervorbrechen eines Alien aus dem eigenen Körperinneren. Dies ist die Kontrafaktur zu den euphemistischen Bildern, in denen die Geburt als ein Akt tiefer Innigkeit und liebevollen Leben-Schenkens phantasiert wird (Maria und das Kind).
"Es hatten aber diese Bestien, die geboren wurden, glühende Eisenköpfe und schärfste Schnäbel, mit denen sie die Leiber, wo sie herauskamen, zerfetzten. An ihren Schwänzen hatten aber dieselben Bestien viele Stacheln, die, wie Haken zurückgebogen, diese Seelen, aus denen sie herauskamen, zerstachen. Die Bestien aber, die hinauswollten, hörten nicht auf, da sie ihre Schwänze nicht mit sich ziehen konnten, ihre glühenden Eisenschnäbel auf die Leiber (sic!), aus denen sie herauskamen, zurückzuwenden, bis sie sie, bis auf Mark und Bein ausgedörrt, auffraßen."
Die Geburt wird als sparagmos phantasiert, als archaisches Zerreißungsopfer. Die Geburt aber kann sich nicht vollenden, weil es zu keiner Trennung von Gebärenden und Geborenen kommen kann: das ist der Alptraum einer negativen Symbiose. Sie führt zu einer Rückkoppelung der geborenen Monster mit den Körpern der Gebärenden in eben der Logik, die von der Vogel-Bestie vorgegeben ist: vernichtende orale Aggression. Nicht Saturn frißt seine Kinder, sondern die Monster-Kinder fressen ihre Eltern.
"Und so brüllte alles zusammen: das Knirschen des überschwemmenden Eises und das Heulen der leidenden Seelen und das Stöhnen der herauskommenden Bestien stieg zum Himmel (sic!) ... Selbst auch die Schamteile von Männern und Frauen waren ähnlich wie Schlangen, die die unteren Teile des Bauches und die Eingeweide dort herauszuziehen suchten."
Die Sexualorgane selbst sind Schlangen, welche Schlangen zeugen und gebären, welche jene auffressen... und so fort. Das uralte Kosmos-Zeichen des Ouroboros, der verschlingend in sich selbst zurückkehrt und dadurch vollendet, erscheint hier in perverser Entstellung. Im Körper selbst, so lautet die Botschaft, wütet die Sexualität als ein auf sich selbst zurückgebogener Trieb ohne Ende, indem er die Züge grausamer Oralität annimmt. Sexualität ist wahrlich ein Alien und eine höllische Brut. – Neben all den Singnifikanten des Leibes in diesem Land der toten Seelen ist als weitere mediale Spur ferner das Akustische festzuhalten: die Kakophonie gehört zur Hölle schlechthin, sie ist sehr oft sogar eines ihrer Folterwerkzeuge.
Tundal muß nun diese, wie alle andere Qualen, durchleiden an seinem virtuellen Leib, bis ihn sein Engel befreit. Achthundert Jahre vor Antonin Artaud wohnen wir einem unübertrefflichen "Theater der Grausamkeit" bei, das nur als Schrift-Raum möglich und erträglich ist. Und 650 Jahre vor dem von den Surrealisten als göttlich apostrophierten Marquis de Sade wurde im mittelalterlichen Höllen-Spektakel der dunkle Zusammenhang von mythischer Wiederholungsritualität, sexuellen Obsessionen und zeremonieller Performanz entworfen.
Die Musik des Himmels
Am Ende der Höllenreise erreichen beide, wie Vergil und Dante zwei Jahrhunderte später, das himmlische Paradies. Dort sieht Tundal die Scharen der Gottseligen. Dominant sind hier der Sinn des Auges und der des Ohres. Dem Auge wird der Glanz der kostbaren Stoffe ansichtig, der Glanz des Firmaments, der liebliche Schein der himmlischen Ornamente. Die Augen der Seligen selbst schauen zudem noch die "Gegenwart der Heiligen Dreifaltigkeit" .
Letzteres wird Tundal verweigert, weil er sonst "alles Vergangenen uneingedenk" würde. Er wäre somit einer jener Ekstatiker, die aus dem Jenseits so erinnerungslos zurückkehren, wie der Himmel selbst ohne Gedächtnis ist; denn er ist reine Gegenwart. Wer diese geschaut hätte, käme ohne Bericht zurück, weil der Glanz Gottes alle Erinnerung löscht. Hier aber ist es anders: Tundal wird beauftragt, alles "ad utilitatem proximorum memoriter retinere" (alles zum Nutzen der Nächsten in Erinnerung zu behalten). Der Jenseitsreisende muß gedächtnisfähig bleiben. Deswegen wird ihm die Folter nur unter schützender Anleitung zugefügt und im Himmel der Strahlglanz der Trinität vorenthalten. Beides steht im Dienst der Memoria. Erinnerung wird in den virtuellen Gefühlsraum des Körpers durch Schmerzen eingebrannt – so daß die Hölle erinnerbar bleibt. Doch wie soll der Himmel erinnerbar sein? Auch dieser wird zum Raum stilisiert und mit sinnlichen Perzeptionen angefüllt, weil der alten Lehre gemäß Memoria nur arbeiten kann, wennn sie über topoi, d.h. konkrete Anschauungsorte verfügt. Nur dadurch wird Tundal erzählfähig – und nur so kann aus dem Reisenden ein Erzähler werden, wie es schon für Odysseus gilt, ja, für Epen überhaupt.
Vom Himmel aber gibt es nicht viel zu erzählen. Es gilt nur das Bild einer Versammlung hervorzurufen, die im ewigen Anschauen des lichtvollen Gottes versunken ist: ein früher tableau vivant, der nur einen Gefühlstonus enthält: das Glück im Blick. Und zum zweiten etwas, was ebenfalls nicht erzählbar ist – das ist die Musik. Die Musik ist – ganz pythagoräisch – die Harmonie an sich, hervorgebracht von Mündern, die nicht singen, und von Instrumenten, die von selbst klingen. Es ist absolute Musik, die sich von der vox humana (vom Leib also) ebenso gelöst hat wie vom Instrument. Musik als reiner Wohl-Klang – Euphonie, die der Kakophonie der Hölle kontrapunktiert ist. Wie sollte man dies erzählen können? Doch man kann es hören, z.B. jenes wunderbare Instrument in der Visio Tnugdali, bei dem vom Firmament goldene Fäden herunterhängen, mit Silberdrähten verbunden, an denen Klangschalen, Becher, Cymbeln und Glöckchen hängen: diese werden von den Flügeln der Engel gestreift und geben ein endloses Konzert himmlischen Wohlklangs.
Damit wird neben dem Wort und der Visualität ein drittes Medium, die Musik, bedeutend. Reinhold Hammerstein hat gezeigt, daß die himmlische Musik zwar auch von der antiken Idee der kosmischen Sphärenharmonie (musica mundana), vor allem aber von Formen der Liturgie inspiriert wurde. Die Himmelschöre intonieren entweder una voce oder alter ad alteram, in jedem Fall sine fine zentrale musikalische Elemente des choreographischen Ablaufs der Messe: so z.B. das Sanctus, das Gloria, das Kyrie, das Alleluja, den Psalm, den Hymnus. Diese Musik wurde von Ekstatikern als auditio spiritualis gehört; oder man kann sagen: sie wurden in einen medialen Klangraum versetzt. Dem entspricht, daß die Abläufe des Himmels – ob als politische Thronsaalzeremonie oder als liturgische missa coelestis phantasiert– immer rituellen Mustern folgen, die gerade durch die musikalischen Endlosformen den Charakter einer infiniten Devotion erhalten. Zwar wird die irdische Messe als Nachahmung der himmlischen Liturgie interpretiert, in Wahrheit aber ist es umgekehrt: der Himmel ist eine endlose Liturgie musikalischer Jubilatio und choreographierter Bewegungen, wie sie im Lauf des Mittelalters in den Gottesdienst eingeführt werden. Man darf nicht vergessen, daß das mittelalterliche Theater direkt aus der Liturgie herauswächst und daß gegenüber der weltlichen Musik, die unter dem Verdacht teuflischer Sinnenverzauberung stand, die sakrale Musik die einzig erlaubte Form des akustischen Genusses darstellte. Sie stellt einen Vorgeschmack der himmlischen Süßigkeit dar, die als Eintauchung in harmonische Klangräume gedacht wird. Hier ist den Seligen und Engeln sogar erlaubt, in gemessenen Reigen liebliche Bewegungsfiguren zu bilden, die zusammen mit der Musik eine Art himmlisches Ballett bilden. Das ist Seligkeit. Demgegenüber ist die Kakophonie der Hölle eine gezielte Subversion der Liturgie, ihres zeremoniellen Ablaufs, ihrer Musik, ihres Vorgeschmacks auf den himmlischen Tanz – und doch deren Mimesis. Denn der Teufel ist simia dei, ein Affe Gottes, der in seinem Raum, der Hölle, die himmlischen Formen in genauer Umkehrung, als Perversion also, choreographiert: auch darum ist die Hölle ein Raum der Zeremonie. So konnte es nicht ausbleiben, daß in späterer Zeit zur Messe ihr Gegenteil, die Schwarze Messe, erfunden werden mußte. Die Klangwelt der Hölle ist wüster, schmerzender, chaotischer Pop und Punk – jedenfalls für die an Himmelsklänge gewöhnten Ohren frommer Gesinnung. Man kann die metaphysische Einteilung in Himmels- und Höllenmusik mediengeschichtlich gar nicht überschätzen – sie reicht bis in unsere scheinbar profane Klassifizierung in E- und U-Musik oder bildet z.B. auch den geheimen Hintergrund der Verbindung von Teufelsbundroman und Musiktraktat in Thomas Manns Doktor Faustus.
Es kann nicht überraschen, daß in diesen Klangtypen von Himmel und Hölle auch politische Implikationen stecken. Dies wird an der Schilderung der himmlischen Populationen sichtbar. Sie werden gebildet von den Körperschemen jener Menschen, "qui magis subesse gaudent, quam preesse" (die sich viel mehr daran erfreuen, untergeordnet als übergeordnet zu sein). Die Seligen bilden also ein Heer, worin ein jeder seinen "Eigenwillen" (voluntas propria) aufgegeben hat und "fremdem Willen" (alieno voluntati) gehorcht. Die Seligen sind die depersonalisierten Elemente des Gotteswillens. Als solche treten sie in eine himmlische Sinnlichkeit ein, ein Schmecken von Himmlischem, ein Riechen des "lieblichen Duftes" über dem Lager der Seligen, ein Sehen der Trinität und ein Hören der absoluten Musik. Nur der Tastsinn ist dispensiert. In dieser "Gemeinschaft der Heiligen", welche keusch geblieben sind, wo jeder wie alle und alle wie einer ist, bedarf es nicht mehr der elementaren Versicherung des Anderen, wie es der Tastsinn primär erschließt – weil kein Anderes mehr ist.
Die Depersonalisation, die strikte Ausrichtung und der Gehorsam jedoch zeigen an, daß die Unterwerfung unter die Macht die Bedingung ist der Befreiung von Angst und Schmerz. Dies ist die einfache Lehre, die bis heute gilt. Das nunc stans der himmlischen Seligkeit ist stillgestellte Angst (anders ist es im griechischen Elysium oder im Nirwana). Die Vor-Lust, die die christlichen Himmelsbilder erzeugen, ist nichts als das Versprechen, daß Gehorsam und Aufgabe des Eigensinns sich lohnen, weil dies der Weg des Vergessens von Angst ist. Die Hölle ist die Ewigkeit des in den Leib hineingefolterten Gedächtnisses: nicht vergessen zu dürfen, das ist die Hölle. Der Himmel dagegen ist genau dieses ichlose Vergessen, reine Erinnerungslosigkeit, auf derem Altar der Leib dem Gehorsam geopfert wird. Dieser Gehorsam aber macht erst die Erde zur Hölle.
Jan van Eyck: Weltgericht als Denkbild
Die "Visio Tnugdali" ist ein Beispiel dafür, was es im Mittelalter heißt, in Bildern als imagines agentes zu denken. Zum Abschluß hingegen soll gezeigt werden, daß umgekehrt die ikonischen zeichen von Bildern eine eigentümliche Denkkraft entfalten können. Das Beispiel ist hier die eine Hälfte des New Yorker Diptychons von Jan van Eyck (Abb. 1). Die kleinformatigen Tafeln, die als private Andachtsbilder gefertigt wurden, haben von Johann David Passavant bis zu Hans Belting eine intensive kunsthistorische Würdigung erfahren. Die Entstehung ist nicht zweifelsfrei festgestellt, sie ist um 1415 oder um 1425 anzusetzen. Das tut hier nichts zur Sache. Das Gegenbild ist eine Kreuzigungsszene (Abb. 2).
Auch um die ikonologischen Verflechtung beider Gemälde ist es hier nicht zu tun. In Hinblick auf das Verhältnis textueller versus ikonischer Konstruktion von imaginären Räumen ist es jedoch bemerkenswert, daß Hans Belting und Dagmar Eichberger 1983 wie auch Belting und Christiane Kruse 1994 durch eingehende Analyse bestätigen, was seit Passavant eine Überzeugung der Kunstgeschichte ist: daß nämlich beide Tafeln eine epochale Wende markieren, gewissermaßen die Avantgarde darstellen zu dem, was Belting "Die Erfindung des Gemäldes" in der niederländischen Malerei nennt. Wir dürfen also davon ausgehen, daß hier mit äußersten malerischem Vermögen eine rhetorisch wie ikonologisch kanonisierte Szenerie ins Werk gesetzt wird, anders gesagt: daß wir hier die Malerei auf der Höhe ihrer Visualisierungspotenz sehen. Dies ist für den intermedialen Vergleich wichtig.
Am Anfang der Bildanalyse mag stehen, daß Jan van Eyck in der dreigeschossigen Staffelung der Szenerie deutlich abweicht von der kanonisierten querformatigen Gliederung des Weltgerichts, wie wir sie auf dem Gemälde von Fra Angelico (ca. 1435; Abb.3) finden: immer zur Rechten des Christus als Weltenrichter sind die Scharen der Erlösten plaziert, während nach links hin die Verdammten von Teufeln mit Gewalt durch das Höllentor getrieben werden, hinter dem je nach dem Sündentyp die Verurteilten in getrennten Strafkammern bereits verteilt sind. Auffällig ist auch hier die Dominanz aggressiver Oralität: sowohl bei Satan, der Verurteilte verschlingt, wie z.B. auch bei den Geizigen, die sich sich selbst abnagen. Zwischen beide Sphären setzt Angelico eine Bilderfindung, nämlich die bis an den Horizont reichende Doppelreihe von geöffneten Gräbern, aus denen die Toten auferstanden und dem von posaunierenden Engeln angekündigten Gericht zugeführt worden sind, dessen Ergebnis gerade verkündet worden sein muß.
Die eine Gruppe der Seligen bildet im neuen Paradiesgarten einen himmlischen Reigen, zusammen mit Engeln, die die Neuankömmlinge dem Tanze zuführen (Musik ist dabei zu denken) oder nach hinten hin zum himmlischen Jerusalem begleiten, aus dessen Tor ein göttliches Strahlenbündel fällt. Die andere Gruppe der gerade auferstandenen, noch in ihre irdischen Gewänder gekleideten und mithin sozial kategorisierbaren Erlösten sind in Dankesgebeten nach oben gerichtet, wo der triumphierende Christus im Strahlenglanz und in einer Mandorla anbetender Engelchöre trohnt, zur Seite die Fürbitterin Maria im Sternenmantel und den Fürbitter Johannes sowie flankiert von Heiligen und Aposteln in Doppelsitzreihen.
Dieser Bildtypus findet sich mit Varianten international, er ist bestens in der Bibel und mittelalterlichen Theologomena abgesichert. 'Bilder-Denken' heißt hier, daß zu beinahe jedem Detail logoi nachzuweisen sind, welche die Bilder wahrhaft lesbar machen. Kein Bildelement, das nicht vorformuliert ist. Zeitgleich zu Angelico findet man ein solches Denkbild z.B. auch in der Mitteltafel des Weltgerichtsaltars von Stefan Lochner (ca. 1435; Abb. 4) oder ein Jahrhundert früher als Fresko Giottos in der Capella di Scrovegni in Padua (ca. 1303-14, Abb. 5). Auch hier ist die Symmetrie und Ordnung in der himmlischen Sphäre, die orale Matrix in der höllischen Sphäre zu beobachten.
Bei Jan van Eyck dagegen finden wir eine strikt vertikale Kompositionsanordnung, die freilich auch nicht vorbildlos ist, wie man auf einem anonymen, sicher nach Dantes Inferno entstandenen Weltgerichts-Gemälde im Bologna der ersten Hälfte des 14. Jhs. sehen kann (Abb. 6). Van Eyck läßt den Weltenrichter, als typisches Ikonen-Porträt, im oberen Himmel schweben. Das Haupt ist umgeben vom Strahlennimbus, während die Wundmale an den Hingerichteten eben jetzt, bei Vollzug des Weltgerichts, erinnern. Dies tut auch das hinter ihm von Engeln getragene Kreuz mit der in hebräisch, griechisch und lateinisch gefaßten Spottbezeichnung: INRI. Engel tragen die Marterwerkzeuge heran. Passion, Kreuzestod und Weltgericht bilden einen theo-logischen Zusammenhang, der hier auch ikono-logisch umgesetzt ist. Posaunierende Engel erfüllen die stumm wirkende Zeremonie des Gerichts mit jener Musik, die das Ende der Welt ankündigt. Der Zusammenhang zwischen Kreuzigung und Weltgericht stellt den theologischen Rahmen des Eyckschen Diptychon dar.
Rechts und links unterhalb vom Weltenrichter, doch in gleicher Größe wie dieser, beten die Fürbitter Johannes und Maria für diejenigen Seelen, die sich unter ihren Mantel geborgen haben. Religionen sind auch "Vor- und Fürsorgesysteme" der Angst der Lebenden hinsichtlich ihres postmortalen Schicksals. Dieser Gedanke ist hier in Szene gesetzt, insofern Maria als Schutzmantelmadonna anwaltliche Funktionen bei Gericht übernimmt. Sie appelliert an die misericordia des Richters, deren Quelle seine eigene Biographie auf Erden ist: Maria weist diskret auf ihre Brust, die Jesus ernährte – auf anderen Gemälden weist sie ihm den nackten Busen vor –, um in der Erinnerung an die Milch, die sie ihm gab, die Gabe des Mitleids und der Gnade zu präfigurieren, die Christus als Heiland den unter ihren Mantel geflüchteten Seelen spenden möge. Und ähnlich erinnert das unter dem Überwurf getragene Fellkleid des Wüstenheiligen Johannes an das Sakrament der Taufe, das er, der Antecessor, dem Mann aus Bethlehem spendete, auf daß dieser sich nun der auf seinen Namen getauften Seelen erinnere.
Bedeutungsperspektivisch verkleinert werden unterhalb des Weltenrichters, im Sinne einer Thronsaalzeremonie, die übrigen Gruppen der Erlösten plaziert: in weißen Gewändern, als einzige auf Chorgestühl sitzend, die zwölf Apostel, zwischen denen, unmittelbar zu Füßen Christi, der Chor der Jungfrauen einzieht, während zwei Engel, in der Funktion von Zeremonienmeistern, von rechts und links die Schar der Kleriker bzw. der Profanen heranführen: beide Gruppen sind durch Kopfzier und Gewänder in ihrer Standeszugehörigkeit bzw. ihren Rängen identifizierbar. Van Eyck verzichtet darauf, der Gesamtszene irgendeine Basis zu geben, durch Wolken etwa oder entsprechend den Angaben der Thronsaalzeremonie in der Johannes-Apokalypse. Es ist eine im Schwerelosen schwebende Szene, die gleichwohl streng räumlich choreographiert ist. Gerade dadurch wird die Virtualität des Himmelsraumes betont: dies ist ein Denk-Zeichen des Bildes selbst.
Unterhalb der Himmelsszene öffnet sich horizontweit der irdische Raum von Land und Meer – durchaus ein holländischer Küstenstrich. Es ist der Augenblick von finis mundi. Schriftgemäß geben Erde und Meer ihre Toten her, die nackt und mit flehentlichen oder erschrockenen Gebärden ihren Gräbern entsteigen. Feuerstürme vernichten alles, was der Zivilisation angehört. Auf der Mittelvertikale steht der gewappnete Michael, sanftgesichtig, doch mit allen Attributen der Exekutive reichgeschmückt, mit geöffneten Engelsschwingen aus Pfauenfedern, ein panoptischer und gerechter Exekutor des Weltenrichters.
Am Standort Michaels nun zeigt sich eine kühne Bilderfindung Eycks. Es ist nicht auszumachen, ob Michael noch auf dem Strandsaum zwischen Land und Meer steht oder schon auf den weit gespreiteten Schwingen des Todes, der von unten her, wie einen zweiten Horizont, die Erde auffaltet und den Blick freigibt für die dritte Raumsphäre, die Hölle. Mir ist keine Todes-Darstellung bekannt, wo der Tod parallel zu seinen Schwingen, die ihrerseits die Engelsflügel assoziieren, Arme und Beine spagathaft öffnet, als wolle er sich dem Andrang der sich durch ihn hindurchpressenden Leiber sperrangelweit öffnen. Belting/Eichberger (1983) sprechen von einer "pervertierten Gebärmetapher" bzw. "Gebärpose", was unmittelbar an die Köperphantasmen der "Visio Tnugdali" erinnert. Tatsächlich ist dieser Tod eine einzige Perversion: sein Grinsen pervertiert das einzige Lächeln, das im Bild zu sehen ist: auf dem Antlitz des Engels, der die Schar der erlösten Profanen begrüßt. Die Hohläugigkeit des Todes, die gleichwohl auf uns als Betrachter gerichtet ist, pervertiert den einzigen Blick, der sonst noch aus dem Bild auf den Betrachter zielt: der Blick der Christus-Ikone. Tod und Christus sind als einzige en face gestaltet. Das Blinde des Blicks pervertiert aber auch die panoptische Vieläugigkeit des gerechten Engels Michael.
In der Vertikale der bewaffnete Michael, in der Horizontale die Schwingen des Todes sperren die höllische Unterwelt aufs strikteste ab. Im Visuellen vollziehen sie die Finalität von Entscheidungen, die zu den Verteilungen der Populationen nach oben und unten führen.
Aufwärts und Abwärts sind bei Eyck die entscheidenden Bewegungsrichtungen des Bildes. In der oberen Bildhälfte sind es die strebenden Blicke und Gebärden, sämtlich zentriert auf den Weltenrichter. Nach unten hin sind es die Sturzgeburten der Leiber, die im wüsten Geschlinge der Monster aufgefangen werden. Herabstoßen aber auch die Wortpfeile, die von Michael ausgehend über die Todesschwingen hinweg performieren, was sie aussprechen: die damnatio, welche die Leiber nur wiedergeboren sein läßt, um sie zum ewigen "zweiten Tod" der höllischen Strafen (Apok.20.13) zu verurteilen: "Geht ihr weg, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer". Van Eyck nimmt einen Verurteilungssatz des apokalyptischen Christus auf und visualisiert ihn gemäß einer alttestamentlichen Metapher, welche nach Deuteronomium 32,23-24 die Strafen Gottes als "Pfeile" faßt, die auf die Gottlosen abgeschossen werden. Eyck nimmt diese Metapher wörtlich, um wiederum einen Satz der Apokalypse als Wortpfeile ins Bild zu bringen. Daß dies genau gedacht ist, wird von Belting/Eichberger dadurch erwiesen, daß der Höllenbereich auf dem Rahmen des Gemäldes von eben jenen Versen aus Deuteronomium (32,23-24) umlaufen wird. Die Schrift im Bild wird durch eine Metapher in der Heiligen Schrift verwandelt zu einer imago agens, die vollzieht, was sie sagt. Der Maler ist ein Performer der Schrift.
Doch nicht nur das. Der Höllenbereich (Abb. 7) nimmt zwar einige biblische Elemente der Bestrafung auf, doch verselbständigt sich die Szene gegen Schriftmotive oder theologische Beschreibungen der Hölle als geregeltem Strafort mit kammerartigen Unterteilungen. Van Eyck läßt eine Reihe von Verurteilten noch durch Kopfbedeckungen erkennbar sein, so daß über das "Mors omnia aequat" hinaus vor allem die Absturzmetapher verdeutlicht wird: wer auf Erden hoch stand und im falschen Glanz prangte, fällt umso tiefer. Man erkennt gekrönte Häupter, Bischöfe, Kardinäle, Kleriker, Mönche. Die Sturz-Metaphorik performiert visuell ein bedeutsames Theologomenon: nämlich die typologische Präformation des Gott nahestehenden Luzifer, der aufgrund seiner Selbstüberhebung seinen Absturz herbeiführte: dadurch erst konstituierte sich jenes Dunkelreich der Hölle, in welchem Luzifer nun als Höllenfürst sein Regiment führt. Rebellion, Verurteilung, Absturz Luzifers sind das Schema jedes der hier fallenden Leiber. Der Luzifer-Sturz ist gedanklich-reflexiv im Bild, ohne dargestellt zu sein: nämlich in der dramatischen Aufwärts/Abwärts-Bewegung der Komposition. Es ist, was mehrere Kunsthistoriker nahelegten, wahrscheinlich, daß van Eyck das Stundenbuch Très Riches Heures (ca. 1416, Abb. 8)) der Brüder Limburg kenngelernt hat, als er in Diensten des Duc de Berry stand. Und denkbar ist, daß von daher die vertikale Ausrichtung der Komposition Anregung erfuhr.
Entscheidend aber ist, daß die symmetrische, lichtvolle Thronsaalchoreographie hier eine radikale Umkehrung erfährt. Es geht nicht um Straf-Zeremonien, sondern um eine entfesselte Orgie im düsteren Schein der Nacht. Die Hölle ist der Ort des Chaos, biblisch des Tohuwabohu (Gen 1,2), wüster Vermischung also. Die satanischen Wesen zeigen selbst schon diese Vermischung an: synkretistische Monster aus Formelementen von Fischen, Rochen, Schlangen, Echsen, Raubkatzen etc. Es herrscht eine ungeheure Gier, und zwar in nur einer einzigen Matrix: der oralen Aggression, die aus den blitzenden Augen und dem Fletschgrinsen der Monster ebenso spricht wie aus den vielfachen Verschlingungen der Leiber, ihrem Zerreißen und Zerfetzen durch die Zähne. Der Tod ist gefräßig, wie die Korrespondenz zwischen dem Fletschgrinsen der Monster und dem Gerippe zeigt. Doch wäre das zu wenig. Aus der "Visio Tnugdali" wissen wir, daß Fressen, Verdauen, Ausstoßen, Ausscheiden, Gebären ein einziges dynamisches Curriculum bilden können. Und darum handelt es sich auch hier. Als "pervertierte Gebärmetapher" ist der Tod hier nicht nur eine Kontrafaktur der himmlischen Wiedergeburt in der oberen Bildhälfte, sondern sein Gebären ist zugleich ein Ausscheiden, die Eröffnung einer kloakenhaften Welt, die nur und allein dem Gesetz zerfetzender oraler Einverleibung gehorcht. Wir erinnern aus anderen Gemälden, daß Satan öfters anstelle seines Geschlechtsorgans eine zweites Gesicht mit geöffnetem, zähnebesetztem Maul trägt, aus dem heraus Körperfragmente gestoßen oder einverleibt werden: dies ist ununterscheidbar. Ähnliches finden wir auch hier. Entscheidend ist, daß Fressen, Verdauen, Gebären, Ausscheiden entdifferenziert werden, indem alle Vorgänge des primären Stoffwechsels auf eine einzige Logik reduziert werden: die orale Wut. Wir befinden uns auf der archaischen Ebene primärer Zerstückelung: das ist die Hölle – oder: die Hölle ist das Phantasma, in welchem orale Einverleibung, Körperinneres, Geburt und Verdauung verschmelzen. Was in jeder einzelnen Konstellation zwischen Monster und Menschenkörper passiert, nämlich gierig aggressive Verschlingung, das stellt zugleich die Struktur, besser: die Anti-Struktur der gesamten unteren Bildhälfte dar. Wie das Fressen eine umgekehrte Geburt ist, so die Auscheidung ein perverses Gebären. Der gespreizte Tod umfaßt rahmend eine Welt, die den Blick freigibt auf ein wüstes Körperinneres voller Verschlingungen und Verzehrungen, Zerfetzungen und Verdauungen – die imaginäre Welt jenseits der Zähne, das endlose Curriculum der Oralität.
Damit komme ich zu meiner Pointe. Aus der Perspektive, die von der "Visio Tnugdali" auf das Gemälde fällt, ist nämlich eine weitere Deutung denkbar. Das Bild insgesamt stellt nicht nur die metaphysische Szene des Weltgerichts, sondern auch eine phantasmatische Anatomie dar. Das aufgeschnittene Erdinnere unter der Haut der Erdoberfläche entbirgt das Phantasma eines angstpsychotisch besetzten Körperinneren, das zwei basale körperliche Vollzüge, nämlich die Nutrition und die Sexualität, ins Zeichen einer im Leibesinneren mit tödlicher Wut tobenden Verschlingungsgier setzt. Diese psychotische Welt ist nach unten und ins dunkle Innere verbannt. Man versteht die obere Welt, in der alle den Mund geschlossen halten, nun anders: sie muß durch bewaffnete und zugleich magische Abwehr abgeschirmt werden, durch Michael, dessen Nabel genau den Schnittpunkt zwischen Vertikale und Horizontlinie bildet. Michael übernimmt, stehend auf den Flügelhäuten des Todes, die Funktion der Trennung, nämlich des Zwerchfells, das in der älteren Anatomie über die qualitative Trennung zwischen den edlen oberen Partien und den unedlen unteren wacht. Erst diese hermetische Abschließung des Unteren erlaubt die Spiritualisierung des Oberen als Sphäre des Geordneten, Symmetrischen, Harmonischen, man kann auch sagen: eines höheren Ich-Ideals, das durch Leiden gegangen, nun aber den Status zeitenthobener Unberührbarkeit erlangt hat. Jesus ist der Kopf und die versammelten Scharen sein spiritueller Leib, die sich qualitativ abgesetzt haben von jener Sphäre, in der als Tohuwabohu die verschlingende und gebärende Körperlichkeit wütet. Das irdische Leben, das auf Land wie Meer ausgesetzt ist der Endlichkeit und den Elementen, weckt die Angst davor, daß unter seiner Oberfläche alles beherrscht wird von tödlicher Gewalt und endloser Wut; und es weckt zugleich die Sehnsucht nach einer harmonischen Ordnung im Namen des Vaters, des Sohnes und jenes Geistes, der jede Bindung an Körper abgestreift hat. Diese Komposition des Bildes aber hat nicht nur metaphysische und leibmetaphorische Konsequenzen, sondern ebenso soziale und politische. Denn es ließe sich zeigen, daß in den himmlischen Versammlungen um die Ikone des Weltenrichters sich politisch der "Leviathan" des Thomas Hobbes vorbereitet, während unten das Chaos des bellum ommnia contra omnes wütet. Und es ließe sich ebenso zeigen, daß in diesem Bildtyp ein enormer moralischer und sozialer Konformitätsdruck herrscht, wodurch, bei Strafe des Todes, ein jeder zum Element eines homogenen Kollektivkörpers zu werden hat.
Jan van Eyck hat ein Gemälde geschaffen, dessen Bildzeichen in engster Verwebung zu vorgängigen Texten steht und insofern ein wahrhaft intermediales Denkbild darstellen. Doch zugleich hat er eine Performanz dieser visuellen und skripturalen Zeichen erzeugt, die das Bild zu einer imago agens machen, wodurch jedes Denken und Wahrnehmen, jedes Lesen und Sehen zu einem performativ gesteuerten Er-Innern, einem Sich-Innerlich-Machen wird. Bilder denken und Bilder werden gedacht: aber sie gehen darin nicht auf.
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