In: Zimmermann, Jörg (Hg.): Ästhetik und Naturerfahrung. Stuttgart - Bad Cannstatt 1996, S. 13-26.
Hartmut Böhme
OBJEKTIVE GEFÜHLE
Wenn Walter Benjamin von der "Traurigkeit der Natur" spricht, so könnte dies einer heute als überwunden erklärten Metaphysik der "Natur als Subjekt" entsprechen. Man wird danach nicht sagen können, die Natur als ganze, oder der Berg, diese Landschaft oder jener Baum trauerten; freilich nicht so sicher dürfen wir hier beim Tier sein. Doch auf naturwissenschaft-liche Grenzziehungen zwischen Lebewesen, denen wir etwas Ähnliches wie Trauer zubilligen, und anderen Lebewesen oder Naturdingen, die nach unserer Auffassung keine Empfindungsfähig-keit haben, kommt es hier gar nicht an. Im Gegenteil führt eine solche Überlegung in die falsche Richtung und in jedem Fall an Benjamin vorbei. Was es hier zu verstehen gilt, ist vielmehr: Natur - oder ein Teil von ihr - kann in unsere Wahrnehmung fallen, so, daß sie dabei in uns, als selbst ihr zugehörige Lebewesen, inne wird in einer Trauer, die wir deutlich nicht als unsere, sondern als ihre spüren.
Das setzt voraus, daß wir unsere Empfindungsfähigkeit nicht allein als kulturelles Erzeugnis auffassen. Keineswegs ist richtig, daß Empfindungen immer nur spiegeln, was der Code des Kulturellen vorgibt; sondern das Empfindungsvermögen selbst und seine Form der Kultivierung ist als die Weise zu verstehen, in der wir uns - eben als Natur realisieren. Das hieße gewiß auch den Gegensatz von Natur und Kultur als strikten Widerspruch aufzugeben. Was nicht zwangsläufig zur Folge hat, der Natur unsere Form von Subjektivität, Reflexion und Empfindungsvermögen zuzuschreiben. Was Benjamin meint ist, vielmehr, daß es eine Art von objektiven Gefühlen gibt.
Dem können wir uns zunächst annähern, wenn wir uns klarmachen, daß in der Wahrnehmung von Trauer wir sehr wohl unterscheiden können, ob die Trauer, die wir empfinden, unsere ist oder die an uns selbst realisierte Trauer eines Gegenübers. Das ist der Unterschied zwischen der eigenen Trauer und der empathisch mitvollzogenen Trauer des anderen, die seine bleibt, auch wenn wir sie, mit ihm, gleichwohl bei uns empfinden. Diese schöne Möglichkeit eines Art Stoffwechsels der Gefühle beruht nun vor allem auf der prinzipiellen, wenn auch nicht immer aktuellen und oft auch gestörten und schwierigen Gemeinsamkeit von Ich und Anderem als empfindenden Lebewesen. Diese können wir ohne weiteres auf manche Tiere ausdehnen - aber auch, das ist die Frage, auf Pflanzen, Steine, Berge, Landschaft, Himmel und Meer? Wohl kaum und keinesfalls ohne weiteres.
Was freilich ohne Umstände vorgestellt werden kann, ist dagegen die Tatsache, daß wir unsere Trauer etwa in Landschaften proji-zieren. Das mag soweit gehen, daß wir unserer Stimmung erst wirklich gewahrwerden im Spiegel der Natur. Martin Seel nennt dies das korresponsive Verhältnis zur Natur. An der Natur erscheint uns, was unsere Stimmung in einer Situation oder unser Sinn ist in einer Lebenslage.
Es liegt darin aber bereits mehr und anderes als bloße Projek-tion. Keineswegs korrespondiert unsere Trauer jedes Naturding oder jede Landschaft, sondern es handelt sich um ein nicht-intendiertes Zusammentreffen dieser Stimmung mit dieser bestimm-ten Natur hier und jetzt. Kaum wird ein üppiges, glutendes, kraftvolles Sonnenblumenfeld meiner Trauer korrespondieren -, sondern entweder werde ich meine Trauer inne gerade dadurch, daß das Sonnenblumenfeld ein Kontrast zu meinen Gefühlen bildet, oder es wird eine andere, immer aber eine bestimmte Natur sein müssen, der die Fähigkeit (darf man das sagen?) zur Korrespon-denz mit meiner Trauer eignet: seien es Weiden an einem trägen Bach; die eigenartige, fast tödliche und müde Stille von Pans Stunde an einem glühend heißen Mittag im Süden oder die trüben, tiefhängenden Wolken über der Leere einer norddeutschen Novem-berlandschaft mit ein paar verlorenen Gehöften und geduckten Knicks.
An diesen Beispielen nun wird klar, daß die Mannigfaltigkeit von Natursituationen, die meiner Trauer korrespondieren können, nicht nur einer fast unbegrenzten Mannigfaltigkeit von Abstufun-gen der Trauer in uns entspricht. Aber eben: entspricht. Können wir, ohne dem Irrtum des Subjektzentrismus zu erliegen, jetzt noch davon sprechen, daß jene reiche Fülle, mit der die Natur unseren Gefühlen entgegenkommt, sich nur und allein der Kraft und Fülle unserer Projektionen verdankt?
Vielmehr ist es so: auch hier, wo es bislang nur um unsere Gefühle geht, heißt Korrespondenz, daß die Natur abweisend, differenzierend, übereinkommend - und dies in feinen Schattierun-gen - einen Beitrag zur Gewahrung des Besonderen unseres Gefühls leistet: und zwar durch die Gegenwart ihrer hier und jetzt ein-maligen Formation, Gestalt, Figur - durchs Ensemble der Dinge, die die Situation der Wahrnehmung unserer Trauer bilden.
Die Natur, so dürfen wir sagen, kommt der Artikulation unserer Gefühle mannigfach entgegen; nicht ist sie die Artikulation der Gefühle - sondern es scheint so zu sein, daß die Artikulation der Gefühle uns auch, wenn nicht besonders deswegen gelungen ist, weil die unbegrenzte Vielheit der Naturkorrespondenzen uns zur sukzessiven, also historischen Differenzierung und Ver-sprachlichung unserer Gefühle verholfen hat.
In dieser Weise kann man davon sprechen, daß auf dieser Erde, unterschieden nicht nur nach den Kulturen, sondern auch nach Dingformationen, Landstrichen, Klimata, ein unsichtbares Netz von Korrespondenzen zwischen Gefühlen und Natur entwickelt worden ist, worin eine ganz andere Einsicht in die "Natur unserer Gefühle" aufbewahrt ist, als die anthropozentrische Seelen-Psychologie sich träumen läßt. Wenn Meyer-Abich von der Kultur als menschlichem Beitrag zur Naturgeschichte spricht, so darf man hier wohl umgekehrt sagen, daß die Natur immer schon, kraft der Korrespondenzen, die ihr eignen, einen unschätzbaren Beitrag zur Kulturgeschichte, hier zur Differenzierung der Gefühle geleistet hat - ohne Subjekt zu sein, welches "beiträgt" oder "etwas leistet" -: eben durch nichts als die stummen Korrespon-denzen, die sie dem Menschen - nicht bietet, sondern ist.
Fragen wir danach, wie das möglich ist, so ist die Antwort einfach - man hat sie gleichsam nur vergessen. Der Mensch ist Lebewesen aus und in der Natur. Er hat sich nicht aus sich selbst. Der Mensch zeugt, nach Aristoteles, den Menschen - und so gewiß dies wahr ist, so auch, daß er dies nur kann, weil er darin sich als Lebewesen (als Natur) realisiert und Natur sich durch ihn vermittelt. Der Mensch verdankt sich nicht der Reflexion, die zweifellos ihn im Kreis der Natur einzigartig macht. Sondern die Reflexion ist der Ort, an welchem der Mensch sich gewahr wird als Wesen, das sich anderen und anderem verdankt - gerade auch in seinem Selbstsein. Was die Kraft der dialogischen Kommunikation in der sozialen Genese des Menschen bedeutet, das ist die Kraft der Korrespondenzen in seinem natur-geschichtlichen Werden. Dieses fundiert und begleitet die Sozio-genese bis heute, so gewaltig auch die Verschiebungen sein mö-gen, die hinsichtlich der Relevanzhierachien zwischen natür-lichen und sozialen (artifiziellen) Objekten zu beobachten sind.
Wenn also, um auf das Ausgangsproblem zurückzukommen, wir unsere Trauer auch artikulieren und differenzieren lernen kraft der nicht-intendierten, mitspielenden Korrespondenzen der Natur, dann handelt es sich also um mehr als bloße Projektion, die nur durch Introjektion zurückzunehmen wäre, um den Gefühlen ihr "eigent-liches Sein", das Innerseelische nämlich, zu verleihen. Im Verhältnis zur Seele wären alle Gefühlskorrespondenzen der Natur nichts als unaufgeklärte, im magischen Animismus wurzelnde Metaphern -: uneigentliches Sprechen also. Gefühle, in ihrer außer-sprachlichen Inkommensurabilität, fanden und finden zur Sprache und damit zur Kommensurabilität wenigstens der intersubjektiv-allgemeinen Symbole. Gefühle finden aber zur Sprache auch und gerade dadurch, daß die reichen, fein nuancierten Naturkorre-spondenzen in der Sprache (der Literatur) zu individualisieren-den Artikulationen werden. Dies ist ein ebenso sprachgeschicht-liches wie anthropologisches Faktum, mit welchem nicht die Abstände geleugnet werden, die zwischen Gefühlen und Sprache einerseits und Gefühlen und Natur andererseits bleibend herrschen.
Immer noch nicht ist damit geklärt, ob mit Benjamin von einer "Traurigkeit der Natur" zu sprechen erlaubt ist. Aber einem Verständnis dieser Formel ist vorgearbeitet, wenn wenigstens eingesehen ist, daß für die Selbstwahrnehmung der Gefühle wie für deren sprachlicher Artikulation auf die Mitproduktivität der Natur durch ihre Korrespondenzen schlechterdings nicht verzich-tet werden kann - nicht jedenfalls, solange wir unserer Her-kunftsgeschichte aus Natur eingedenk bleiben wollen.
Dennoch - unsere Trauer, die der Natur korrespondiert, ist etwas anderes als die Trauer der Natur, der umgekehrt wir, fühlend und sprechend, korrespondieren. Gibt es diese Umkehrung von Korre-spondenz: nicht die Natur als unser Echo, sondern wir als das ihre? Daß die Literatur davon voll ist, kann nicht als Beweis dafür gelten, daß diese Redeweise auch philosophisch begründet ist. Darum aber muß es gehen.
Zunächst ist festzustellen, daß die beiden Korrespondenzen nicht symmetrisch sein müssen und es tatsächlich auch nicht sind. Es handelt sich um verschiedene Formen von Korrespondenzen. Die Weise, wie wir der Natur korrespondieren, muß eine andere sein als die, in der Natur uns korrespondiert: einfach deswegen, weil wir in anderer Weise Natur sind als die übrigen Dinge und Lebe-wesen.
Diese Asymmetrie begegnet freilich schon in der ersten Korre-spondenz: Natur "antwortet" unserem Gefühl. Denn dies kann heißen - ich bleibe beim Beispiel der Traurigkeit -: die Wahr-nehmung von Natur hat zur Folge, daß meine Trauer sich modifi-ziert - gleichsam einen anderen Ton erhält, je nach dem, ob ihr die Trauerweide oder das müde Mittagslicht des Südens korrespon-diert. Oder meine Traurigkeit findet sich - und das ist inmitten dieses Gefühls, ein Moment des Glücks - in vollkommener Überein-stimmung mit der Umgebung: es ist genau dieses leise Geräusch lang-sam fallenden Regens auf den Blättern, worin alles andere, Laute, Farben und Regungen, sich aufgelöst zu haben scheint, was zu meiner Trauer hier jetzt paßt. Dies aber ist ebenso ein Sonderfall der Korrespondenz wie es ihr Grenzfall ist, wenn in der Natur ein radikal anderes sich zeigt, als es meinem Gefühl entspräche. Diese negative Korrespondenz aber vermag meiner Trauer ebenso Profil und Bewußtsein zu vermitteln wie die posi-tive oder modifizierende Korrespondenz. So wenn meine Traurig-keit sich aufs deutlichste abhebt von einem Frühling, der aus allen Schoten und Knospen platzt.
Asymmetrisch wird folglich erst recht die Korrespondenz der Natur im Menschen sein. Auf keinen Fall wird die "Traurigkeit der Natur" heißen können, daß sie sich durch Empathie in einem personalen Sinn erschließt. Nicht zeigt uns Mutter Natur ihre Trauer - auch wenn in der Literatur und der naturmystischen Tradition diese freundliche Redeweise immer wieder begegnet. Die Trauer der Natur kann nicht eine individuelle Trauer sein. Sie ist vielmehr eine allgemeine und abstrakte, gleichsam subjekt-lose Trauer. Es ist auch keine Trauer, die der Natur an sich zukäme - jenseits und außer ihres Wahrgenommenwerdens. Gleich-wohl ist die Trauer objektiv - sie soll der Natur, nicht uns zukommen.
Was aber kann dies für ein Gefühl sein, das wir wohl selbst empfinden, von dem gleichwohl wir behaupten, es sei nicht das unsere - ohne wiederum einer anderen Person zuzukommen. Das also wäre die Trauer, welche die Natur zeigt.
Von einer Natur zu sprechen, die nicht auch ein Sich-Zeigen ist, ist spätestens in der Epoche sinnlos geworden, in der empfindendes Leben in sie eingezogen ist. Seither ist Natur von der Art, daß es zur Natur der Dinge gehört, aus sich herauszugehen, sich zu manifestieren (oder sich zu verbergen). Seit Wahrnehmung in der Welt ist, ist es mithin sinnlos geworden, von einer Natur zu sprechen jenseits ihres Wahrgenommenwerdens. Natur ist also aistheton, Wahrnehmbares (was nicht heißt, daß alles an ihr manifest, also wahrnehmbar wäre). Auf Wahrnehmung hin zu sein, heißt, daß die Natur sich gleichsam selbst wahrnimmt, insofern die Wahrnehmenden selbst nicht weniger, wenn auch anders Natur sind wie diese im Ganzen.
Nun bietet die Natur Szenerien, in welchen uns eine Art über-subjektive Trauer wahrnehmbar wird - ebenso übrigens wie eine allgemeine Gleichgültigkeit oder indifferente Freude jenseits jeder einzelnen Freude oder Gleichgültigkeit irgendeines Lebewesens. Wir betreten hier das Gebiet einer Art Metaphysik - eben das Reich der objektiven Gefühle - und fragen danach, ob davon zu reden im nachmetaphy-sischen Zeitalter möglich ist, ohne sich auf Autoritäten wie Benjamin oder Schelling, der von der allgemeinen Schwermut der Natur sprach, zu berufen oder sich von der Schönheit lyrischer Sprechweisen bestechen zu lassen, wenn beispielsweise Nikolaus Lenau oder Johannes Bobrowski eine Trauer der Natur Sprache werden lassen. Es geht dabei nicht darum, daß selbstverständlich die Kunst oder die mythische Rede weiterhin das ungeschmälerte Recht eingeräumt erhalten sollen, von einer objektiven Trauer oder Freude der Natur zu sprechen, auch wenn sich erweisen sollte, daß dies nur in einem eingeschränkten Sinn möglich ist, dergestalt, daß darin imaginativ eine poetische, mythische oder metaphysische Einbildungskraft ein bloß subjektiv Gegebenes gleichsam ontologisch generalisiert. Noch aber ist nach der Möglichkeit objektiver Trauer zu fragen.
Trauer ist das Gefühl erlittener Trennung; und zwar jeder Form dieses Erleidens von Trennung. Deren radikalster Schnitt ist der Tod. Die Trauer, um die es hier geht und die ihre Korrespondenz und Artikulation im Menschen findet, bezieht sich mithin auf die Entzweiung, das erlittene Getrenntsein und auf den Tod in der Natur. Die Natur ist nicht eins und nicht eine. Sie ist ein Auseinan-dergetretensein, das nicht nur den Reichtum der Differenzierung, sondern darin auch den Schmerz der Trennung, die bis zur Vernichtung reicht, enthält. Das Vergehen, in welches alles einzelne wie die Natur als ganze sich auflöst, dieses Vergehen eignet nicht zuerst, aber vor allem dem empfindenden Sein, das lebendig ist dadurch, daß es sich selbst verzehrendes Leben ist. Die Trennung, die in der Natur ist, hebt sich à la longue nur auf, indem alles in der Einheit des Todes resümiert wird. Die Energie, die naturgeschichtlich in die Gestalten des Lebendigen geflossen ist, verwandelt sich im Menschen zum Bewußtsein des entropischen Grundgesetzes der Natur, ihrer Entstaltung also. Das entropische Grundgesetz findet seine Korrespondenz in der Trauer, die niemandem gilt und nichts meint als dieses Allge-meinste der Natur selbst. Das ist ein ganz und gar abstraktes Gefühl, aber dennoch Gefühl. In ihm korrespondiert Natur nicht unseren Lebensinteressen in zuvorkommender oder abweisender Form, sondern vielmehr korrespondieren wir in der denkbar wei-testen und gleichsam objektlos gewordenen, leeren Schwermut mit einer Natur vor und jenseits aller Wahrnehmung, vor und jenseits auch aller Sprache. Denn was hier in uns korrespondiert, ist absolute Sprachlosigkeit (auch wenn wir über sie sprechen), eine Sprachlosigkeit, die nicht nur der Natur, die wir nicht sind, zukommt, sondern schließlich uns selbst, insofern wir Natur doch sind: das Sprachlose in unserem Sprechen ist dem Stummen gezollt, in dem alles erstarrt.
Dem kommt auch nahe, was Adorno, in Anlehnung an Benjamin, die "Mimesis ans Tote" genannt hat. Über das naturgeschichtlich Tote, das zum Zeichen des Todes nicht nur in der Natur, sondern auch der Natur wird, hinaus schließt diese Formel das Tote ein, welches als Ruinenfeld der Geschichte diese in ihrem Zurücksinken auf Natur zeigt. So gewiß ist, daß im ganzen Kreis der Natur nur der Mensch in dieser Weise das Todesverfallene ins Denkbild zu heben vermag, so gewiß ist auch, daß darin mehr und auch anderes als die Trauer um das Vergehen des vielen Einzelnen erfahren wird. Dieses kann allenfalls Anlaß und Gelegenheit der ins Allgemeine geweiteten Trauer sein, die nicht mehr den Menschen allein zum Mittelpunkt hat, sondern umgekehrt gerade aus diesem Zentrum herausgerückt ist. Jene Zeit, die als das gleichförmige Leichentuch sich über alle Geschichten und Geschichte legt, bildet den dunklen Hintergrund des "Aorgischen" Hölderlins oder des Todestriebes Freuds, der im Rückgang aufs Anorganische seine Erfüllung findet. Derartiges als zu sich selbst und zur Natur gehörig zu empfinden, weist das Alltagsbewußtsein strikt von sich ab -; findet es doch in sich vor allem und scheinbar nichts anderes vor als das Gegenteil dieses Zugs zum Verlöschen der Lebensflamme. Der naturgeschichtlich Denkende aber blickt nicht nur ins lebendige Feuer, sondern ebenso auf die Asche, die von ihr bleibt. Aus ihr wird dem Denken die Trauer geweckt, deren Gestalt die erkaltete Erde und das blicklose All ist. Gewiß ist dies eine Trauer, die nicht unmittelbar als Echo wahrgenommener Natur zu verstehen ist. Es ist Trauer jenseits der Sinne, nicht aber jenseits der Naturvorstellung. Sie entspringt Denkbildern, Emblemen, Allegorien der Naturgeschichte. Doch darin reflektiert sich nicht einfach der sentimentale Schmerz, wie traurig die Natur nach Abzuig des Menschen wäre - gleichsam die totalisierte Vorstellung davon, daß Kinder sich gelegentlich gern tot phantasieren und die übriggebliebene Welt in Tränen über diesen Verlust vergeht. Pascals Unendlichkeitsschauder, Diderots Vorstellung von der menschenlosen Erde, Benjamins Allegoriker des Barocks und der Moderne, die die Geschichte unterm Zeichen einer überwältigenden Natur entziffern -: das sind im Menschen Reflexe des Menschenlosen, des schlechthin Ahumanen - Empfindung gewordener Gedanke der Zeit von Natur, die nicht unsere ist. Gerade als nachmetaphysischer Gedanke, als Denken im saeculum der Humangeschichte, ist dies ein Einfall der Naturgeschichte, der noch und unmittelbar als Idee die Gestalt von Trauer annimmt. Sie korrespondiert keinem Sinn und keinem Lebensentwurf: sondern jenseits davon entspricht sie der objektiven Disproportion des Menschen und der makrokosmischen Prozesse. Noch in 500 000 Jahren die Fußabdrücke Armstrongs im Staubgrund des Mondes, das blinde Strahlen der Sonnen, die leeren Revolutionen der Systeme.
Davon erhalten schließlich auch die Allegorien der Geschichte ihre formlose Form, worin das Hervorgebrachte im Halbwesen der Ruine erscheint: Geschichtliches im Übergang zur Natur. Was darin spricht, ist das schließliche Stummwerden dessen, was im Glanz der Bedeutung erstrahlte. Wieder hat das Stumme der Natur in der Trauer des Menschen seine Korrespondenz.
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