Hieran
ist zu beobachten:
1.
Auch unter dem Aspekt des Massenmordes beginnt das 20. Jahrhundert
mit dem 1. Weltkrieg.
2.
Kriege und revolutionäre Umbrüche steigern sprunghaft die
Zahl der Massenmorde an der Zivilbevölkerung.
3.
Mit der Ausnahme des 1. Weltkrieges übersteigen die Terrortote
bei allen großen Kriegen des Jahrhunderts die Zahl der Kriegstoten
ums Mehrfache. Die 50 Jahre zwischen 1930 bis Ende der 70er Jahre
sind weltweit die Zeit des brutalsten Terrors gegen Zivilbevölkerungen
und Zivilgruppen.
5.
Insbesondere die Jahre von 1937 bis 1953, d.h. vor, während und
nach dem 2. Weltkrieg, prägen unser Jahrhundert als das Jahrhundert
des Massenmordes.
Welche
lokalen Typen von Massenmorden werden von Rummel in seine Statistik
aufgenommen? Ich gebe wenige Beispiele, die weltweit gestreut sind
und ausgewählt wurden aus Gründen ihrer Verschiedenheit;
ich lasse zunächst die für uns vertrauteste Form, die NS-Verbrechen,
aus.
Zwischen
1900 und 1920 wurden in Mexico durch staatliche Terrormaßnahmen
1,4 Millionen Menschen umgebracht. Das jungtürkische Regime initiierte
den ersten ethnischen Säuberungs-Massenmord des Jahrhunderts
gegen die Armenier mit 2 Millionen Toten während des 1. Weltkriegs;
die nachfolgende Regierung ermorderte zwischen 1920 bis 1923 3,5 Mio
Armenier, Griechen, Nestorianer und andere Christen. Zwischen der
Invasion Chinas 1937 und der Beendigung des 2. Weltkriegs durch die
Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki hat das Militärregime
Japans ca. 6 Mio zivile Chinesen, Indonesen, Koreaner, Philipinos
und Indochinesen ermordet. Während des 43 Jahre dauernden Vietnam-Kriges
wurden 3,8 Mio Menschen ermordet. Zwischen 1970 und 1980 hat die
Rote Khmer 3,3 Mio Männer, Frauen und Kinder ermordert, d.i.
fast die Hälfte der Bevölkerung auf dem Stand von 1970.
Das westpakistanische Militär ermordete 1971 in 267 Tagen 1,5
Mio Menschen Ost-Pakistans (Bangladesh) und trieb 10 Millionen in
die Flucht. Lange vor dem gegenwärtigen Jugoslawien-Krieg ermordeten
während des 2. Weltkriegs die Kroaten 655.000 Menschen überwiegend
des serbischen Bevölkerungsanteils; unter Titos Herrschaft wurde
500.000 Regimegegner und Zivilisten ermordet. Das Regime in Nordkorea
hat zwischen 1948 und 1987 1,6 Mio Menschen ermordet. Die UDSSR
hat zwischen 1917 bis 1987, schwerpunktmäßig zwischen 1929
und 1953 61,9 Mio Menschen ermordet, davon 54,7 Millionen Menschen,
die zum eigenen Staatsgebiet gehörten.
Die
Nazis kommen auf 20,9 Mio Terrortote, davon 20 Mio Menschen, die nicht
zur deutschen Bevölkerung innerhalb der Reichsgrenzen von 1937
gehörten. Darin liegt ein deutlicher Unterschied zwischen dem
deutschen und dem sowjetischen Demozid: war der sowjetische überwiegend
ein Bestandteil des innerstaatlichen Terrors, so war der deutsche
Völkermord überwiegend gegen Bevölkerungen eroberter
Länder gerichtet und innerhalb derer gegen die Juden. Genau entgegengesetzt
zu den Verhältnissen in den UDSSR verhält es sich mit den
USA: diese haben in diesem Jahrhundert, durchweg in Folge von Kriegen
gegen andere Länder, zwischen 583000 und 1,6 Mio Menschen durch
Demozid umgebracht, während innerstaatlich pro Jahr durchschnittlich
1 Mensch auf 1,1 Mio Amerikaner durch staatliche Gewalt ermordet wurde.
Es ist für die Diskussion über den Status staatlicher
Integrität nicht gleichgültig, daß weltweit der größte
Terror sich durchweg gegen die eigene Bevölkerung richtete und
überhaupt die sprunghafte Zunahme von Demoziden seit dem 19.
Jahrhundert offensichtlich parallel zur Durchsetzung der völkerrechtlichen
Doktrin nationalstaatlicher Autonomie verlief.
In
diesem Zusammenhang ist ferner die Relation zwischen Staatsform und
Terror-Rate aufschlußreich:
Quelle: Rummel 1988, p. 379
Diese
Graphik soll folgende Relation belegen: je konzentrierter und totalitärer
staatliche Macht, umso höher die Rate innerstaatlichen Demozids;
je stabiler und ausdifferenzierter demokratische Institutionen, umso
geringer der innerstaatliche Terror. Das Ergebnis belegt empirisch
das Prinzip: "Power kills; absolute power kills absolutely" (Rummel
1998, 367). Der Graphik liegt eine politische Faktorenanalyse von
214 Staaten des 20. Jahrhunderts zugrunde, von denen 141 mit Demoziden
belastet sind. Eine weitere Graphik verdeutlicht die positive Korrelation
zwischen den Niveaus staatlicher Machtkonzentration und dem Faktor
innerstaatlichen Demozids.
Quelle: Rummel 1988, p. 381
Die folgende
Graphik korreliert dieses Ergebnis mit den absoluten jδhrlichen Demozid-Zahlen
im 20. Jahrhundert.
Quelle:
Rummel 1988, p. 469
Sie
belegt den verschwindenden Anteil von Demokratien an den Demoziden
dieses Jahrhunderts und den sehr viel höheren Anteil von totalitären
Regimen am Demozid gegenüber anderen Staatsformen wie Monarchien
u.ä.. Krieg und revolutionäre Umbrüche wirken direkt
als Verstärker auf die Demozid-Disposition totalitärer Regimes,
erklären aber auch die Demozid-Raten demokratischer Staaten,
insbesondere im Sektor der auf Massentod gezielten Bombardierung ziviler
Bevölkerungen.
Wenn
es also postive Korrelationen zwischen Totalitarismus und Demozid
gibt, so ist dieser Befund daran zu überprüfen, ob nicht
andere soziale Fakten ebenfalls signifikante Faktoren für Demozid
sind. Rummel untersucht deshalb die Frage, ob zwischen Demozid, Machtkonzentration
und sozialer Diversität signifikante statische Beziehungen bestehen
(soziale Diversität = innergesellschaftliche ethnische Fraktionalisierungen,
große ethnische Minderheiten, hohe religiöse Spaltungen,
hohe sprachliche Teilungen, hohe soziale Heterogenität, großer
Anteil von Minorities at Risk, hohe nationale Uneinigkeit). Ferner
die Frage, ob kulturelle Makrostrukturen und Demozid korrelieren (hier
werden Faktoren berücksichtigt wie starke Männerzentrierung,
fehlende Mittelschichten, andererseits kulturgeographische Zonen wie
Süd/Mittelamerika, Mitteleuropa, Nordost/Sügostasien etc,
und schließlich religiöse Staatsformen bzw. Populationen).
Ferner wird die Korrelation zwischen sozioökonomischen Daten
und Demozid untersucht (Energieumsatz, Bruttosozialprodukt pro Kopf,
Erziehungsindex, Gesundheitsindex, Sterblichkeitsraten, Urbanisierung,
Landbewirtschaftung, Flüchtlingsrate, Katastrophen-rate, Dauer
der Staatsform etc.).
Ich
fasse kurz das überraschende Ergebnis Rummels zusammenfassen:
bezogen auf die 214 untersuchten Staaten und den Verlauf des 20. Jahrhunderts,
gibt es keine positiven statistischen Korrelationen zwischen Demozid
und sozialer Diversität. Die Prägung des öffentlichen
Bewußtseins (nach 1945) durch den Holocaust und (vor 1933) durch
den türkischen Genozid an den Armeniern hat zwar die Annahme
begünstigt, daß ethnische, soziale, religiöse Diversitäten
direkt mit Demozid/Genozid statistisch korrelierten. Doch kann dies
im globalen Maßstab nicht bestätigt werden. Ebenso wenig
bestehen signifikante statistische Zusammenhänge zwischen kulturellen
und sozioökonomischen Patterns und Demozid. Das bestätigt,
im Umkehrschluß, "the causal linkages for the Power-democide-war-rebellion
connections" (Rummel 1998, 9). Die Konzentration an Staatsmacht verursacht
direkt eine Zunahme an Demozid-Dispositionen, die indirekt verstärkt
werden durch den signifikanten Zusammenhang von Totalitarismus mit
Krieg und Rebellion.
Dennoch
heißt die zentrale Korrelation von staatlichen Gewaltregimen
und Demozid-Dispositiven nicht, daß, sofern diese erst einmal
bestehen, weitere Faktoren verstärkend, radikalisierend, entgrenzend
wirkend können wie ethnische, religiöse, soziale, ökonomische
Spaltungen, Faktoren also, die nach Rummel von sich aus keinen intrinsischen,
statistisch belegbaren Zusammenhang zum Demozid aufweisen.
*
* *
Man
kan gegen eine solche statistische Soziologie, die zu semantisch relevanten
Aussagen erst auf der Basis numerischer validierter Zahlenregimes
gelangt, einwenden, was man will sie weist keinerlei Beziehung zu
der SS-Statistik auf, mit welcher Tadeusz Borowski seine literarischen
Bilder des individuellen Grauens kontrastiert. Umgekehrt aber gibt
es auch keinerlei Zusammenhang zwischen Demozid-Statistik und der
Empathie, welche von künstlerisch gestalteten, individualisierten
und darin inkommensurablen Singularitäten der Gewalt ausgeht.
Die statistische Auswertung der 161 Mio ermordeten Menschen ist strategisch
kalt gegen den Einzelfall und gegen das Leid, das er bedeutet. Es
kann eine qualitative Interpretation oder ästhetische Darstellung
der großen Zahl nicht geben. Die Solidarität mit den einzelnen
Toten, die Texte wie die von Kulisiewicz oder Borowsky ermöglichen,
verankert den Massenmord in der Trauer und der Erinnerung von wiederum
einzelnen Lesern oder Hörern.
Doch
sind diese Erinnerungen nicht 'authentischer' als die Zahl; sie können,
wie die Statistik, manipuliert und gefälscht werden wie wir
spätestens seit den false memories des Binjamin Wilkomirski
(1995) wissen, von denen sich Überlebende und Experten des Holocaust
genauso haben täuschen lassen wie Literaturkritiker. Das Prinzip
testimony, an das sich wie an einen Rettungsanker seit zwanzig
Jahren die Strategien des authentischen Erinnerns knüpfen, ist
nicht essentiell (vgl. dazu Felman/ Laub 1992; Langer 1991). Es ist
selbst an principles of charity and veracity gebunden, an ethische
Haltungen also, die universal gelten mögen, dennoch aber, als
solche, verletzlich sind und strategisch unterlaufen werden können.
Daß das Erinnern an den Holocaust wie aus Modulen synthetisiert
werden kann und bei hundertausenden von Lesern in 12 Sprachen, so
unterstelle ich, zu echter emotionaler Erschütterung und empathischer
Anteilnahme geführt hat, untergräbt den Vertrauenspakt,
der zwischen dem Erinnern der Überlebenden und unserer Angewiesenheit
auf Zeugnisse geschlossen wurde. Nicht die Texte der Überlebenden
werden dadurch unglaubwürdig, sondern die medial vermittelten
Rezeptionscodes, denen wir folgen. Die Translation des Erinnerns ist
vielleicht ein Phantasma, an das wir, im Wunsch nach einer emotionalen
Verknüpfung mit einem Leid, das nicht unseres ist, mehr geglaubt
haben, als daß wir sicher sein dürften, daß es eine
solche Translatio überhaupt gibt.
Aus
der strukturellen Ungewißheit eines Erinnerns, das wir uns nur
geliehen haben, befreit auch nicht die Statistik des Demozids, wie
sie Rummel vorführt. Der Code der Zahlen ist erinnerungslos.
Zahlen verzeichnen und archivieren die Toten, sie geben einen abstrakten
Speicher her, der eine andere Form von Massengrab ist. Nichts macht
den Unterschied von Erinnerung und Gedächtnis deutlicher, als
die Differenz zwischen den Texten von Borowski, Kulisiewiecz, Ruth
Klüger (1992) oder Liana Millu (1997/8), und den "Statistics
of Democide" von Rummel. Doch auch die Zahlen Rummels benötigen
unser Vertrauen. Sie eröffnen keinerlei Zugang zum Leid des Einzelnen.
Wohl aber erlauben sie politische Einsichten. Wenn die Zahlen
und ihre Auswertung richtig sind, dann würde Rummel hier einen
empirisch Beweis dafür liefern (keine bloße Überzeugung),
daß es zu einer Demokratie, die auf der Integrität des
Lebens und den Menschenrechten beruht, keine Alternative gibt wenn
Demozid und Genozid vermieden werden sollen. Wir werden sehen, daß
diese Konsequenz weder selbstverständlich noch trivial ist.
Doch
dieser Beweis durch die Zahl ist nicht nur kognitiv überzeugend
(für diejenigen, die ihn nötig haben); sondern die große
Zahl leistet auch mehr. Wie es ein physiognomisches Sehen von Landschaften
gibt, so auch ein physiognomisches Lesen von Epochen. Wir benötigen
als politische Zeitgenossen so etwas wie eine Ansicht, ein Antlitz
des Jahrhunderts, in das wir eingebettet sind. Es ist eine Art Physiognomik
der Zahl, zu der uns Rummel verhelfen kann, daß die Globalisierung,
in deren Zeichen dieses Jahrhundert getreten ist, zuerst die Globalisierung
des Mordes war. Das verstehen wir vor allem durch die Sprache
der Zahlen. Es ist folglich unsinnig, von den zivilisatorischen Fortschritten
der Modernisierung zu sprechen, wenn wir gezwungen sind, diese Moderne
auch als den einzigartigen und auf alle Kontinente ausgebreiteten
Kausalzusammenhang von totalitären Systemen und Demozid zu denken.
Die 161 Mio Ermordeter sind weder vorstellbar noch einfühlbar.
Dennoch gibt es in der disziplinären Kälte der Statistik
auch eine Solidarität, nicht mit dem Einzelnen, sondern mit der
Masse der Toten. Sie als die Physiognomie dieses Jahrhunderts
zu denken, heißt auch, daß wir sie uns zurechnen. Daraus
erwachsen die politischen Prinzipien des Handels, von denen wir nun
wissen, daß ihre Nicht-Einhaltung im 21. Jahrhundert
eine Vervielfältigung des Demozids zur Folge hätte. Die
Trauer und das Erinnern an die einzelnen Toten benötigt das Wissen
von den statistisch ermittelten Zusammenhängen des Massenmordes,
um politisch wirksam zu sein und umgekehrt.
Hingegen
wirft der Ansatz Rummels auch politische Probleme auf: indem er zu
zeigen unternimmt, daß Totalitarismus und Demozid zusammenhängen
und daß nationalstaatliche Souveränität ein Grund
für das gewaltige Übergewicht an innerstaatlichem Demozid
ist, legt er die Basis für eine Interventionspolitik, die politisch
fragwürdig und völkerrechtlich bedenklich ist. Das heißt
im Klartext: Rummel liefert die Daten für die gegenwärtige
US-Außenpolitik. Ferner interessiert ihn überhaupt nicht,
ob Demokratien in Demozid-Prozesse von sog. totalitaristischen Ländern
aktiv oder passiv verwickelt sind; ob nicht globale Macht- und Wohlstandsgefälle
zwischen reichen Demokratiestaaten und armen Ländern sowohl Totalitarismus
wie Demozid befördern. Und völlig außer Blick bleibt
die Überlegung, ob der Demozid-Begriff (der auf Mord basiert)
heute noch die einzige Form ist, die es zu erfassen gilt: das massenweise
Umkommen-Lassen von Menschen in strukturell verarmten Gesellschaften
ist kein Naturereignis, sondern eine moralisch-politisch zu verantwortende,
soziale Tatsache, zu verantworten gerade auch durch die reichen
Industrienationen (die eben dies strikt ablehnen): es wäre zu
prüfen, ob nicht der politische 'Code', der den Studien Rummels
zugrundeliegt, grundlegend verändert werden muß.
*
* *
Als
letztes stelle ich die Frage, ob strukturale Interpretationen, wie
sie Wolfgang Sofsky und Zygmunt Bauman vorgelegt haben, die Vermittlung
abgeben zwischen dem Code des Einzelnen und dem Code der großen
Zahl. Dabei gehe ich nicht auf das Buch "Die Ordnung des Terrors:
Das Konzentrationslager" (1993) von Sofsky ein, worin er mit der Methode
"dichter Beschreibung" eine exzellente Analyse des sozialen Funktionierens
der Lager leistet. Hier kommen keine Namen vor, weder von Opfern noch
Tätern; es fehlt auch die Ebene der staatlichen und ideologischen
Hintergründe der NS-Herrschaft; es werden ausschließlich
soziale Mechanismen und Strukturen des Lagersystems dargestellt, doch
mit einer solchen analytischen Konzentration, daß die rücksichtslose
Offenlegung des Gewaltsystems der Lager zur anderen Form der Treue
zu den Toten wird. 1996 dann legte Sofsky das "Traktat über die
Gewalt" vor. Darin erweitert Sofsky, sowohl räumlich wie historisch,
den Focus vom NS-Terror auf eine umfassende Kulturanthropologie der
Gewalt. Dies ist ein Entwurf, der im Geltungsanspruch mit den Untersuchungen
Rummels konkurriert, sich diesem jedoch in Methode und in der Darstellung
radikal entgegensetzt. Es ist ein qualitativ anderer Code, mit dem
das "Geheimnis der Gewalt" (Georg K. Glaser) entschlüsselt werden
soll. Dieser Code ist der Mythos und die negative Theologie.
Sofsky
entledigt sich aller Daten, aller Belege, aller Namen, aller historischen
Verläufe, aller Unterscheidungen. Er schreibt ein End-Millenniums-Buch,
schwarz wie die Nacht, in der alles eins wird. Der rhetorische Ton
ist hoch, ehern, apodiktisch; kurz hämmern die Sätze; Unumstößlichkeiten
folgen auf Unausweichlichkeiten. Eingefaßt in zwei Rahmenkapitel
mit grundsätzlichen Deklarationen über den geschichtlichen
Verlauf an sich "Gewalt bleibt allgegenwärtig. Sie durchherrscht
die Geschichte des Gattungswesens von Anfang bis Ende. Gewalt schafft
Chaos, und Ordnung schafft Gewalt" (Sofsky 1996, 10): eingelassen
also in den Doppelflügel des Mythos von der ewigen Wiederkehr
der Gewalt werden in einem Mittelteil von zehn Kapitel einzelne Bild-Tafeln
entworfen. Es ist ein Stationenweg der Passion in doppelter Hinsicht:
der endlosen Passion der Opfer und der endlosen Leidenschaft der Täter.
Mit der heiligen Zahl von 12 Kapiteln ist das Curriculum der Gewalt
abgeschritten, und mit ihm der mythische Lauf der Geschichte überhaupt.
Wir stehen auf Golgatha. "Die Weltgeschichte ist das Weltgericht",
wie Schiller sagte; die "Schädelstätte der Geschichte",
wie der junge Lukács dekretierte; das "caput mortuum" der Historia,
wie Walter Benjamin nachsetzt. Geschichte ist die Verhängung
mythischer Gewalt über alle und für immer, unterbrochen
von Festen der Befreiung, die die Form orgiastischer Verausgabung
von Blut annimmt. Selbst die einfachste Unterscheidung von potestas
und violentia fehlt. Der "Leviathan" von Thomas Hobbes steht
Pate für diese Apokalypse ohne den Umkehrpunkt zur Erlösung.
Der Staat absorbiert, um den bellum omnium contra omnes zu
beenden, das Monopol der Gewalt und erzeugt dabei ein umso lückenloseres
System transformierter Gewalt, gegen die im rhythmischen Pendelschlag
die Gewalt der amorphen Massen sich entfesselt und in blutigen Massakern
die Ordnung zerstört. Et sic in inifinitum, wie Robert
Fludd 1618 das schwarze Quadrat des Chaos überschrieb.
Sofsky
nimmt nur scheinbar den point of view des unbeteiligten
Beobachters eines auch nur scheinbar säkularisierten Weltlaufes
ein. In den stählernen Sätzen, mit denen er das Gesetz der
historia universalis diktiert; im eisgekühlten Stakkato,
durch das Sofsky die Gewalt von Massakern, von Folter, von Hinrichtung,
von Kampf, von Jagd und Flucht kontert; in der unübertroffenen
Nähe, die er zum lädierten Körper und zur zerfetzenden
Waffe hält darin wird Sofsky zum neuesten Metaphysiker der
Gewalt. Sie wird zur Ontologie der Geschichte verdichtet. Sofsky wird
zum Metaphysiker gerade am Leitfaden des Körpers und hält
darin die Spur Sades, Nietzsches und Batailles, die seine großen
Zeugen sind.
Der
steinerne Stil, mit dem Sofsky die violentia pariert, birgt
den Schrecken und die Faszination, die aus den Gewaltexzessen der
Jahrhunderte entgegenschlagen (vgl. Raulff 1996). Sofsky will nichts
verharmlosen, was er den Historikern nicht ohne Recht vorwirft. Doch
nichts zu beschönigen, ist nicht dasselbe, wie alles Historische
zur ewigen Permutation der immer selben Gewalt zu machen. Das Buch
hat auf Seite 10 bereits alles gesagt. Jedes Kapitel ist eine Variation
derselben ontologischen Gewalt. Das Buch wird zur Mimikry der Gewalt,
die es als Verhängnis unterstellt und die es doch selbst erst
hervorbringt.
Wie
ein Pilger des Passionsweges erleidet der Leser alle Varianten des
Opferganges, zu dem das Buch selbst wird. Der Traktat hinterläßt
eine tief erschöpfte Erhabenheit. Geschichte wird zur nature
morte unterm Medusenhaupt der Gewalt. Jeder Mensch erstarrt vor
dem anderen und die Gesellschaft vor dem Staat versteinert in Angst
und Schrecken, Schuld und Schmerz. Alle vermeintlichen Bindungen an
Regeln des Zivilen hinterlassen nur die Scham, die eigenen Hoffnungen
in etwas Illusionäres und Vergebliches investiert zu haben. Als
schwarzer Engel einer umgekehrten Aufklärung nimmt Sofsky uns
Leser unter die Fittiche eines lichtlosen und darum wahren Wissens.
Hatte der naive Ernst Bloch mit dem "Prinzip Hoffnung" (1959) den
Wärmestrom der Geschichte auffinden wollen, der zur ausstehenden
Heimat des Friedens trägt, so zeigt uns Sofsky, daß der
Strom der Geschichte ein Acheron ist, über dessen kalte Wasser
er uns als Charon ins Totenreich lenkt. Der gewaltsame Tod ist das
überwältigende Faszinosum des Sofskyschen Traktats.
Der
Preis für diese schwarze Messe der Geschichte ist gewaltig. Ohne
Zweifel ist Sofsky einer der wenigen deutschen Wissenschaftler, der
sich ohne Schuldzerknirschung und mit weggeschnittenen Augenlidern,
von denen Kleist spricht, dem saturnischen Anblick der Gewalt aussetzt.
Doch vermag er dies nur durch eine Anthropologie des Menschen, die
keinerlei historische Dimension aufweist; durch eine Mythisierung
der Geschichte, die vollständig unterm ehernen Gesetz des violentia
steht; durch eine Leviathanisierung des Staates, die jede politische
Differenzierung aufgegeben hat; durch eine Rückverwandlung von
Kultur in Natur, die mit dem Krieg aller gegen alle gleichgesetzt
wird. Auschwitz ist Ursprung und Ziel der Geschichte.
Diese
Ergebnisse des als Traktat verkleideten Manifests sind indes sämtlich
textuelle Effekte. Nicht zufällig verzichtet Sofsky beinahe völlig
auf Belege und Referenzen. Sein Text ist so absolut, wie absolut die
Gewalt ist. Das macht den Text verwandt zu religiösen Bußübungen,
radikalen Apokalyptiken, negativen Theologien, deren rhetorische Muster
der Rücknahme alles Positiven darauf zielen, eine sprachliche
Hohlform des göttlichen Absolutums schaffen zu wollen. Doch redet
hier ein Politologe der Göttinger Universität und Experte
für Holocaust-Forschung. Gerade als dieser entfacht er ein Autodafé
der Geschichte ohne die apokalyptischen Heilsfiguren, welche jüdischen
Denkern der Shoah zur Verfügung stehen.
Das
ist ebenso ergreifend, wie unannehmbar. Ergreifend,
wenn man mitvollzieht, daß aus dem ungeschützten Blick,
zu dem Sofsky sich zwingt, ein Schmerz reflexhaft hervorgeht, der
bis an die Wurzeln der Existenz reichen kann gerade bei einem Nachgeborenen
der Täter. Denn der absoluten Gewalt, die Sofsky buchstabiert,
entspricht ein unheilbarer Schmerz. Es ist unannehmbar, weil
alle historischen Differenzierungen verlorengehen und damit auch alle
politischen Optionen. Hier belehrt ein Rückblick auf die "Statistics
of Democid" von Rummel, daß die kausale Korrelation von Totalitarismus
und Demozid auch nur halbwegs wahr sein muß, um annehmen zu
dürfen, daß die Geschichte des 20. Jahrhunderts
in aller Deutlichkeit die politische Alternative zum Demozid enthält:
nämlich die gewaltendifferenzierende Demokratie. Es besteht keinerlei
Grund, diese Option in einem ontologischen Universalismus der Gewalt
untergehen zu lassen. Die Gattung des Traktats, die den Code des Mythos
und der Negativen Theologie verbirgt und dadurch frei wird, die Gewalt
zum erhabenen Gesetz der Geschichte zu machen, muß den Code
der Zahl, wie ihn Rummel benutzt, ebenso strikt vermeiden, wie den
Code des Einzelnamens und der Singularitäten, wie ihn Kulisiewicz
oder Borowsky entwickeln. Beides erlaubt etwas anderes als den versteinten
Schrecken der Gewalt in Sofskys Text: die trauernde Erinnerung das
eine und die politische Einsicht das andere. Sofkys Traktat steht
diesseits und jenseits von beidem.
*
* *
Der
Soziologe Zygmunt Bauman verfolgt in seinem Buch "Modernity and the
Holocaust" (1989, deutsch 1992) ein gänzlich anderes Ziel als
Sofsky, aber auch als Rummel. Ihm geht es weder um die soziale Ordnung
des Terrors im KZ, noch um eine Kulturanthropologie der Gewalt, noch
um statistische Auswertungen des staatlichen Demozids im globalen
Ausmaß, sondern um die prekäre Frage: gibt es einen intrinsischen
Zusammenhang von Moderne, Zivilisationsprozeß und dem zentralen
Genozid dieses Jahrhunderts, dem Massenmord an den europäischen
Juden? Diese Frage hat sich seither nicht erledigt, wie man z.B.
an dem von Alan S. Rosenbaum herausgegebenen Buch "Is the Holocaust
unique?" sehen kann, dessen Ziel, etwas anders als bei Bauman, es
ist, "to fix the place of the Nazi-engineered Holocaust... so that
it may accurately integrated into the mainstream of recorded history"
(Rosenbaum 1996, 1). Geht es den amerikanischen und israelischen Wissenschaftlern
hier um eine komparatistische, d.h. kontextualisierende Studie zu
Genoziden im 20. Jahrhundert, so interessiert Bauman, ob nicht die
Sozialwissenschaften eine euphemistische Modernitäts-Theorie
voraussetzen, um die Moderne vor dem Holocaust zu isolieren und dadurch
ihre Theorie zu retten. Der Holocaust erscheint dann entweder als
Unfall der Geschichte, d.h. soziologisch als Singularität, als
Rückfall in eine barbarische Vormoderne, als Zivilisationsbruch
oder Monstrosität von inkommensurabler Dimension, oder als Irregularität
des historischen Gesamtverlaufes. Demgegenüber macht Bauman die
These stark, daß der Holocaust ein der Moderne immanenter Effekt
war. Natürlich steht diese These konträr z.B. zur Theorie
der Zivilisation von Norbert Elias, für den Verfriedlichung und
Gewaltminimierung die langfristigen Trends der europäischen Geschichte
darstellen; konträr aber auch zu den auf Max Weber referierenden
Sozialtheorien: diese setzen Ausdifferenzierung, rationale Verwaltung,
Verwissen-schaftlichung und Bildung sowie demokratische Institutionen
mit Moderne gleich, so daß die Gewaltexzesse des Jahrhunderts
als Gegensatz zur Modernisierung gelten können. "Der gewaltlose
Charakter der modernen Zivilisation", so wendet Bauman ein, "ist eine
Illusion, ein Mythos mit apologetisch-idealisierender Funktion." (Bauman
1992, 111) Eine qualitative Analyse der Verlaufsbedingungen des Holocaust
(eingeschlossen die Genozide der Stalin-Zeit) rechtfertigt nach Bauman
die Gegenthese: "Die beiden ... extremsten Fälle des modernen
Genozids waren nicht Verrat am Geist der Moderne, nicht Verirrung
vom geraden Pfad des Zivilisationsprozesses sie waren der konsequente,
ungehemmte Ausdruck dieses Geistes." (ebd. 108)
Die
Analyse der deutschen Gesellschaft der Nazi-Zeit zeigt, daß
der Holocaust technisch, logistisch, verwaltungsmäßig,
organisatorisch ohne die Errungenschaften der Modernisierung nicht
möglich gewesen wäre. Die ideologischen Rahmenbedingungen
wie Nationalismus, Rassismus und Sozialhygiene bieten allein keine
hinreichende Erklärung und sind zudem keine der Moderne fremden
Phänomene, sondern gehören zu ihr, insofern sie Elemente
der sich bildenden aggressiven Nationalstaatlichkeit des 19. Jahrhunderts
sind. Mentale Voraussetzungen des staatlich-bürokratischen Handelns,
nämlich die "Entmenschlichung" der verwalteten "Objekte", gehören
unmittelbar der instrumentellen Rationalität der Moderne an und
ermöglichen zugleich das Funktionieren des Holocaust, insofern
"moralische Indifferenz" bzw. Adiaphorisierung (moralische Neutralisierung)
jede Gemeinsamkeit mit den Opfern auslöschte. Das Gewaltmonopol
des Staates und die effektive Rationalität von exekutiven und
kontrollierenden Mechanismen gehören ebenfalls zur Moderne. Selbstverständlich
agierten Militärapparat und industrielles System der Nazis auf
dem höchsten Niveau der technischen Moderne. Die Wissenschaften
boten keinerlei Widerstand gegen den Nationalsozialismus, sondern
ließen sich ebenso leicht wie im Kaiserreich nunmehr den Nazis
dienstbar machen.
Wenn
zusätzlich traditionelle Eliten, Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung,
die Selbstständigkeit des Rechtssystems und die demokratischen
Institutionen zerschlagen werden; wenn der moderne Staat und seine
effektiven Gewaltpotentiale in die Verfügung millenaristischer
Bewegungen und neuer Eliten ohne Tradition fallen; und wenn deswegen
die Gesellschaft insgesamt als Planungsobjekt ins politisch-strategische
Kommando des Staates gerät dann sind, auf der Basis und im
Effekt der Modernisierung, die Bedingungen für einen Holocaust
gegeben, der dann unter zusätzlichen kontingenten Ursachen (z.B.
Verlauf des Rußland-Krieges) tatsächlich eintritt. Dies
ist ein extrem gekürztes Referat der Ursachenbündel und
Mechanismen, die Bauman als verantwortlich für den Holocaust
ansieht.
Entscheidend
ist, daß nach Bauman ganze Stränge von Ursachen des Holocaust
nach 1945 dauerhaft in Kraft geblieben sind. Der Holocaust ist wiederholbar
auch und gerade unter Bedingungen der entwickelten Moderne. Bauman
stimmt mit den Ergebnissen von Rummel darin überein, daß
die gewaltentgrenzende Fusion von Staatsapparat und traditionslosen
Machteliten unmittelbare Dispositionen zum Genozid dann aufweisen,
wenn die Gesellschaft über demokratische Institutionen keinen
wirkungsvollen Gegenpol zur Staatsgewalt bildet. Die Homogenisierung
der gesamtgesellschaftlichen Ordnung im Sinne der Staatsgewalt führt
unmittelbar zu Massenmorden. Von Rummel unterscheidet sich Bauman
jedoch dadurch, daß Rummel einen unreflektierten und naiven
Begriff von Demokratie als Palliativ gegen Gewalt und Massenmord hat,
während Bauman aufgrund seines dialektischen Begriffs von Modernisierung
in der Lage ist, auch in den hochentwickelten Demokratien die Potentiale
auszumachen, die funktional für Staatsterrorismus und Massenmord
sind.
Das
führt zu einem unausweichlichen Dilemma: es gibt, um Demozid
zu vermeiden, keine Alternative zur Demokratie; je mächtiger
jedoch Demokratien werden, um über wirkungsvolle Mittel zur Verhinderung
von Demoziden zu verfügen, um so stärker werden in ihnen
selbst die Gewaltapparate, welche, unter verschobenen politischen
Gewichten, zu Instrumenten des Terrors werden. Selbst wenn dies so
ist, so gibt es doch einen Unterschied ums Ganze zur ähnlichen
Drehung, die Sofsky seiner mythischen Erzählung der Gewalt gibt.
Bei Sofsky steht fest, daß die kulturellen Ordnungen, welche
zur Kontrolle der Gewalt entwickelt werden, durch diese Gewalt von
innen her überwältigt werden: der Umschlag in Terror ist
programmiert. Während bei Bauman es historisch prinzipiell offen
ist, ob Gesellschaften in der Lage sind, gegenüber der Staatsgewalt
einen autonomen, demokratischen Gegenpol zu bilden. Das ist nicht
zuletzt eine Frage unseres eigenen politischen Einsatzes: als Studierende,
WissenschaftlerInnen, BürgerInnen.
Alle
vier hier diskutierten Modelle: das literarische Erinnern des Einzelnen,
die Statistik der großen Zahl, der universale Mythos der Gewalt,
die strukturale Interpretation der Moderne sind charakteristische
Umgangsweisen, wenn man will: Codierungen der Gewalt. Die Gewalt,
auf die sie sich beziehen, wird dadurch nicht verstanden und das Inkommensurable
des Terrors und des Mordes nicht aufgehoben. Die Erinnerungstexte
halten die größte Nähe zur Gewalt, weil sie im Medium
der Trauer am weitesten an das heranreichen, worin Gewalt einzig erfahrbar
ist: im Schmerz. Dieser Schmerz tötet oder, im Fall des Überlebens,
trennt er von allen anderen bis dahin, daß, nach dem Wort
Jean Amerys, derjenige, der die Folter erlitten hat, nicht mehr heimisch
in der Welt werden kann (Amery 1997, 56f, 63f, 73). Dort, wo Erinnerungen
mitgeteilt und von Lesern oder Hörern aufgenommen werden, ist
die tödliche Nähe der Gewalt am ehesten spürbar;
doch sind die Erklärungen der Gewalt besonders schwach.
Dort, wo die Erklärungen weitreichend und faktorenreich
sind, ist der Abstand zur Gewalt besonders groß. Und
die habituelle Distanz, so hat Bauman gezeigt, ist ein Funktionselement
der Gewalt.
*
* *
Vielleicht
ist es deswegen wichtig, keine Hierarchie zwischen den Diskursen und
Formen des Umgangs mit Gewalt zu installieren. Vielleicht ist es sogar
falsch, sich nur für ein Medium, einen Code, einen Diskurstyp
zu entscheiden. Vielleicht ist es wichtig, auch auf dieser Ebene Gleichberechtigung
und Demokratie einzuführen. Für die Wissenschaft, die sich
allen anderen Formen gegenüber als erstrangig verstanden und
hegemonial durchgesetzt hat, wäre dies etwas Neues.
Geht
man von dieser Voraussetzung aus, wird eine andere Lesart des "Traktats"
von Sofsky möglich: man versteht dann, daß der "Traktat"
nicht eine mißglückte mythische Universalisierung der Gewalt
ist (wie ich behauptet habe); sondern nach dem soziologischen Buch
"Die Ordnung des Terrors" ist der "Traktat" ein notwendiger Wechsel
der Gattung, des Tons, des Codes: eine Selbstkonfrontation mit dem
schrecklichsten aller Gedanken, nämlich daß wir als Menschen
niemals sicher sein können, eine Alternative zu Gewalt zu haben.
Das ist im Medium des Gedankens die größte Nähe zum
Schmerz, der ohne Ausweg der Gewalt unterliegt. Für jemanden,
der keinen Erinnerungstext schreiben kann, sondern Wissenschaftler
der zweiten Generation ist, ist dieser Wechsel zu einer Textform,
die dicht am Literarischen operiert, vielleicht das Exerzitium, das
er erfüllen mußte, um Wissenschaftler zu bleiben zu können.
Der Aufsatz, den Sofsky über das Gemälde "Flandern" von
Otto Dix geschrieben hat (1998), spricht für diese Vermutung:
hier versenkt sich Sofsky so sorgfältig in das Gemälde,
daß gerade aus dieser Achtung vor dem Einzelnen und Unscheinbaren
eine politische Ethik unmittelbar entspringt. In jedem Fall ist ein
Wissenschaftstyp, wie wir ihn am Beispiel Rummels kennenlernten, unfähig
zur Wahrnehmung und Darstellung des leidenden Einzelnen und strukturell
unfähig zu einem solchen Selbstexperiment, wie es der "Traktat"
Sofskys darstellt. Die Zahl kann im besten Fall zu einer vernünftigen
Option verhelfen. Aber Vernunft ist kein hinreichendes Mittel gegen
Gewalt.
* * *
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