In: Timm Rautert: Gehäuse des Unsichtbaren; (Katalog des Ruhrland-Museums Essen) Essen 1992, S. 8893.
Hartmut Böhme Gehäuse des Unsichtbaren:Timm Rauters Fotografien der dritten Industriellen Revolution.
Erinnern wir uns an die Fotos aus dem heroischen Zeitalter des Automobil-Baus: Fords Epoche. Gigantische Fabrikations-Kathedralen, verwirrende Massen von Menschen, Material, Maschinen; auf den Bildern noch hörte man den Lärm, roch Öl, Metall, Farbe und Schweiß, atmete die stickige Luft und spürte die vibrierende Kraft von Mensch und Maschine. Die Bilder jetzt von VW, Opel und Daimler: das absolute Übergewicht der technischen Installationen; die Roboter; die nur noch für Experten entschlüsselbaren hyperkomplexen Maschinen; die Menschenleere; die Sauberkeit. Was gar nicht zu sehen ist: nicht das Fließband ist Regent des Ablaufs, sondern bis hin zu den Zulieferern hunderte von Kilometern entfernt wird der gesamte Prozeß von zentralen Rechnern gesteuert. Die Intelligenz des Werks findet ihren physiognomischen (darum fotografierbaren) Ausdruck nicht mehr in der gigantischen Symbiose von anorganischer Maschinerie und den organischen Körpern der Arbeiter. Sondern beides, Anorganisches und Organisches, sind die sichtbaren Prothesen des Immateriellen: des digitalen "Herzens" der Fabrik. Von ihm ausgehend werden Fleisch und Stahl, Hand und Roboter, Sinne und Sensoren, Glas, Plastik, Farbe, Gummi, aber auch Zeit, Raum und Bewegung homogenisiert auf einer imaginären Ebene - durch die in jeder Sekunde millionenfach ablaufenden 0/1-Operationen des Datenflusses. Oder erinnern wir uns an Bilder von alten Büros, wie wir sie aus Filmen kennen: überfüllter Schreibtisch, Berge von Schriftstücken, in denen Merkzeichen stecken, überquellender Aschenbecher, Aktenordner, Telefon, Füller und Bleistifte, Blätter, Bücher, Staub, der Lichtkegel der schwarzen Lampe auf einer winzigen, freien Schreibfläche, während ringsum alles in Chaos sich verläuft. - Jetzt sehen wir: die leere Fläche eines Tischs mit einem Großbildschirm, der den davor sitzenden Mann optisch zerschneidet. Seine Hand hält einen elektronischen Stift, der jeden Impuls auf den Bildschirm überträgt. - Ein Büro, helles Licht, weite glatte Flächen, große Tische, Rechner, Bildschirme, drei Männer. Sonst nichts. In dieser Sphäre des Algorithmus, die durch keine Kunst jemals 'physiognomisch' werden kann (gerade das wäre ihr Ausdruck), hier also werden die technischen Peripherien gesteuert, die wir auf den Fotos sehen, aber nicht erkennen: Automobilbau und Eisfabrik, Megachip-Forschung und Physiklabor, Lampenfabrik und Papierherstellung, Kaltwalzwerk und Devisenabteilung, Anlagenbau und Aidsforschung, Flugsimulatoren und Bombenfabrik, Intensivstation und Schlachthof. Marx hatte das Geld als die abstrakte Identität der heterogenen Ding- und Funktionswelten charakterisiert. Heute ist auch die Bewegung des Kapitals ein Datenabtausch zwischen Computern. Der Fotoblick auf das Kabelgewirr an der Rückseite eines Computerensembles im Händler-Raum einer westdeutschen Großbank ist der blinde Blick auf das Unsichtbare: nicht vorzustellen, noch weniger zu fotografieren, sondern allenfalls zu denken ist, daß in diesen Kabeln das 'Blut' unserer Gesellschaft fließt - die mathematisierten Informationen. Eingelöst ist längst, was Platon als Metaphysik nur behaupten konnte: das Wesen der Welt, ihre rationale Struktur besteht in Zahlenverhältnissen. Was wir aber sehen, ist doxa, trügende Erscheinung des Vielen und Heterogenen, das über die Wahrheit der Dinge keine Auskunft gibt. Denn Wahrheit ist ein Identisches und Homogenes, dasjenige, was seinem Wesen nach gleich bleibt und zugleich jede Materialisation determiniert. Und eben dies wird, jenseits aller Metaphysik, in der gegenwärtigen dritten industriellen Revolution zur Wirklichkeit. Alles, war wir mit Sinnen und organischer Intelligenz erfahren können, verkennt die wesentliche Identität des Verschiedenen auf der Ebene der immateriellen Zeichenoperationen. Längst ist jede Fabrik zur Höhle Platons geworden, jeder Rechner zur Sonne, von der aus in der Höhle jene Schatten erzeugt werden, die den armen Sinnen als Wirklichkeit erscheinen. So erhält der Rinderkörper an der automatischen Enthäutungsmaschine etwas ebenso Gespenstisches wie der Titanstahl im Tornado-Bau: beide sind Projektionen des immateriellen Lichts der Rechner auf die Ebene der Materie. Verräumlichungen Nachdem man zunehmend verständnislos über die Fotos von Timm Rautert geglitten ist, spürt man an einer Art Dankbarkeit, wie konservativ unsere Wahrnehmung organisiert ist. Denn in diesem Gleiten durch die ebenso lichten wie augenlosen Räume gewinnt der Blick einigen Halt an jenen gegenständlichen Spuren, die dem Wunsch nach Verständnis und Sinnzuweisung noch offen sind. Ja, es gibt noch das Imposante der Großtechnik, woran die Erinnerungen an den literarischen und filmischen Dokumentarismus sich knüpfen können, der die Gewaltförmigkeit der kapitalistischen Industrie zu ästhetischem Ausdruck brachte ("Akkord ist Mord"). Es gibt noch Bilder von gewaltigen Produktionsstraßen ("Der Arbeiter als Anhängsel der Maschine"). Es gibt das Foto eines Patienten in seiner Auslieferung an Heilungsmaschinen und das Symbolbild der Ratte im Versuchslabor, die das Opfer ihres Lebens für den Fortschritt zu bringen hat ("Kritik der inhumanen Apparatemedizin und der brutalen Tierversuche"). Es gibt noch das Foto von der Tötungsfabrik: der Schlachthof war der klassische Ort, wo einerseits die tayloristische Arbeitsteilung und Fließbandproduktion historisch erstmals erprobt wurde; und der Schlachthof war andererseits von Karl Marx über Upton Sinclair bis Bert Brecht der symbolische Topos des natur- und menschenfeindlichen Kapitalismus. Oder es gibt das Bild jüngerer Filmerinnerung: in einer futuristischen Orbitalstation steht ein Mensch im Raumanzug mit einem Meßgerät vor einer Maschinenwand (doch es ist weder 2001 -Odyssee im Weltraum noch Raumschiff Enterprise, sondern der Probelauf einer digitalen Telekommunikationszentrale für eine mittlere Stadt). Spätestens wenn das Foto eines Rechenzentrums den Blick freigibt durch ein Fenster und wir, dem schemenhaften Exterieur zum Trotz, dennoch erleichtert einen verteufelt normalen Wohnblock erkennen, Wetter und Jahreszeit -: spätestens dann wird bewußt, daß alle diese "kleinen Fluchten" zu Wahrnehmungs- und Symboltraditionen, zu Deutungskonventionen und Bilderinnerungen eben jener 'eingefleischten' Merk-Welt entsprechen, die im Verhältnis zur gegenwärtigen Technik antiquiert ist. Denn die Räume, die wir sehen, zeigen zweierlei: sie sind exklusive Interieurs so radikal wie ihnen eine absolute Desymbolisierung eignet. Und eben dies ist bestürzend, erregend und verwirrend. Denn die evolutionsgeschichtlich gebildete Form sinnlicher Welterschließung läuft dabei ebenso leer wie die in symbolischen Formen organisierte Mentalstruktur. Aber auch kulturelle, Weltbild und Subjektform stabilisierende Wahrnehmungsmuster wie die Zentralperspektive scheinen in diesen Räumen wirkungslos zu werden. Nur ausnahmsweise, in zwei Fällen, organisiert Rautert den Bildaufbau zentralperspektivisch. Und was gewöhnlich dabei gelingt, daß nämlich über das beherrschende Sehzentrum eine sichere Raumordnung und verständliche Sinnzuschreibungen entstehen: das hebt hier zwar an, aber bricht wieder ab. Denn der zentralperspektivische Raum ist sinnleer und deshalb bleiben wir als subjektives Zentrum außer Kraft. Und so entsteht in der Spannung zur überwiegend freundlichen Ästhetik des Lichts und der Farben eine sinnliche Irritation und ein mentales Erschrecken. Denn diese Ästhetik ist keineswegs freundlich, sondern glatt - sie versetzt den Betrachter, will er sich wie gewohnt in die Bilder versenken, in ein Gleiten, bei dem er sich selbst zu entgleiten droht. Und tatsächlich werden wir in diesen Räumen haltlos. Es sind absolute Räume, einem Design unterworfen, das dem Erfordernis von technischer Funktionalität und einer Hygiene-Obsession lückenlos entspricht. Dagegen ist die altmodische Sauberkeits-Neurose einer Hausfrau von spielerischer Harmlosigkeit. Das homogene Kunstlicht leuchtet die Räume derart vollständig aus, als befände das Licht sich auf der Jagd nach mikrobischen Übeltätern; oder als müßten Dinge und Menschen in jedem Augenblick ihre Staub- und Keimfreiheit vorweisen. Tageslicht wirkt in der inhomogenen Verteilung von Helligkeiten und Schatten, im unregelmäßigen Fluxus von Farb- und Lichttönen immer auch raumgliedernd und orientierend; und eben dadurch werden Räume 'lebendig' und 'physiognomisch'. Das gleichmäßige Gleißen in diesen technischen Inklusen dagegen ist abstrakt, raumlos, ortsungebunden, extraterrestrisch. Ein weiterer Faktor, der das Auge des Betrachters ausgleiten läßt, sind die schiefen perspektivischen Fluchtlinien der Fotos. Oft versetzt Timm Rautert Decken, Böden, Wände durch Untersicht und Weitwinkel in schräge Fluchten, die den Raum eigentümlich verkippen und verkanten, jedoch nirgendwohin führen. Der in dreidimensionalen Lage- und Abstandsbeziehungen arbeitende Augensinn wird seltsam verrückt. Man betritt hochorganisierte, klare und distinkte, also aufgeklärte Räume und wird dennoch von Desorientierung befallen. Jetzt bemerkt man, daß oben/unten, rechts/links, vorne/hinten keinen 'Sinn' mehr machen. Manche Bilder können auf den Kopf gestellt werden. Ob Menschen oder Maschinen von vorn oder von hinten fotografiert werden, ist gleichgültig. Vorder- und Rückseite erzählen gleich viel, nämlich nichts. Die ergonomische Konfiguration der Dinge zeigt nicht die Ordnung leiblicher Sinnlichkeit; sondern umgekehrt wird diese technomorph durch jene umgestaltet. Alles ist auf serielle Unendlichkeit zugeschnitten und deswegen nicht identifizierbar. Die Wiederholung als innere Form der Räume tötet die Differenz, über die jene sich unseren Sinnen erschließen könnten. So gerät man in das Gefühl einer Räumlichkeit, die 'nicht von dieser Welt' ist. Auf manchen Bildern scheint selbst die Gravitation aufgehoben. In diesen hyperrealen Inklusen, so rational sie sind, beginnt man gleichwohl leicht zu schwindeln. Auf anderen Fotos verfängt sich der Blick in den Gewirren von Gestängen, Gittern, Leitungen, Zuführungen, Hydrauliken, Robotern, Aggregaten. Kaum ist die Produktionsmaschine von der produzierten Maschine unterscheidbar. Ist dies schon ein Teil des Tornados oder eine Maschine, die diesen herstellt? Ist dies ein Stück Auto oder gehört es noch zum Apparat, der Autos baut? Dieser Eindruck wird gelegentlich auch durch die Unschärfe des Objektivs erzeugt, so, als könne auch die Kamera nichts mehr 'objektiv' ordnen. In äußerster Klarheit beginnt alles zu verschwimmen, zu schweben, zu flüchten. Oder: es scheint, als fände in den Fluchtlinien, die nirgendwohin führen, ein Fluchtimpuls seinen Ausdruck, nicht aber Ausgang. Im total Exklusiven der Räume gibt es für die Sinne weder Rückzug noch Aufnahme, kein Hinein und kein Heraus, sondern nur dieses seltsam schwerelose Gefühl raumlosen Eingeschlossenseins. Und so entsteht für das Auge eine befremdliche Mischung von Klaustrophobie und Agoraphobie, eine Beklemmung von Leere und Enge in einem. Denn so erfüllt ein Raum ist, so leer wirkt er; und so leer er sein mag, er wirkt eng. Eine unbekannte Angst entsteht, die nicht schmerzt, nicht panisch macht, kein Wovor? erkennt und kein Wohin? sucht, sondern vage und schwebend, dünn und hauchig ist, überklar beleuchtet und doch rätselhaft, unbestimmt und abstrakt. Wir sind, mitten in Deutschland, in einem Ausland, das in einer solchen Entfernung zur geschichtlichen Welt steht wie niemals zuvor ein fremdes Land zur eigenen Kultur. Es ist jene Sphäre, worin wir restlos zur organischen Prothese der artifiziellen Intelligenz der Maschinen werden müssen (Marie-Anne Berr) - oder eben in eine leere Zurückgewiesenheit und diffuse Preisgabe geraten, die uns über die Antiquiertheit unserer Sinne und unseres geschichtlichen Geistes belehren. Die Schönheit dieser Fotos zeigt die Technik in einer Art schmerzlosen Schmerz, den sie unseren Sinnen antut. Zermenschlichungen Die Weise, wie Menschen auf diesen Fotos erscheinen, verrät etwas davon, welcher Status ihnen nach Rauterts Auffassung in dieser Welt der High-Tech zukommt: sie sind peripher. Oft werden sie von Maschinen und Gerät abgeschnitten, verstellt, durchkreuzt. Ihre Körper-Silhouetten sind unscharf und verwischt. Die Gesichter sind zugleich von regungslosem und konzentriertem Ernst. Schutzanzüge machen die Körper uniform und geschlechtslos. Identität ist allenfalls durch den Namenszug auf dem Overall auszumachen. Timm Rautert verweigert sich gänzlich dem Genre des Porträts. Dieses zeigt Menschen in ihrer physiognomischen Einzigkeit, ihrer besonderen Zeichnung, dem geprägten Ausdruck. Hier aber, so scheint es, ist niemand In-Dividuum (das Ungeteilte), sondern gesichtslos Allgemeines, restlos aufgegangen in Funktion. Es ist, als seien die Menschen auf Augen und Hände reduziert: Daten ablesen und eingeben, feinmotorische technische Operationen ausführen und kontrollieren. Augen und Hände: die 'gehirnnahen' Organe, sie allein, scheint es, sind noch zugelassen in dieser "schönen neuen Welt" der jüngsten Maschinen. Seltsamer Eindruck, wenn aus schneeweißen Schutzanzügen Hände aus Fleisch ragen oder Augen aus Gesichtsmasken schauen. Offensichtlich ist ein zunehmender Bevölkerungsteil bei uns freiwillig oder gezwungen bereit, sich tagtäglich durchgreifenden Strategien der Depersonalisation zu unterwerfen. Wie, mag man sich fragen, ist der Übergang möglich von diesen Augen, die Datenlese-Instrumente sind, zu den Augen, die in Liebe und Zorn "Fenster der Seele" waren, wie es früher einmal hieß? Gibt es für diese Hände in den transparenten Schutzhandschuhen noch die Metamorphose ins wütende Ballen oder zarte Streicheln? - Gewiß, die Hände und Augen hier müssen ein Höchstmaß von Konzentration und feiner Reaktion aufbringen. Aber ist mit diesen Begriffen noch das gemeint, was wir uns sonst, in der Welt der Menschen, darunter vorstellen? Oder sind Sensibilität, konzentrierte Ruhe, fein abgestimmtes Bewegen nicht zu Mustern geworden, die Komplemente der Maschine sind, bis ins letzte von dieser geprägt, in Form und Inhalt? Diese Fotos lassen den Menschen als Fleisch, als sinnlichen Leib verschwinden, unglaubhaft und befremdlich werden. Denn das ist ein bezwingender Eindruck: der Leib wird in den Räumen der High-Tech neutralisiert. Gewiß, immer noch gibt es in dieser Welt die Schutzmaßnahmen, die es seit eh und je in Fabriken gab, wo Maschinen Menschen verletzen können. Und doch hat hier eine Umkehrung stattgefunden. Nicht der Mensch muß vor den Maschinen, die Maschien müssen vor den Menschen geschützt werden. Denn der Mensch ist: Schmutz. Seine Haare, sein Atem, sein Schweiß, die Feuchtigkeit der Hände, seine Bakterien sind längst nicht mehr nur in den Operationssälen der Kliniken, sondern ebenfalls in den 'sensiblen' Zonen der High-Tech-Industrie ein gefährlicher Faktor. Das Foto von der Schleuse zu den sog. Reinräumen zeigt, in Reihen aufgehängt, die 'zweiten Häute', in die heute sich jeder hüllen muß, der im Allerheiligsten der Forschungs- oder Produktionslabors arbeitet. Früher, bei den Übertritten in traditionelle 'totale Institutionen' (Klöster, Gefängnisse, Kliniken, Militär), hatten Menschen sich den Insignien ihrer sozialen und biographischen Herkunft zu entledigen - das waren ausgeklügelte Rituale der Identitätsauslöschung. Heute müssen in Reinraum-Einrichtungen die Techniker, Wissenschaftler, Arbeiter Zeremonien ihres Verschwindens durchlaufen. Der geschichtliche Organismus des Menschen fällt unter totalen Verdacht. Das Organische muß minimiert und als Gefahrenquelle ausgeschaltet werden. Dazu bedarf es totaler Kontrollmechanismen, welche die Maschinen vor den Menschen schützen. Nicht vor ihrem Widerstand und ihrer Subversivität (das war die klassische Angst des Unternehmers bei der Ersten industriellen Revolution), sondern vor dem biologischen Substrat der Menschen muß die High-Tech-Industrie abgeschirmt werden. Was an Natur erinnert, ist gefährlich. Darum die absolute Artifizialität der Räume, die selbst das Tageslicht und die Freiluft ausschließen. Die empfindlichen Maschinen erfordern Kunstlicht, Kunstklima, Kunstkörper. Die Raffinesse, mit der in Labors noch die Spurenelemente der Natur kontrolliert werden, übertrifft die Hygiene-Einrichtungen hochmoderner Kliniken bei weitem. Der Mensch, sagen diese Bilder, baut technische Environments von solcher Empfindlichkeit, daß er selbst, als Subjekt dieser Technik, sich als Lebewesen, das er gleichwohl ist, abzuschaffen hat. Hat er den rituellen Ausschluß seines Leibes durchlaufen, bleiben drei biologisch fundierte Vermögen übrig, die, technomorph umgeformt, in dieser Welt noch wirksam werden dürfen: das ist die formal-operative Intelligenz des Gehirns sowie die Augen und die Hände als Interface zwischen Maschine und Gehirn. Die energetische Ökonomie des Leibes (seine Antriebe und Motive, seine Frische und Müdigkeit) hat sich nun vollständig in den Dienst des maschinalen Ablaufs gestellt. Insbesondere dort, wo der Computer das Zentrum des Produktions- oder Forschungsprozesses bildet, ist die biologische Energie des Menschen dem Arbeitsvorgang so gleichgültig wie der Strom dem Rechner: notwenig, aber bedeutungslos. Innerhalb der modernen Mensch-Maschine-Symbiose ist das Leibliche des Menschen vollständig zur organischen Prothese des Anorganischen geworden. Vier Frauen, paarweise gegenüber, in einer Computer-Fertigung; Ganzkörperschutzanzüge; Gummifinger; Mundschutz. Alle sehen in optoelektronische Geräte, denn was sie montieren, liegt unterhalb des Wahrnehmbaren. Sich selbst könnten sie nur anblicken, wenn sie die Arbeit unterbrechen würden. Gruppenarbeit unter Ausschluß der Menschen. Hier wie auf anderen Bildern wird deutlich: viele Arbeitsvorgänge sind so kleinräumlich, daß das Auge komplizierter optischer Prothesen bedarf, um die Vorgänge im minimalisierten Arbeitsfeld überhaupt erkennen zu können. Daran wird die generelle Entwertung der Sinne in High-Tech-Labors und -Fabriken erkennbar. So wenig wir auf den Bildern zu sehen vermögen, was hergestellt oder erforscht wird - Bomben oder Eis, der Mega-Chip oder Geldgeschäfte, plasmaphysikalische Prozesse oder eine Telekommunikationszentrale, der Tornado oder eine Chemieanlage -, so wenig können die Beteiligten aus dem, was sie sehen, auch erkennen, was sie tun. Selbst der einzig noch zugelassene Sinn, das Auge, oder manchmal, bei feinmotorischen Handarbeiten, der Tastsinn (das "Fingerspitzengefühl", das so schwer anorganisch zu substituieren ist) -, selbst Hand und Auge erschließen diese Welt nicht. Das Erscheinende ist nicht das Entscheidende, weil alle wichtigen Vorgänge sich ins Unsichtbare, ins Subluminale, wenn nicht ins Immaterielle verlagert haben. Die sinnlich zugänglichen Ding-Konfigurationen bilden eine Oberfläche, deren Informationsgehalt gegen Null tendiert. Die Ununterscheidbarkeit der Tätigkeiten und Menschen, die derart sich dem Betrachter aufdrängt, ist ebenso phantastisch wie unheimlich. Ohne daß Antworten gegeben werden, sieht man sich durch die Fotos vor die heute vielleicht entscheidende Frage gestellt, ob wir oder wenigstens irgendeine wissenschaftliche Elite noch Herr über das ist, was technisch realisiert wird. Oder ob wir bereits der Abdankung des Menschen zugunsten desjenigen beiwohnen, was er, dieser ungeheure inventor und secundus deus, auf der Fluchtlinie des prometheischen Impulses ins Werk setzt. Halten wir, wenn schon nicht leiblich-sinnlich, so wenigstens mental den Schöpfungen der Intelligenz stand? Oder sehen wir uns, wie Günther Anders annimmt, auch intellektuell von den Artefakten und telematischen Maschinen beschämt und marginalisiert? Auf den Fotos zeigen die Menschen etwas seltsam zur Seite Gerücktes, Beiläufiges und Schemenhaftes, als seien sie schon entrückt in eine intermediäre Sphäre jenseits des unzulänglichen Fleisches, das wir, der Bibel nach, der Erde zurückzugeben haben, aber offensichtlich nunmehr schon zu Lebzeiten abtreten an die Welt der technischen Objekte. Tatsächlich entwickelt die Kamera Timm Rauterts eine sensible Aufmerksamkeit für den ungewissen Verbleib des Menschen in den technischen Environments. Auffällig sind die mannigfachen kleinen Deplazierungen. Sie meinen fast immer das 'Menschliche', so, als sei dieses selbst schon deplaziert. Bestürzend unvermittelt liegt da eine Zahnbürste auf einem hypertechnischen Arbeitsplatz. Beruhigt wie von etwas liebenswürdig Altmodischem erkennt man einen Blaumann auf der Leiter. Rührend hilflos das ungelenke Folklore-Bild, hervorsehend zwischen den Maschinen einer automatischen Fabrikationsstraße. Auf einem Schreibtisch zwei Brillen, wie eben abgelegt. Die beschuhten Füße eines unerkennbaren Mannes: bequeme Gesundheitssandalen. Die Hand einer Frau zwischen ihren Schenkeln, während sie, eine unberührbare Schöne zwischen lauter Computern, in den Bildschirm blickt. Befriedigt erkennt man Aktenordner wie Antiquitäten inmitten modernsten Geräts. Ein Feuerlöscher wirkt genauso als Zeichen aus der 'Alten Welt' wie das Schild: Rauchen verboten! (Wer käme denn darauf?). Auf merkwürdige Art wirken die Geräte alter Technik 'menschlich'. - Eine architektural perfekte, mehrstöckige Maschinenhalle: durch die Zentralperspektive, die vollkommen symmetrische Raumordnung und eine Art erhabene Menschenlosigkeit erhält sie sofort etwas Sakrales, so daß man erst spät am äußersten Bildrand erkennt: ein Mann telefoniert - aus einer jener alltagsvertrauten Telefonmuscheln. Und dann das einzige Mal auf diesen Fotos blickt ein Mensch uns an: umschlossen von einer gewaltigen Maschineninstallation wendet eine Frau ihre Augen, wie herausgeklemmt aus der vom Arbeitsvorgang diktierten Blickrichtung, dem Fotografen zu, mit der ernsten Ausdruckslosigkeit des Rilkeschen Panthers hinter den Gittern eines Käfigs im Jardin de Luxembourg. Ecce Home des High-Tech-Zeitalters? Dieses Foto, in der Reihe der anderen, wirkt wie eine Katharsis, eine Reinigung und Entschleierung des eigenen Blicks. Denn nun erkennt man, wie oft auf diesen Fotos die Menschen 'vergittert' sind. Zwei Männer, deren Körper durch die Linien eines Gestänges zerschnitten werden. Arbeiter, die an einer Produktionsstraße - aus Gefährdungsgründen - hinter Gitter kommen (in Schutzhaft gleichsam). Immer wieder amputiert die Kamera Gliedmaßen, zerstückelt Körper, schneidet Köpfe ab, halbiert Gesichter, wischt ihre Identität aus, demütigt den einzigen Menschen, der in maushaft huschender Winzigkeit zwischen den ragenden Maschinen am Grund einer gigantischen Fabrikationshalle erscheint. Immer wieder pointiert die Kamera die Isolation der beziehungslosen, zumeist in abgekehrter Haltung erscheinenden Männer oder Frauen (das ist beliebig). Im Reinraum einer Computerfabrik: aus der Untersicht fixiert die Kamera ein geschlechtsloses, in reines Weiß kokoniertes Wesen, Augen im Nirgendwo, durch den Mundschutz in ein drahtloses Telefon sprechend: kann Kommunikation jemals noch mehr als Datenaustausch sein? Die reinen Farben, glatten Flächen, cleanen Räume, präzisen Ordnungen, rationalen Environments, die Ästhetik der vollendet artifiziellen Interieurs, von denen die Kamera fasziniert ist, lassen zunächst übersehen, daß der Fotograf auf der Spur einer subtilen Gewalt ist, welche - vielleicht - die Menschen zu mutierten Insassen der objektiv gewordenen Intelligenz der Maschinen verflüchtigt. Gibt es ein Pathos dieser Fotos? Vielleicht dies: die phantastische Schönheit dieser Fotos gehört der Ästhetik einer Technik an, die nichts mehr preisgibt. Was die Bilder offenlegen ist gerade, daß die technischen Dinge sich verschließen. Die Fotos sind wie das Rauschen der Medien. Mit Kalkül gibt Timm Rautert uns dauernd etwas zu sehen, was nichts mehr mitteilt. Die Bilder zeigen sich, aber nicht mehr etwas. Das Höchstmaß an (rationaler) Bestimmtheit der Geräte und Installationen entspricht umgekehrt der vagen Unbestimmtheit der Dinge als sinnlichen Erscheinungen. Es herrscht eine wunderbare Klarheit und Helligkeit, doch alles bleibt gleichwohl opak und undurchdringlich. Das äußerste Licht in dieser technisch aufgeklärten Welt macht den Betrachter blind, weil er nichts erkennt. Je transparenter eine optische Ordnung scheint, umso stärker wird der Verstehenswunsch des Betrachters zurückgewiesen und sein Blick gleitet an den Dingen ab. Die absolute rationale Ordnung wird zum Enigma, weil sie um nichts mehr mit den Sinnen zu verbinden ist. Fotos sind "belichtete Welt" (B. Busch). Dem Kamera-Objektiv aber bleibt äußerlich, was es ins Innere aufnimmt, um die Lichtspuren der Dinge auf dem Film zu fixieren. Und dieses Fremdbleiben der älteren gegenüber der neuesten Technik gibt Timm Rautert an den Betrachter weiter, dem dadurch eben jene Verflüchtigung und Marginalisierung widerfährt, welche die Menschen auf den Bildern charakterisiert. Gegenüber der Hyperrealität des Unwahrnehmbaren wird Fleisch und Blut zum 'spectre', zur gespenstisch ephemeren Erscheinung. Und derart wird das gleichsam negative Pathos der Fotos greifbar: was nicht zu sehen ist, das will Rautert zeigen, indem er zeigt, daß nichts zu sehen ist, soviel wir auch erblicken. Allegorisierung Wo Bildkünste ihre Botschaft vor allem durch szenische Komposition und physiognomischen Ausdruck mitteilen, sind sie daran gebunden, daß der Sinn in die Sinne fällt. Anderenfalls sind es Denkbilder. Die Fotos Timm Rauterts zeigen derart einen Zug zur Allegorie. Weniger durch unmittelbare Anschauung als dadurch, daß diese am Angeschauten, den technischen Environments, scheitert, teilen sie etwas mit. Die Tendenz zur Immaterialität in der gegenwärtigen Technik ist für alle Bildkünste eine schier unlösbare Herausforderung. Wohl kann man mithilfe der Neuen Technik selbst Bilder erzeugen - das zeigen die Computer-Künste ebenso wie die Spektakel der computeranimierten Mathematik. Doch die Technik selbst ins Bild zu bringen, ist unmöglich. Die Kunst der Moderne, und nicht nur die Literatur und die Malerei, sondern auch der Film und die Fotografie, waren aber dadurch gekennzeichnet, daß sie ihre ästhetischen Verfahren, ihre Materien und ihre Medialität reflexiv ins Werk selbst einholten. Wie aber soll eine wesentlich unsichtbare Technik an ihren Peripherien, die den Bildkünsten allenfalls zugänglich sind, eine solche Reflexivität noch aufweisen können? Die Fotos Timm Rauterts demonstrieren dafür eine Möglichkeit: die Allegorisierung. Die Fotos erschöpfen sich nicht in ihrer Anschaubarkeit, sondern indem sie diese ratlos machen, werden sie zu Denk-Bildern. Weil die erscheinende Oberfläche der technischen Räume jede Sinngebung radikal von sich abweist, werden Anschauung und Reflexion aufs äußerste auseinander getrieben. So hat der Betrachter eine Reflexionsbewegung zu vollziehen, die angesichts dieser Technik nicht mehr zur ästhetischen Gestalt werden kann. Die Entsinnlichung und Desymbolisierung der technischen Räume treiben in der Negativität ihrer ästhetischen Erscheinung hervor, wohin diese Bilder in ihrer Sprachlosigkeit wollen: das leichte Taumeln unseres überforderten Vorstellungsvermögens ist gerade, weil es leer bleibt, dem Nachdenken günstig. Die Fotos sind nicht Reflexion der Technik, sondern ein bildliches Dispositiv der Reflexion auf die Technik. Sie verweigern sich, wozu die Fotografie immer neigte: der Realitätsfiktion. Sie sind deswegen eher Embleme als Abbildungen. Sie geben nicht das Reale preis, sondern das Fiktive der Realität. Darum wird - und das ist für die Bildkunst eine Grenze ihrer selbst - das Vertrauen in die Sinne ebenso gebrochen wie in die Kamera selbst, die das Medium erscheinender Wahrheit zu sein nicht länger beansprucht. Die Beschämung, welche die alte Technik der Kamera angesichts der High-Tech-Konfigurationen erfährt, ist eine genaue Entsprechung zur Beschämung, die das unzulängliche Lebewesen Mensch durch die hyperperfekten und makellosen Maschinerien heute erlebt. So werden Fleisch und Kamera, Mensch und alte Technik zu Verbündeten - und zum Stachel des Denkens, das, vielleicht mit dem Rücken zur Zukunft, angesichts der verselbständigten anorganischen Intelligenz der Maschinen um Selbsterhaltung ringt.
Weiterführende Literatur Marie-Anne Berr: Technik und Körper. Berlin 1990. Bernd Busch: Belichtete Welt. Eine Wahrnehmungsgeschichte der Fotografie. München 1990. Alexander Krafft/ Günther Ortmann (Hg.): Computer und Psyche. Angstlust am Computer. Frankfurt/M. 1988. Detlev Langenegger: Gesamtdeutungen moderner Technik. Moscovici - Ropohl - Ellul - Heidegger. Würzburg 1990. Florian Rötzer (Hg.): Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien. Frankfurt/M. 1991.
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