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DFG-Forschungsschwerpunkt
„Theatralität. Theorien und Paradigmen kulturwissenschaftlicher Forschung“ ( Hartmut Böhme, Fiebach, Friedrich Kittler)
„Theatralität. Theater als kulturelles Modell in den Kulturwissenschaften“

Es besteht weitgehend Konsens, daß sich das Selbstverständnis einer Kultur außerhalb Europas/Nordamerikas nicht nur in Texten und Monumenten formuliert, sondern auch zum Teil sogar vorrangig - in theatralen Prozessen. In Ritualen, Zeremonien, Festen, Spielen, Wettkämpfen, Liedvorträgen u.ä. stellt eine Kultur ihr Selbstverständnis vor ihren Mitgliedern und anderen dar und aus. In der europäischen Kultur dagegen wird nach der bis heute in den Kulturwissenschaften vorherrschenden Meinung diese Funktion von Texten und Monumenten erfüllt, die daher auch den Gegenstand ihrer Forschung bilden.
Diese Überzeugung vom besonderen Charakter der europäischen Kultur wird durch neuere Entwicklungen - sowohl in unserer Kultur als auch in den Kulturwissenschaften erschüttert. Unsere Gegenwartskultur konstituiert und formuliert sich zunehmend nicht mehr in Werken, sondern in theatralen Prozessen der Inszenierung und Darstellung, die häufig erst durch die Medien zu kulturellen Ereignissen werden. Zudem haben einzelne kulturwissenschaftliche Forschungen der letzten Jahre zu Festen, politischen Zeremonien, Straf- und Begräbnisritualen, Spielen, Balladenvortrag, Geschichtenerzählen, Konzerten u.ä. in der europäischen Kulturgeschichte nachgewiesen, daß sie im jeweiligen Einzelfall eine ähnlich wichtige Funktion zu erfüllen hatten, wie Ethnologen sie für orale Kulturen ermittelt haben.
Damit erhebt sich die Frage, ob die europäische Kultur sich tatsächlich in dieser Hinsicht so grundsätzlich von anderen Kulturen unterscheidet. Der Forschungsschwerpunkt soll diese Frage klären, indem er theatrale Prozesse in der europäischen Kultur vom Mittelalter bis zur Gegenwart im Hinblick auf ihre jeweilige Funktion und Bedeutung untersucht. Dabei sollen vier Aspekte von Theatralität richtungsweisend sein, welche die einschlägige Forschung als grundlegend hervorhebt: (I) Performance, (2) Inszenierung, (3) Korporalität, (4) Wahrnehnmung.

Da die Kulturwissenschaften bisher Texte und Monumente privilegiert haben, vermochte eine mögliche Bedeutung theatraler Prozesse innerhalb der europäischen Kulturgeschichte kaum in ihr Blickfeld zu treten. Daher wird zugleich eine Schwerpunktverlagerung in den Kulturwissenschaften angestrebt. Sie wird erstens als ein Wechsel der Gegenstände - von Monumenten und Texten hin zu theatralen Prozessen - projektiert und zweitens als ein Wechsel der Forschungsstrategien. Denn die Erforschung theatraler Prozesse sprengt die Grenzen der einzelnen kulturwissenschaftlichen Fächer, die in ihrer Mehrzahl durch je spezifische Arten von Texten und Monumenten definiert sind. Mit dem geplanten Schwerpunktprogramm sollen daher zugleich neue Formen einer inter- bzw. transdisziplinären Zusammenarbeit entwickelt und erprobt werden. Als gemeinsames kulturelles Modell, auf das sich die Vertreter der verschiedenen beteiligten Geistes- und Sozialwissenschaften bei ihren Forschungen beziehen werden, soll das Theater fungieren. Da erwartet wird, daß diese Art einer interdisziplinären Kooperation neue Perspektiven für kürnftige kulturwissenschaftliche Forschung eröffnet, ist das geplante Schwerpunktprogramm durchaus auch als eine Art kulturwissenschaftlichen "Pilotprojektes" mit Modellcharakter intendiert.



11.06.2004