zurück

Birgit Pungs: Dissertation:
Vegetarismus.

Gemeinhin konnotiert der Begriff Vegetarismus den Versuch, Gewalt zu vermeiden – hinsichtlich der Tötung und des Verzehrs von Tieren. Was häufig nicht mit Vegetarismus assoziiert wird, sind sozialer Protest und – damit einhergehend – eine zunächst paradox anmutende Bereitschaft zu Gewalt. Im Rahmen des hier vorgestellten Dissertationsprojekts soll ausgeführt werden, dass diese paradoxale Struktur des Phänomens Vegetarismus ein diesen Essstil essentiell konstituierendes Moment darstellt. Es geht dabei keineswegs um die Ausblendung der gemeinhin bekannten Facetten rein pflanzlicher Ernährung, sondern um die ambivalente Mission „der Vegetarier“, unter einem Blickwinkel, der in der bisherigen Forschung, wie ich meine, zu kurz gekommen ist. Was in den meisten bisherigen Darstellungen zum Vegetarismus häufig nur als Marginalie in Erscheinung tritt, ist die sozialpolitische Dimension dieses partiellen Nahrungsverzichts. So unternimmt diese Studie den Versuch, das traditionelle Bild des Vegetarismus, das stark ethisch gefärbt ist, zu zerstreuen, um von einem außermoralischen Standpunkt aus die double-bind-Struktur dieses Phänomens aufzuzeigen. Dazu werden sowohl soziologische und philosophische als auch kulturhistorische, religionswissenschaftliche, mythologische und psychoanalytische Spuren verfolgt. Diese Analyse des Phänomens Vegetarismus richtet also ihr Hauptinteresse auf den ambivalenten Zusammenhang von partiellem Nahrungsverbot und gesellschaftlicher Realität, insofern diese durch die Ablehnung von Fleisch unterminiert werden soll.Seit der Antike wurde sozialer Protest gegen die bestehende gesellschaftliche Hierarchie „oftmals durch die Weigerung, den sozial zugewiesenen Essstil zu praktizieren, und durch die kulturelle Abwertung der herrschaftlichen Küche artikuliert.“ Der Verweigerungsgestus Vegetarismus intendiert somit von vornherein Kritik an der durch eine bestimmte Gesellschaftsordnung legitimierten Auffassung von gerechter (Nahrungs-)Verteilung. Von dieser Prämisse ausgehend soll der Verzicht auf Fleisch als Zeichen eines negierenden politischen Protests gedeutet werden, der den durch ihn kritisierten Ausgangspunkt einer positionierten staatlichen Herrschaftsordnung ipso facto konterkariert, aber im selben Zug dem kritisierten Ausgangspunkt selbst dient. Als Verweigerungsgebaren würde sich Vegetarismus dann – was zu prüfen ist – sogar nicht nur als Umkehrung, sondern als Überbietung der verworfenen Herrschaftsverhältnisse (des jeweiligen politischen Systems) offenbaren, und somit als Potenzierung einer ohnehin bestehenden Übermacht erweisen.Folgende Diskurspositionen werden zur Überprüfung dieser These befragt: der religiös-philosophisch-politische Bund der Pythagoreer,das Christentum, unddie Monte-Verità-Bewegung.1. Vegetarismus, Naturbeherrschung und Politik: die PythagoreerDer philosophisch-politische Bund der Pythagoreer, der von etwa 530 v. Chr. bis mindestens in die Zeit Platons hinein in Unteritalien (magna graecia) wirkte, und dessen Denken auch danach bis in die Spätantike und darüber hinaus einen bedeutenden kulturellen Einfluss ausübte, ist nicht allein deshalb für diese Vegetarismusanalyse maßgebend, da hier (im europäischen Kulturkreis) zum ersten Mal Vegetarier auf die kulturelle Bühne treten. Sondern zum einen wird in einer Analyse dieser Bewegung die oben schon angesprochene Verbindung von Ernährungs- und Staatsordnung deutlich, zum anderen lassen sich hier Verbindungen zur technischen Naturbeherrschung und zu religiös-philosophischen Vorstellungen ziehen. Die Pythagoreer haben nämlich durch äußerste Betonung der symbolischen Technik der Mathematik ein technisches Denken (und eine technische Praxis) inauguriert, und gleichzeitig in ihrer Seelenwanderungslehre die Vorstellung einer persönlichen und schließlich unsterblichen Seele in der abendländischen Kultur herauskristallisiert.Detienne und Vernant haben aufgezeigt, dass der pythagoreische Protest sich gegen die heilig-schuldigen Tieropfer richtet, die den griechischen Stadtstaat begründen. Im Vegetarismus verweigern sich die Pythagoreer der Anerkennung der kulturstiftenden Schuld, womit sie gleichzeitig die strikte Differenz zwischen unsterblichen Göttern und sterblichen Menschen in Frage stellen. Statt dessen proklamieren sie die Rückkehr in ein imaginiertes goldenes Zeitalter vor der Kultur, und im direkteren Umgang mit den Göttern nachgerade ein Gott-Werden der Sterblichen. Es soll anhand von Heideggers Technikdenken und Freuds Todestriebtheorie herausgearbeitet werden, wie sich dieser rückwärtsgewandte Gestus nicht nur aufs Beste mit technischer Naturbeherrschung verträgt, sondern geradezu für diese konstitutiv ist. Nicht nur Kriegspolitik und Kriegstechnik der Pythagoreer sollen in diesen Zusammenhang gestellt werden, sondern auch und vor allem ihr Denken. Vegetarismus wird als Teil eines Systems von Praktiken interpretiert, die Leute dazu gelangen lassen, sich als beseelte Lebewesen zu begreifen. Der Platonismus, der viel Pythagoreisches weiterführt, wird dies dann mit einer radikalen Abwertung des als Gegenteil gesetzten Körperlichen verbinden. Schließlich soll gezeigt werden, welche Spannungen sich in dem pythagoreischen Zentraltheorem der arithmetisch geordneten Harmonie des Kosmos verbergen. 2. Gott-Essen und Auferstehung des Fleisches: das Christentum Wenn mit Nietzsche und Freud das Christentum gegenüber der antiken Askese eine weitere Schraubendrehung des Kulturprozesses darstellt, so auch deshalb, weil das Problem des Fleisches hier in neuer Radikalität gestellt wird. Zwar werden Tier und Mensch durch die Gottesebenbildlichkeit des Menschen getrennt, und Tiere und Fleisch werden allgemein als Symbole für Begierden genommen, die der Christ nicht mehr nur kontrollieren, sondern „ertöten“ soll. Aber das göttliche Wort selbst wird Fleisch, und im christlichen Abendmahl wird Gott als „wahres Opferlamm“ gegessen, um die sündige Menschheit von ihrer Schuld zu erlösen. Umgekehrt vergleichen dann die Kirchenväter das Essen des Lammes der Lektüre der Heiligen Schrift. Wie pythagoreischer Vegetarismus vom christlichen Fasten überboten wird (obwohl Fleischenthaltung als „mildere Variante“ eine Rolle spielt), so die pythagoreische Affirmation von Ehe und Fortpflanzung durch die von Jungfräulichkeit und Zölibat. Die Fleischwerdung des heiligen Geistes in der Jungfrau Maria verkehrt sich in der Auferstehung Jesu, die Lukas mit seiner Geburt parallelisiert. An die Stelle der Vorstellungen der Unsterblichkeit einer vom Körper unabhängigen Seele und der Seelenwanderung tritt die der Auferstehung des Fleisches, in der dieses seinen „fleischlichen“ Charakter verliert und völlig vergeistigt erscheint: ein ewiges Leben, das kein Leben mehr sein kann, da es kein Begehren mehr kennt. Diesen Fäden soll nachgegangen werden, wobei der Kontrast von pythagoreischer Opferablehnung und christlicher Überaffirmation des Opfers (Gottesopfer) einen Ausgangspunkt bilden wird, ebenso die verschiedenen Modi einer Gottesanmaßung in beiden Positionen.3. Pflanze-Werden, Vegetarismus und moderner Demeterkult: der Monte VeritàAls letztes wird eine dissidente Diskursposition aus der Moderne befragt: die vegetarische Lebensreformbewegung, die sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auf dem Tessiner Monte Verità (Berg der Wahrheit) angesiedelt hatte. Als Teil eines allgemeinen Pflanze-Werdens dient Vegetarismus hier einer Identifikation mit der Pflanzenwelt, die auch im Überhandnehmen von Pflanzenmotiven im Jugendstil in Erscheinung tritt. Ascona wurde außerdem zum zentralen Kultort der „Mutter Erde“, oder zum Ort „tellurischer Theophanie“, an dem sich die Jünger dieser Gottheit – die Vegetarier – trafen, um der neuen Demeter zu huldigen. Archaische Purifikationsmythen koexistieren mit modernen Sozialutopien (Kommunegedanken und Anarchismus). Was hat es mit der von den Monteveritanern behaupteten Befreiung der Sinnlichkeit auf sich, die sich in Freikörperkulturbräuchen niederschlägt? Es kann vermutet werden, dass sie die Funktion hat, den verdinglichten Körper als „lebendig“ zu empfinden. Von hier aus soll – eine Notiz Benjamins aufgreifend, in der er den Jugendstil als „Auseinandersetzung mit der Technik“ interpretiert – die Frage nach der Beziehung dieser Lebensreformer zur modernen Technik gestellt werden, natürlich ohne ihre Proklamationen für abschließende Antworten zu nehmen. Aufbau des ForschungsprojektsIm obigen Gang durch die drei Diskurspositionen in ihrer historischen Abfolge haben sich Motive abgezeichnet, die in drei Hauptteilen systematisch untersucht werden sollen:Oikos: Ursprungslogik,Ökonomie: Signifikanten der Pflanzenkost,Ökologische Ernährungspolitik: Wolf im Schafspelz.Das Oikos-Kapitel wendet sich der Frage nach dem (imaginären) Ursprung, dem natürlichen Urzustand, dem mütterlichen Prinzip und der matriarchalen Grundlage zu. Wir werden zunächst die Beziehung der Pythagoreer zur Demeterreligion, dann das Dogma der Jungfräulichkeit im Christentum, und schließlich das Wiederauftauchen des Kultes der Mutter Erde bei den Monteveritanern untersuchen. Auf dieser Basis soll die Kernthese dieses Kapitels angedeutet werden: Vegetarismus kann als Rückkehrbewegung zu einem ursprünglicheren Zustand ausgelegt werden. Dieser Urzustand wird in der Antike durch das Goldene Zeitalter, im Alten Testament durch das Paradies und in der politischen Utopie der Lebensreformer durch die matriarchale Ordnung vertreten.Der Ökonomie-Teil macht die Verbindung von Zahlen/Zählen zu Vegetarismus auf. Man könnte auch fragen: Was haben Signifikanten (Zahlen und Buchstaben) mit Fleisch zu tun? Im Anschluss an die vorangegangene These, die Pythagoreer seien erste Techniker, soll nun das Problem von Abkoppelung, Entzweiung, Differenzierung und daran anschließend der Bereich der Oralität erschlossen werden. Bezüglich des Christentums umfasst diese Fragestellung Symbolisierungen wie das „Schwert Christi“, das Abendmahl als Transformationsgeschehen und das heilige Fasten zum Ertöten der Leidenschaft zwecks Gottesannäherung. Ein Vergleich zwischen der Kreuzsymbolik des Christentums und dem pythagoreischen Vierersymbol der Tetraktys soll hier einen Platz finden.Dieser Teil geht über in den letzten mit dem Titel „ökologische Ernährungspolitik“, der als Beleg der These dienen soll, dass Vegetarismus seiner Struktur nach (als dialektische Negationsbewegung) letztlich zu einer Potenzierung der ohnehin bestehenden Übermacht führt. Zum Schluss noch ein Exkurs über die moderne – sogenannte – Essstörung der Anorexie. Hier tritt das Entschuldungsmoment, wie es für den Vegetarismus aufgedeckt wurde, verstärkt hervor, denn der Gewaltakt des Verzehrens wird durch die Verweigerung desselben in der Magersucht auf anderer Ebene potenziert. So „verkörpert“ Anorexie auf durchaus mit Vegetarismus vergleichbare Weise – im Sinne des Todestriebs – sowohl den Gewaltakt jeder (Kultur-)Schöpfung als auch das technischer Verdinglichung immanente Todesbestreben. Im Unterschied zum öffentlich politischen Habitus des Vegetarismus verzeichnet sich in der Anorexie ein nach innen gerichtetes Zerstörungspotential, das dann allerdings – und darin treffen sich diese beiden Weisen der Nahrungsverweigerung wieder – die schuldgeladene Verantwortung (über das durch Zwangsernährung geregelte eigene Überleben bzw. Nicht-Überleben) – auf eine Über-Instanz verlagert. Entscheidend ist, dass eine Grenze eingefordert wird – im Fall der Anorexie gegen die maßlose Essunlust. Die hier vorgenommene Untersuchung des Vegetarismus soll – zusammenfassend formuliert – eine diesem Phänomen strukturell immanente coincidentia oppositorum offen legen. „Das Verhältnis der Menschen zur Fleischnahrung [...] ist in bestimmter Hinsicht höchst aufschlussreich für die Dynamik der menschlichen Beziehungen und der seelischen Strukturen.“

Eva Barlösius, Soziologie des Essens, Weinheim, München: Juventa-Verlag 1999, S. 14;
Marcel Detienne, Les jardins d’Adonis, Paris 1972, 1985;
Marcel Detienne, Dionysos mis à mort, Paris 1977;
Marcel Detienne, Jean-Pierre Vernant (Hg.): La cuisine du sacrifice en pays grec, Paris 1979;
Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation, Bd. 1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997, S. 249

02.07.2003