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Annette Vowinckel

Forschungsprojekt (Post-Doc)

Das relationale Zeitalter. Über Individualität, Normalität und Mittelmaß in der Kultur der Renaissance

Im Jahr 1860 erschien Jacob Burckhardts Buch über die &Mac226;Kultur der Renaissance in Italien‘. Seither gilt die Renaissance als Geburtsstunde des modernen Individuums, das sich durch seine Unverwechselbarkeit als Person, durch Autonomie und ein ganz neues Bewußtsein seiner selbst von den Menschen des Mittelalters unterscheidet. Als Indizien hierfür werden die Entstehung politischer Freiheit in den italienischen Stadtstaaten, die fortschreitenden Auflösung sozialer Bindungen und vor allem die Entstehung des Einzelbildnisses als eigenständiger Bildgattung genannt.
Dem gegenüber steht jedoch die Beobachtung, dass die Renaissance ein besonderes Interesse für das Messen und Vergleichen entwickelte, das von Nicolaus Cusanus theoretisch begründet wurde und das auf den unterschiedlichsten Gebieten zur Wirkung kam, z. B. bei der Einrichtung des Fegefeuers als Drittem Ort, der Abkehr vom heliozentrischen Weltbild, der Wiederbelebung der Geschichtswissenschaft und der politischen Theorie, der Entwicklung der Zentralperspektive, in der Proportionslehre, in der Physiognomik, in der Astronomie, Astrologie und Anatomie sowie in der Ethik, die mit Verweis auf Aristoteles das Maßhalten (Temperantia) zur wichtigsten Tugend erklärte. Die mittelalterliche, auf einer substanziellen Moral beruhende Dichotomie von Gut und Böse wird überführt in eine Moral, die Menschen - je nach Perspektive - als relativ gut oder relativ böse wahrnimmt (dies wird am Beispiel der Bilder von Judith und Maria Magdalena konkret gezeigt).
Auf der Grundlage all dieser Beobachtungen wird die Renaissance als das &Mac226;relationale Zeitalter‘ beschrieben, in dem das Individuum nicht der autonome und unverwechselbare, sondern der messbare und vergleichbare, in unterschiedliche Weltdeutungssysteme integrierte und sich selbst im historischen Kontext verortende Einzelne ist. Erst mit Aufkommen des Manierismus und des Geniekults in den 1530er Jahren gewinnt der Gedanke an Bedeutung, das mittlere Maß könne nicht das rechte, sondern eben nur das mittlere Maß sein, von dem sich abzugrenzen oberstes Gebot des Künstlers sei. Burckhardts Interpretation des Renaissance als Wiege moderner Individualität erweist sich vor diesem Hintergrund als Retroprojektion des zu seiner Zeit vorherrschenden Geniekults, in dem Individualität als Gegenteil von Mediokrität gilt, und die vermutlich deshalb noch heute so erfolgreich ist, weil sie die Ängste moderner Historiker vor der eigenen Nichtunterscheidbarkeit in der Massengesellschaft bedient und von der unangenehmen Frage nach der Normalität von Mittelmäßigkeit ablenkt.

11.06.2004