In: Matejovski, Dirk / Kamper, Dietmar / Weniger, Gerd-C. (Hg.): Mythos Neanderthal. Ursprung und Zeitenwende; Frankfurt New York 2001, S. 69-86.

Hartmut Böhme

Von Affen und Menschen:

Zur Urgeschichte des Mordes.

Sie werden, meine Damen und Herren, diese Bilder "2001 – A Space Odyssey" von Stanley Kubrick erinnern. Dieser Film, 1968 gedreht, also noch vor der ersten bemannten Mondlandung und noch vor dem takeoff des Computerzeitalters – dieser Film ist nicht nur eine Inkunabel eines ganzen Filmgenres, sondern er hat unsere Bilder von Weltraum und Computer maßgeblich geprägt. Er vermochte dies auch deswegen, weil Kubrick hier technische Phantasien und religiöse Motive, psychodelische Zeitreisen und metaphysische Sinnsuche, Urgeschichte und Endgeschichte, Angst vor der Technik und Sehnsüchte nach einer Entgrenzung jenseits von Zeit und Raum in maßstabsetzende Bilder brachte, verbunden mit einem niemals zuvor derart ungeheuren Einsatz von Musik und einer so noch niemals zuvor gesehenen Herabsetzung des Mediums, das seit alters her als die Sphäre des Menschlichen überhaupt angesehen wurde, nämlich die Sprache. Von 141 Minuten Film sind nur 40 Minuten von Dialogen begleitet. Kubrick erweist den Film als dasjenige Medium, in welchem die visuellen Mythen unserer Zeit kreiert werden.

Der Film aber beginnt, wie alle großen Mythen, mit einer Ursprungserzählung: der Entstehung von Technik im Übergang von Primaten zu Hominiden, als mit der Entwicklung von technischem Gerät die Menschengeschichte aus der Naturgeschichte ausscherte und ihre eigene Logik zu entwickeln begann. Es ist der Mythos des toolmaking animal, oder der "technischen Kehre", die mit der Etablierung dessen, was Heidegger "das Gestell" nennt, die "Schickung" des Menschen bezeichnet. Geschickt wird der Mensch auf eine unabsehbare Odyssee, die im Film auch 'jenseits des Jupiters' zu keinem Ziel gefunden hat.

Kubrick läßt, nach einem Konflikt zwischen zwei Hominidenhorden um ein Wasserloch, abrupt auf einem Platz vor der Höhle der unterlegenen Hominiden einen schwarzen, kubischen Monolithen erscheinen, begleitet von den sphärischen Klängen von György Ligetis "Requiem", das im Fortgang jedes Erscheinen des Monolithen markiert: ein primordiales Kultbild, herkunftslos und rätselhaft, doch geprägt von Regelmäßigkeit und Artifizialität, ein steinernes Monument von Intelligenz, vielleicht auch ein Emblem des deus absconditus. Als beschnüffeltes, betastetes Rätselbild steht der Monolith zwischen den wimmelnden Affenmenschen. Doch seine Epiphanie ist die mythische Initiation des ersten technischen Gedankens aus dem herkunftslosen Zufall – der Schickung: Absichtslos mit Knochen hantierend, 'entdeckt' ein Hominide die Verwendbarkeit eines Knochens als Schlaginstrument. Die Bilder schildern den triumphalen Augenblick eines sich lichtenden Gedankens, einer 'Lichtung', wie Heidegger sagen würde, in welcher die Passung von Ding, Hand und Idee 'entborgen' wird, nämlich als instrumenteller Zusammenhang, als Zuhandensein des Knochens als Zeug, das als Werk-Zeug 'aufgeht'. Kubrick überschreibt die Episode "The dawn of man", als einen dem Sonnenaufgang parallelen "Aufgang der Menscheit", nämlich des Geistes, der hier als technischer Geist gefaßt wird. In der Szene der vorsprachlichen Hominiden erklingt von Richard Strauß die mit kosmischem Pathos erfüllte Programmmusik "Also sprach Zarathustra" – eine Anspielung auf den "Übermenschen"-Mythos, der von Kubrick dadurch zum Ursprungsmythos der Menscheit gemacht wird. Freud hatte bereits, gegen Nietzsche, mit dem Tyrannen der Urhorde den "Übermenschen" von einer Zukunfts- in eine Ursprungsfigur zurückverwandelt (115). Es ist allerdings nicht die Weisheit Zarathustras, die hier anhebt, sondern die Technik, die erfunden wird, ist eine Abzweigung des gewaltförmigen struggle of life: im nächsten Streit um die Wasserstelle setzt der Hominide den Knochen als primordiale Waffe ein und begeht den ersten Mord. Er führt zur Eroberung des Wasserplatzes, zur Kreierung von Überlegenheit und Macht. In die Technik, will Kubrick sagen, ist eine Logik der Gewalt eingeschrieben. Die Intelligenz und das technische 'Gestell' ist eine Waffe im Kampf um Vorteile und Lebensraum.

Der Mörder schleudert sein Gerät triumphierend in die Luft – die Kamera folgt der um kreisenden Bewegung des Knochens vor einem unendlichen Himmel… und übergangslos springt der Film in eine Bildsequenz, die, über die ganze Länge des Walzers "An der schönen blauen Donaus" von Johann Strauß, die Drehbewegung eines riesigen Raumschiffes zeigt, das in der Form einer rota mundi in höchster Vollendung einen Himmelstanz vollführt. Ein Gegenschnitt über 2 Millionen Jahre Menscheitsentwicklung.

Ich verharre indes beim Mythos vom ersten Mord. Analysiert man die Szenen, so bemerkt man, daß Kubrick präzise auf dem Stand zur Forschung von Evolutionsbiologie und Paläontologie operiert. Der klimabedingte Übergang von Baumaffen zu hordenweise lebenden Hominiden in offenem Savannengelände ist vollzogen, damit auch die ernährungsphysiologische Umstellung vom Vegetarismus auf Allesfresserei, inklusive Fleisch. Konkurrenten wurden damit die großen Raubtiere, mit denen die Hominiden nicht nur um Beute stritten, sondern denen diese selbst zum Opfer fielen: Kubrick schaltet eine Szene ein, wie ein Hominide von einem Leoparden gerissen wird. Auf den Wechsel ins Savannengelände mit spezialisierten Carnivoren als Konkurrenten waren die ehemaligen Affen physiologisch schlecht vorbereitet: sie waren zu langsam, zu schwach, hatten das falsche Gebiß und ein auf vegetarische Kost eingestelltes Verdauungssystem. Der Film zeigt die evolutionären Antworten, die darauf erfolgten. Es gab eine neue Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, welche die gesamte Struktur von Sexualität, Fortpflanzung und Aufzucht veränderte. Folge davon war auch die Bildung von Terrains mit festen Schlaf- und Aufzuchtsplätzen; hier ist es eine Höhle. Die Männchen gingen auf die Jagd, doch nicht allein, sondern rudelweise: dadurch entwickelten sich effiziente Kooperationsbeziehungen, die gruppenintern verfriedlichte Beziehungen voraussetzten, um nach außen hin, gegen Feinde und Beute, einen kollektiven, strategischen und gezielten Einsatz von Aggression zu erlauben.

Hierbei spielt der Übergang vom gelegentlichen toolusing, das man bei vielen Species findet, zum toolmaking eine Schlüsselolle. Kubrick plaziert seinen Ursprungsmythos auf die Grenze zwischen beidem: der Knochen ist ein Vorgefundenes, das als Werkzeug bewußt wird, aber er ist noch kein Gerät. Die Er-Findung des Knochens als Waffe wird in der Phantasie – die Bilder des getöteten Tapirs – sogleich mit dem Übergang zum Fleischfressen verbunden, d.h. mit dem Übergang zur Savannenjagd auf Großsäuger. Die Nutzung des Knochens als Waffe erföffnet ein qualitativ neues Möglichkeitsfeld; dies ist paläanthropologisch richtig. Und der erste Einsatz des Werkzeugs, jedenfalls im Film, erfolgt strategisch und kooperativ, also kulturell elaboriert. Auch dies ist richtig, denn der Übergang vom tropischen Baumleben zur Jagdhorde in Savannen mit all seinen strukturellen Folgen ist der starting point für alle Kultur. Allerdings setzt der Hominide im Film den Knochen nicht für die Jagd ein (die im Phantasiebild nur angedeutet bleibt), sondern für eine evolutionsgeschichtlich nicht weniger sympotomatische Szene: ausschließlich von männlichen Hominiden werden Waffen bei innerartlichen Konkurrenzen um Terrain und knappe Ressourcen eingesetzt. Hier ist es eine Wasserstelle. Dabei zeigen die Hominiden bewährte Techniken des Imponierens wie Stampfen, Umrißvergößerung, Schreien. Der primäre Mord am Leithominiden der Feindgruppe erfolgt mit aggressivem Überschuß, gleichsam einer Mehrfachtötung, die verhaltensbiologisch gut bezeugt ist. Der Sieg wird mit Triumphgebärden und -geheul begangen. Der Mord ist ein eminent gemeinschaftliches und gemeinschaftsstiftendes Ereignis. Die Auseinandersetzung folgt also einer Art rituellem Muster, läßt aber zugleich erkennen, daß es neu zentriert ist, nämlich um das intelligente Werkzeug. Damit wird angedeutet, daß innerartliche Auseinandersetzungen und die Jagd ins technolgische Feld transformiert sind, jedoch mit genetisch älteren patterns des Agonalen fusioniert bleiben. Terrain- und Ressourcensicherung sind überlebenswichtige Basisleistungen der Reproduktion. Der Einsatz der Waffe als Tötungsinstrument hat dabei eine eindeutige Logik: er belohnt im Sinne der kin selection die eigene Verwandtengruppe mit einer erhöhten Gesamtfitneß (inclusive fitness). Für Kubrick bildet die innerartliche Tötung das Rückrat einer durch Konkurrenz von Hominiden-Horden angetriebenen Evolution. Die Konkurrenz mit tierischen Großjägern spielt fortan keine Rolle mehr. Die soziomorph gegliederte und kooperativ ausdifferenzierte, ins technologische Feld überführte Verwandtengruppe hat die physisch überlegenen Raubtiere in ihrem eigenen Raum, der offenen Savanne, geschlagen. Der Motor der Entwicklung – so will es der Film in Übereinstimmung mit den Evolutionsbiologen – ist innerhalb des Dynamismus der kin selection die Rolle der Technik. Das ist das eine. Das andere ist: Innerartliche Tötung ist der Normalfall der Humanevolution. Beides hören Idealisten von Platon bis Habermas nicht gern.
Derartige Szenen des primordialen Mordes hat niemand beobachtet; sie werden darum als Mythos erzählt und in der Evolutionsbiologie durchweg als Spekulationen charakterisiert. Dabei besteht mit anderen Mythen des Ersten Mordes insofern eine Übereinstimmung, als durchweg der Mord an den Nullpunkt der Humangeschichte oder doch beinahe an diesen gestellt wird. Von den ältesten Überlieferungen bis heute scheint es so, daß dem Mord zur Charakterisierung menschlicher Kultur eine fundamentale Bedeutung zugeschrieben wird. Gegenüber dem Mythos Kubricks sind dabei jedoch Unterschiede zu beobachten. Dies ist mein nächster Punkt.

Die Bibel plaziert den ersten Mord in ein Opferszenario. Der Ackerbauer Kain ermordet aus Beschämung und Wut den nomadischen Hirten Abel, dessen Fleischopfer von Gott, anders als das Getreideopfer Kains, von Gott angenommen wird. Man weiß, daß der biblische Gott sich zwar nicht an Menschenopfern (Abraham und Isaak), wohl aber am Duft tierischer Brandopfer delektiert.Nach dem Ethnologen Ellegard Jensen gilt, daß Kopfjägerei, Menschenopfer, Kannibalismus etc. am verbreitetsten bei Pflanzervölkern und nicht bei Jägern ist – jedenfalls in historischer Zeit. Es scheint auch, daß die Geschichte von Kain und Abel etwas ähnliches verbirgt, was nie beachtet wurde: in seiner Verfluchung Kains kommentiert Gott nämlich den Mord mit Worten, die diesen als ein Opferritual erscheinen lassen: "So bist du verflucht, verbannt vom Ackerboden, der seinen Mund aufgesperrt hat, um aus deiner Hand das Blut deines Bruders aufzunehmen." Das klingt danach, als habe Jahwe den Mord als Menschenopfer verstanden. Könnte es sein, daß Kain, der Bauer, der Erde selbst ein Menschenopfer gebracht hat, nämlich Abel? Ein solches war üblicherweise an weibliche Fruchtbarkeitsgöttinen adressiert. Eben dies provoziert den Gott der Wüste, der den Acker Kains unfruchtbar werden läßt und ihn aus seinem Terrain vertreibt. Gleichwohl ist Kain, nach der älteren jahwistischen Textlinie, nicht nur Pflanzer, sondern auch ein Stadtgründer, Urvater der Viehzüchter, der Musiker (Künstler) und der Erz- und Eisenschmiede, vielleicht auch der Prostituierten, also ein mythischer Kulturbringer vom Format eines Prometheus – freilich einer kriegerischen Kultur, in der, wie es heißt, ein Mann für eine Wunde und ein Knabe für eine Strieme getötet wird. Durch die heterogene Erzählung von Kain und Abel schimmert ein clash of cultures wie ein Palimpsest durch, bei dem der von Jahwe geführte Wüstenstamm (Abel) auf höher entwickelte, 'kainitische' Völker stößt: Den simplen Hirten, welche indes die Erstgeburt, den wahren Kultus und die Gottesnähe beanspruchen, wird von den höher entwickelten Pflanzern möderisch gekontert. Jahwe ist der Gott der Wüste – und als solcher lehnt er das (mutterverehrende) Getreideopfer des Pflanzers ebenso ab wie das blutige Menschenopfer an die Erde. Insofern sind Abel und Kain Repräsentanten zweier Kult- und Kulturformen, die miteinander rivalisieren: dies ist der Ursprung des innerartlichen Tötens, des Menschenmordes. Man sieht, daß die altisraelitische Überlieferung die traumatischen Begegnungen mit fremden, überlegenen Kulturen bei der sog. Landnahme in die Kain-und-Abel-Mythe rückprojiziert und damit universalisiert.

Mythen dieser Art werden bis heute erzählt. So, wenn Sigmund Freud sich als Detektiv auf die Spuren des Ur-Mordes macht und aus den aufgelesenen Text-Partikeln von Ethnologen, Religionswissenschaftlern, Urgeschichtlern und Darwinisten einen ätiologischen Roman collagiert, der Antwort auf die Frage geben soll, warum Kulturen in so nachhaltiger Weise schuldgeprägt und 'väterlichen' Autoritäten gegenüber so ambivalent sind. Wie Kubrick steigt auch Freud tief hinab, nicht wie Goethe zu den Müttern, sondern zum hominiden Tyrannen. "Am Anfang war die Tat" (444), so kontert er dem Weimarer – nämlich der kollektive Mord der "Darwinschen Urhorde" am Ur-Vater, der alle Weibchen monopolisierte. Sexual-Konkurrenz als Ursprung des Mordes. Der Ermordete wurde, nach Freud, zum Clan-Totem erhoben und damit zum Gott, dem gegenüber alle schuldig sind (alle Kultur ist Schuld-Kultur) und dem man doch sein Leben verdankt, den man liebt und verehrt. Aus dieser Szene wird der Opfer-Kult geboren: der Gott wird immer wieder rituell getötet und erst dadurch zum Gott. Man verzehrt sein Substitut, das geschlachtete Totemtier, das im Opfermahl in alle Clanmitglieder hineinwandert und die Nachlebenden primordial und immer wieder zur community macht. Aus dem geopferten Leib Gottes wird die Welt, die Ordnung und die menschliche Gemeinschaft kreiert und erhalten. Ohne rituellen Opfermord keine Kultur. Um danach nicht selbst in eine um die Weibchen tödlich rivalisiernde Bruderhorde zu zerfallen (bellum omnium contra omnes), wird die Regel eingeführt, daß die Frauen eines Clans niemandem im Clan gehören sollen. Damit haben wir das Freudsche Herzstück: das mit dem Inzest-Verbot gekoppelte Exogamie-Gebot. Es schafft friedliche Binnenbeziehungen der patriarchal-männerbündischen Horde, in welcher der Mord an Angehörigen des eigenen Gen-Pools tabuiert, aber nach außen hin lizensiert ist; Inter-Gruppenfeindlichkeit ist freigegeben. So wird die Gesamtfitneß des nepotistisch-ethnozentrischen Clans erhöht. Auf dieser Linie liegt, daß das im 5. Gebot untersagte 'Töten' im Hebräischen das Verb 'razach' verwendet, womit ungesetzliches Töten diskriminiert wird, nicht jedoch, bei Inter-Gruppenkonflikten, das kriegerische Töten oder das Hinrichten. Du sollst nicht töten, heißt: Du sollst keinen Israeliten töten! Es ist ein Irrtum, wenn Gunnar Heinsohn im 5. Gebot die weltgeschichtliche Wende zur Universalethik ansetzt.

Das Material, aus dem Freud seinen Mythos spinnt, insbesondere die häufige Tatsache, wonach das Opfer die Wiederholung eines ursprünglichen Gottesmordes ist, entspricht der Lesart René Girards, wenn er aus dem Aphorismus Nietzsches über die Ermordung Gottes eine Gründungsakte rekonstruiert (1987). Das aber war allen Ethnologen um 1900, die sich mit kosmologischen Mythen und Opferriten beschäftigten, selbstverständlich. In seinem Buch "Das Heilige und die Gewalt" hatte Girard, nicht ohne selbst mythisch zu werden, schon 1972 die "Gründungsgewalt" des blutigen Opfers als einen in aller Geschichte wirksamen, ja sie erst ermöglichenden Mechanismus charakterisiert: Blutopfer schützen die Gemeinschaft vor der ihr immanenten Gewalt, gewährleisten ihre Kohärenz und unterbrechen die unendliche Kette der Blutrache. Sie stellen mithin eine Gewalt-Prävention im Medium der Gewalt selbst dar. Heilige Gewalt ist die Katharsis der Gewalt selbst. Nur über die sakrale Ritualisierung des Mordes stellt sich Gesellschaft auf Dauer und sichert so ihre Ordnung, die sonst unter dem Ansturm 'wilder' Gewalt dissozierte. Das spinnt den mythischen Text von William Robertson Smith und Sigmund Freud fort.
Walter Burkert, der daran erinnert, daß 95-99% aller Humangeschichte die Zeit der altpaläolithischen Jäger war, sieht in diesen Jahrhundertausenden das Töten als fundamentales Anthropologicum genetisch eincodiert. Von Ellegard Jensen übernimmt Burkert, daß durch die Fleischnahrung das Töten zu einer kulturgeschichtlichen Fundamentaltatsache geworden ist. Essen heißt Töten. Das hatte schon Paracelsus gesagt. An rezenten Stammeskulturen und mythischen Überlieferungen hatte Jensen gezeigt, daß ein Mann zu einem Mann erst wird, wenn er getötet hat. In Ritualen ist das Töten selbst das Ziel. Es wird gepriesen als eine die Weltordnug erhaltende Tat. Zugleich ist die Tötung ein Sakrileg, so daß sich in Jägergesellschaften des öfteren Umdeutungen finden, wonach nicht der Jäger, sondern ein anderer getötet habe oder es ein von Gott gefordertes Tun sei (das ist, was Karl Meuli 'Unschuldskomödie' nennt). Vollends fällt das Töten mit dem heiligen Opfer zusammen, wenn Menschenopfer, Tieropfer, Kopfjägerei und Kannibalismus die rituelle Wiederholung der primordialen Opferung eines Gottes sind, dessen Zerstückelung erst die Elemente der gegenwärtigen Seinsordnung hergibt. Gott töten und ihn essen, ist die Gründungsgewalt, aus der heraus die Welt gesetzt ist. Es ist die Bejahung einer Welt, zu der das Töten gehört, das gleichwohl in Schuld verstrickt. Das ist das anthropologische Paradox, das heutige Wissenschaftler auf der schwarzen Linie Thomas Hobbes' uns glauben machen – eine typisch nach-aufklärerische Position. Daraus entwickelt Burkert den Homo Necans, den er der optimistischen Variante der Evolutionsbiologen, dem Homo sapiens entgegensetzt. Erfolgreiches Töten ist bei Burkert biologisch programmiert, weil das Töten den Kern der Reproduktion der Wildbeutergesellschaft darstellt. Von hieraus geht der evolutionäre Schub zur Kooperation und zielgerichtetem Handeln, zur Abgrenzung von Draußen und Drinnen, von männlicher und weiblicher Sphäre, von Werkzeugentwicklung und Erziehung aus. Gemeinschaft ist blutiges Handwerk. "Der Mensch wurde zum Menschen durch das Jägertum, durch den Akt des Tötens", so Burkert (30). Der Opferritus bringt dieses gefährliche Potential in eine domestizierte Choreographie, sie reguliert die überlebenswichtige Tötungsaggression, verwandelt sie zu einem Akt der Gemeinschaftsstiftung und kanalisiert sie 'nach außen' auf die Jagdbeute, das Opfer oder den Feind, den Kriegsgegner. So wird der Akt des Tötens zu einem Mechanismus der Lebensbejahung.

Alle diesen religiösen wie wissenschaftlichen Mythen ist gemeinsam, daß sie Töten und Mord zum basalen Programm der Anthropogenie erheben, gleichsam zu ihrer Natur. Mord ist die Hypothek des Pleistozäns, wie Hans Mohr sagt (Vogel, 110). Dabei besteht ein alter Streit, ob dies in der Natur des Menschen liegt, oder ob nicht umgekehrt die Kultur erst den Menschen zum Mörder gemacht habe. Von der alten Lehre vom Goldenen Zeitalter (oder dem Paradies) über Rousseau und Peter Kropotkin bis hin zu ethologischen Schule von Konrad Lorenz wird gegen die definition noir des Menschen angegangen: insbesondere dagegen, daß innerartliches Töten so alt sei wie die Humangeschichte selbst. Wäre dies so, dann wäre die Idee eines vegetarisch-friedlichen Anfangs der Menschen eine bloße Projektion. Die kulturkritische Beschuldigung des Eisernen Zeitalters, wonach durch dieses der Mord in die Welt gekommen sei, wäre falsch. Eine Illusion wäre die ethologische Annahme der Lorenz-Schule über innerartliche Tötungshemmung, über 'moralanalogen Altruismus', gegnerschonende Kommentkämpfe, Kindchenschema u.ä. Falsch wäre auch die Annahme, daß die historischen Gewaltpotentiale nur Verfallserscheinungen des biologisch 'moral-analog' disponierten Menschen seien. Falsch wäre schließlich die Annahme der Ethologen, daß Arten ein selbstregulatives System auf der Basis des Prinzips von arterhaltendem Gemeinnutz darstellten.
Tatsächlich ist die Idee des Goldenen Zeitalters ebenso empirisch widerlegt wie die innerartliche Tötungshemmung beim Menschen oder die 'moralanalogen' Verhaltensformen bei Tieren. So haben die neodarwinistischen Paläanthropologen ganz so, wie es Kubrick vorführt, zeigen können, daß der entscheidende Evolutionsmotor die innerartliche Konkurrenz ist. Die moralanalogen Verhaltensmuster konnten sämtlich im Schema der kin selection rekonstruiert werden, so daß das Verhalten, das phänotypisch altruistisch erscheint, genetisch eigennützig ist – allerdings weder im Sinne der von Darwin angenommenen persönlichen Fitness, noch der Lorenzschen generellen Arterhaltung. Vielmehr wird mit dieser Strategie auf der mittleren Ebene von ingroups, die in Konkurrenz mit artgleichen Konkurrenten (outgroups) stehen, die sog. inclusive fitness gesteigert. Durch kin selection bilden sich positive kooperative und fürsorgerische Beziehungspatterns ebenso aus wie auf der Linie der Konkurrenz um Nahrung, Ressourcen, Weibchen und Territorien Gewalt-Strategien inklusive bestialischer innerartlicher Tötungen erwachsen. Christian Vogel resümiert: "Das der biologischen Evolution letztlich zugrundeliegende Prinzip heißt also Konkurrenz, genauer: interindividuelle Konkurrenz zwischen Artgenossen um möglichst gute Fortpflanzungschancen unter den mit steigender Populationsdichte zwangsläufig ungünstiger werdenden Bedingungen einer allgemeinen Ressoucenverknappung." (25)
Hier mag der von Jane Goodall beobachtete 'Krieg' zwischen zwei Schimpansen-Clans, der über vier Jahre ausgetragen wurde, brutalste Tötungsorgien und Kannibalismus zeitigte und schließlich zur Totalliquidierung eines Clans und zur Übernahme von dessen Terrain führte, wie ein Ernüchterungsschock gewirkt haben – nicht nur für Neo-Rousseauisten, sondern für die gesamte Lorenz-Schule. Der Jagd/Kampf-Komplex von Carnivoren schließt im Tierreich ebenso wie in der Frühgeschichte der Hominiden und dann des Homo sapiens innartliche Tötungen, aber auch Fetozid, Infantizid und Kannibalismus ein. Christian Vogel weist nach, daß die Tötung von Artgenossen nicht maladaptiv, sondern im Rahmen "reproduktionsstrategischer Maßnahmen" (77) normal ist. Eine Tötungshemmung beim Menschen kann nicht nachgewiesen werden. Hingegen ist die Programmierung auf innerartliche Konkurrenz universal. Sie führt zur Aufteilung nach ingroup/ outgroup-Zugehörigkeit und dabei zu antagonistischen Codes von Verhalten, Affektmodellierung und Sexualitäts-/Reproduktions-mechanismen. Man kann dies eine bioevolutionär angelegte "doppelte Moral" nennen. Nach Vogel kann eben deswegen die Naturgeschichte überhaupt kein Kriterium für moralisches Handeln hergeben.

Der Mensch, sagt Robert Musil in ironischer Vorwegnahme dieser Befunde, ist ebenso leicht der Menschenfresserei fähig wie der Kritik der reinen Vernunft. Dies aber ist die Konsequenz schon bei Nietzsche, der die absolute Indifferenz der Natur hinsichtlich moralischer Normen konstatiert. Das aber heißt, daß die Beispiele von grandioser Fürsorge und Selbstaufopferung moralisch genauso wenig aussagekräftig sind wie die Beispiele "wilder Ursprünge" mörderischer oder kannibalischer Auseinandersetzungen und Opfer-Riten. Es gibt in der Evolutionsgeschichte keine 'Argumente', weder für die definition noir auf der Linie von Hobbes über Freud zu Girard und Burkert, noch für die Friedens-Botschaften von antiken Utopien über Rousseau bis Konrad Lorenz. Die weltweiten Mythen und Opferriten, sowohl die mörderischen wie die generativen und nutritiven, stellen allerdings kulturelle Verarbeitungen der Evolutionsgeschichte und der in ihr ausgebildeten beiden Hauptmatrizen menschlichen Verhaltens dar. Freud, Girard und Burkert indes stehen selbst im Bann der Mythen und schreiben diese fort. Es gibt, wie es kein Goldenes Zeitalter friedlichen Vegetarismus gab, so auch kein Initial der Humangeschichte in einem Ur-Mord und es gibt keinerlei Anzeichen dafür, daß die Geschichte im Zeichen des Homo necans steht. Die evolutionsbiologischen Voraussetzungen von Burkerts These sind falsch, weil ein erfolgreich tötender Jäger, ein Homo necans zu sein, voraussetzte, über ein Set kooperativer Handlungsmuster, Verfriedlichungen der Binnenbeziehungen, Teilungsverhalten, Nahrungs-Fürsorge für Frauen und Nachwuchs, dauerhafte Sozialbindungen etc. zu verfügen. Jäger zu sein, war also nur in einem entwickelten sozialen Feld möglich, das gerade nicht der Logik des Tötens folgte. Homo necans und Homo sociatus bilden sich mithin koevolutiv, ja komplementär. Beide Seiten setzten freilich das voraus, was Kubrick mit seinem Monolithen andeuten wollte: Entwicklung von Intelligenz, die sowohl für das Feld des mörderischen Jägers wie für das soziale Feld seiner ingroup konstitutiv war und zudem ein drittes Feld, nämlich das technologische eröffnete. Dies wird sowohl von Freud, Girard und Burkert wie von Lorenz und Vogel vernachlässigt, nicht aber so von Karl Marx und noch weniger von Freidrich Engels in seiner Arbeit über den "Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen" (1876). Die technische Seite wird von Kubrick schon deswegen umso mehr betont, weil er den technologischen Mythos des 20. Jahrhunderts erzählen wollte – den er jedoch in der Logik des Mordes aufgehen läßt.

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Die Odyssee im Weltall nämlich erweist sich, ganz im Sinne der Romantik, wonach im Ursprung das Ziel liegt, als die menschheitliche Reise zur Entschlüsselung des Geheimnises jenes Monolithen, der zuerst in der Primatenhorde erscheint. Der Monolith wird eingesetzt wie ein platonischer Urkörper, der einsteht für eine infinite Transgression im Medium der Technik. Der Monolith repräsentiert mithin die Struktur des Geistes selbst, der von den Menschen immer verfehlt wird. Verfehlt auch deswegen, weil der Weg zur Entschlüsselung dieser Figur des Mentalen immer nur der Weg einer technischen Bemeisterung und machtgestützten Aneignung ist.
Der Monolith gibt auch den heutigen Wissenschaftlern physikalische Rätsel auf. Dies führt zu einem Erkundungauftrag, zu dem das Raumschiff "Discovery" mit fünf Astronauten aufbricht. An Bord ist ferner ein sechstes Mitglied des Teams, der Superrechner HAL 9000. Drei Astronauten sind in ihren biologischen Funktionen heruntergefahren und liegen im Tiefschlaf, wie ägyptische Mumien kokoniert in einem technischen Sarkophag. Ihre Lebensfunktionen werden vom Computer überwacht, der sie später allerdings abschaltet, also tötet.
Kubrick hat diesen Trend erkannt, parallel zur ersten Herzverpflanzung 1967 und der ersten Hirntod-Definition einer Havard-Kommission 1968 –: in jenen eindrucksvollen Bildern, durch die das erste Mal in der Filmgeschichte der Tod durch Abschaltung des Herz-Nerven-Gehirn-Pakets eintritt. Der Computer HAL trennt die drei Astronauten-Mumien von den lebenserhaltenden Systemen und der Tod tritt unscheinbar, nur durch die flatline dokumentiert, ein. So ist der Tod nicht länger ein biographisches Ereignis, sondern er ist eine Schaltungsfunktion des kybernetischen Mensch-Maschine-Systems. Niemals zuvor war ein derart abstrakter Mord zu sehen. Er wird möglich, weil der menschliche Körper ein Anhängsel computerisierter Environments ist. Dies Faktum ist das wahre Jenseits von Evolutionsbiologie wie Humangeschichte. Computer und Raumschiff werden zur uterinen Umhüllung, von der das Leben völlständig abhängt. Dies ist die verborgene Schwäche der Männer, die zum alter deus sich aufschwingen wollen. Von der Technik werden die Männer umso blinder abhängig, je göttlicher und erhabener ihre Träume sind. Der Film ist nicht umsonst radikal eingeschlechtlich. Wie der Tod vom natürlichen Alterungs- und Sterbeprozeß getrennt wird, so auch die Geburt vom mütterlichen Körper. Das finale Erscheinen des Sternen-Fötus in seiner uterinen Sphäre, markiert die größte Entfernung vom mütterlichen Körper und die denkbar größte Abstraktion vom Heimatplaneten Erde.

Die Ermordung der Tiefschlaf-Astronauten ist ein Moment innerhalb eines tödlichen Agons, der sich zwischen HAL und den beiden wachbewußten Astronauten entwickelt. Der Computer ist ubiquitär wie ein technischer Gott: mittels seiner Sensoren, insbesondere seinem rot-gelben Argus-Auge, und natürlich durch seine Steuerprogramme. – Einer der beiden Astronauten wird von HAL in eine Falle gelockt, er verläßt das Mutter-Schiff und wird durch HAL von seiner Nabelschnur, nämlich der Atemzufuhr abgeknipst. Dem einzigen überlebenden Astronauten, der völlig auf seine urgeschichtlichen Selbstbehauptung reduziert wird wie zu Beginn die Hominiden, gelingt die Rückkehr ins Schiff, wo er, schwebend im Inneren des elektronischen Gehirns von HAL, diesem eine Rechnereinheit nach der anderen lobotomiert. Was keiner der Menschen bisher aufwies, das zeigt jetzt der Computer: nämlich Gefühle. Seine Demontage wird zu einem Sterben, das die versickernde Stimme des Computers zunehmend mit Angst erfüllt und ihn auf ein infantiles Niveau regredieren läßt: um den Astronauten zu erweichen, singt HAL am Ende das Kinder-Liedchen "Daisy" , bevor er so ausgeknipst wird, wie zuvor HAL die Menschen ausknipste. Der Mord, mit dem die hominide Evolution einsetze, bestimmt die Logik der Geschichte nicht nur, sondern auch des Verkehrs zwischen Mensch und Maschine, die zu gnadenlosen Konkurrenten geworden sind. Damit ist Kubrick auf die Linie der Mythopoeten eingeschwenkt, als die sich auch Freud, Girard und Burkert erwiesen.

Danach beginnt der letzte Teil des Films: "Jupiter and beyond the Infinite". In einer ungeheuren Raum- und Zeitflucht durchstößt der Astronaut die Parameter des Real-Universums, so daß der outer space in einen inner space invertiert. Technische Raumfahrt und psychodelische Drogenreise fallen zusammen, als wohnten wir der filmischen Umsetzung eines Wortes von Novalis bei: "Warum träumen wir von Reisen im Weltall: Ist nicht das Weltall in uns?" Wie in den ältesten Religionsmythen der "Himmelsreise der Seele" wird die Raumreise zur Metapher einer Selbstbegegnung. Es ist, als wolle Kubrick uns in den magischen Bildfluchten und den surrealen Begegnungen des Astronauten mit sich selbst in allen seinen Lebensaltern sagen, daß das auf technische Herrschaft zielende Projekt des Menschheit seit jeher von keinem anderen Impuls getrieben worden sei, als im Exzentrischen sich selbst zu begegnen. Doch Kubrick suggeriert auch, daß das Medium dieser Erkundung, die Technik, eine Figur immer größerer Entfernung des Menschen von sich selbst sei. Selbsterkundung ist mit Selbstentfremdung identisch. Am Ende fliegt der Monolith ebenso unerreichbar durchs leere All wie in grenzenloser Einsamkeit das Gesicht eines Fötus im Weltraum schwebt: unerreichtes Symbol kosmischer Wiedergeburt oder eines kathartischen rebirthing.

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