In: Dencker, Peter (Hg.): Die Politik der Maschine. Computer Odyssee 2001; Hamburg 2002, S. 488-501.

Hartmut Böhme

Enträumlichung und Körperlosigkeit im Cyberspace und ihre historischen Vorläufer.

 

1. Ein Spiel mit Emanuel Swedenborg

Es geht um eine wundersame Population. Ihre Mitglieder leben in einer Sphäre, in die man nicht ohne weiteres eintreten kann. Man muß den Körper aus Fleisch und Blut abstreifen, um die Schwelle zum Reich dieser eigentümlichen Wesen zu überschreiten. Man könnte deswegen fälschlich vermuten, es müsse ein Totenreich sein. Aber das ist nicht so. Zwar ist richtig, das die Wesen, im Verhältnis zu irdischen Körpern, schattenhaft sind; und man erinnert sich, daß in der Antike die Toten auch Schatten genannt wurden. Aber es sind keine Toten. Im Gegenteil geht es in ihrer Welt recht lebendig zu: hat man einmal den Code des Entreés--bei manchen löst dies Schwellenangst aus--durchlaufen, ist man überrascht, wie lebhaft und pulsierend diese Welt der Schatten ist: es herrscht große Geselligkeit, man kommuniziert ununterbrochen, und es erscheint allen Beteiligten als ein großes Glück, daß es gleichgültig ist, wo man sich befindet und wann, weil Zeit und Raum nichts mehr bedeuten. Endlich bildet man eine Sozietät, die nicht mehr von den Schranken raumzeitlichen Daseins aus Fleisch und Blut behindert wird.

Schnell begreift man, daß hier ein altes philosophisches Problem--man kann nicht sagen: gelöst ist; aber es spielt keine Rolle mehr. Nämlich das Problem des commercium corporis et mentis, oder: das Leib-Seele-Problem. Von Platon bis Descartes und darüber hinaus hatte man sich daran abgemüht. Der Bruch, der zwischen Körper und Seele/Geist sich auftat, vertiefte sich im Maße, wie man ihn zu überbrücken versuchte. Man hatte die jetzige, einfache Lösung übersehen, weil man die Lehre des Todes nicht verstanden hatte: nicht auf das commercium kam es an, nicht auf das Brückenschlagen, sondern im Gegenteil darauf, Brücken hinter sich abzubrechen. Ließ man den Körper aus oder draußen vor, ließ man ihn also in seinem Hautsack oder in seiner Gleichgültigkeit zurück, so öffnete sich das wahrhaft unbegrenzte Reich eines neuen Lebens.

Es stellte sich zudem heraus, daß vieles, was man bislang dem Körper zugerechnet hatte, weswegen seine Verabschiedung so schwer fiel, in Wahrheit gar nicht auf ihn angewiesen war. Man tauchte ein in ein Reich vielfältiger Gefühle, Empfindungen, Sensationen, sinnlicher und emotionaler Erfahrungen mit sich selbst und anderen, ohne einen Körper zu haben. In der naheliegenden narzißtischen Überschätzung, man müsse den Körper achten, pflegen und möglichst lange bei sich haben, weil man nur einen Körper habe, hatte man versäumt zu prüfen, wozu eigentlich ein Körper gut sein soll und was nur er an Qualitäten hergibt. Überraschenderweise stellte sich heraus: das war nicht viel. Man konnte darauf verzichten. Ja, die Kühnsten verabschiedeten die Knechtschaft, die über Jahrtausende uns an den Körper gefesselt hatte, mit rascher Entschiedenheit. Sie wurden wunderbarer Erfahrungen inne, von denen sie, wie in alter Zeit heimgekehrte Reisende, phantastische Geschichten erzählten, die in einem merkwürdigen Verhältnis der "unähnlichen Ähnlichkeit" (W. Benjamin) zu der Welt standen, in der die staunend Zuhörenden lebten. Manche, es waren sichtlich Konservative, die das Neue als teuflische curiositas kritisierten, nannten die angeblich herrliche Sphäre auch regio dissimilitudinis, und meinten damit, daß sie eine Gegend des Teufels sei, von der aus die Welt zerstört würde. Dagegen wandten andere ein, daß dabei ein entscheidender sprachlicher Lapsus unterlaufen sei: nicht um die dissimilatio gehe es, welche tatsächlich ein unübersichtliches Feld chaotischer Mannigfaltigkeit, also der Unähnlichkeit erzeuge. Diese teuflisch zu nennen sei man tatsächlich berechtigt, wenn man das Göttliche mit dem sich selbst Ähnlichen, ja Identischen und durchweg Homogenen gleichsetze. In Wahrheit aber handele es sich nicht um die regio dissimilitudinis, sondern die regio disseminationis, also um ein Land, in welchem ein Spiel der Zeichen möglich werde, das von aller Referenz auf Materielles befreit sei, indem es dieses zersetze. Ein Reich der Freiheit also und der Leichtigkeit.

Das ließ sich vor allem an den Kommunikationsformen ablesen. Außerhalb der Region der schwerelosen Wesen gab es zwar immer noch das nachbabylonische Gewimmel der Sprachen, das Verständigung so erschwerte, Fremdheit erzeugte und Konflikte produzierte. Doch innerhalb ihres Reiches herrschte eine Universalsprache. Sie bildete und garantierte die "Einheit" aller "Gedanken und Wörter", eine gleichsam wesensmäßige Homogenität, welche der zersplitternden Heterogenität der irdischen Welt entgegengesetzt war. Dadurch entstand ein wunderbares Netz der Unmittelbarkeit. Jede Regung, jeder Gedanke, jeder Ausdruck breitete sich nämlich instantiell und ubiquitär aus und wurde von den Kommunikationspartnern synchron mitvollzogen. Man sprach deswegen davon, daß alle Gedanken sich als "dünne Welle oder Atmosphäre" ausbreiteten und sogleich in den übrigen Kommunikanten korrespondierende Bewegungen auslösten. Denn die Wesen lebten und kommunizierten nur "aus der Entsprechung", aus der Korrespondenz miteinander. Das klang wunderbar und war es auch: denn zweifellos hieß dies, daß in diesem Reich nicht nur die Gesetze von Zeit und Raum, sondern auch die Getrenntheit aller Existenzen aufgehoben war. Denn diese Getrenntheit lag in der Welt als Kluft und Abgrund zwischen den Menschen und machte das Leben so mühsam. Was in der irdischen Welt als schwarze oder weiße Magie gelten mußte, also als zauberhafte Ausnahme, das war hier, im Immateriellen, die Regel: der Kommunikationsraum also war telekinetisch und telepathisch organisiert.

Telekinese und Telepathie hatten ferner die Aufhebung der Trennung von Innen und Außen zur Voraussetzung, eine Trennung, von der im körperlichen Leben so viel Leiden, Verstellungen und Verwirrungen ausgingen. Bewegung im Immateriellen dagegen hieß unmittelbare und vollständige Übertragung der Regungen des einen auf die anderen und vice versa. Man konnte dieses Reich deswegen auch eine Geographie der psychomentalen Prozesse nennen. Denken und Gefühle waren ebenso 'bei sich' wie bei 'den anderen', vermittelt über eine Art Äther, der als Übertragungsmedium funktionierte. Der Äther aber war nicht 'zwischen' getrennten Wesen, die sich unter Mühen medial zu vermitteln hatten. Sondern diese Wesen waren in das Äther-Medium gleichsam eingetaucht wie in ein Wasser, das jede Bewegung aufnahm und als Welle zu den anderen übertrug. Doch diese Metapher hinkte. Denn die Übertragung einer Regung von einer psychomentalen Identität zu allen anderen erfolgte, weil Innen und Außen entfiel, in absoluter Unmittelbarkeit. Die internen Prozesse also waren zugleich extern sichtbar, spürbar, hörbar--eine gewaltige Synästhesie. Man konnte auch sagen, daß der Kommunikationsraum eine Art globales Nervensystem darstellte.

Dessen Grenzen waren zugleich die Grenzen der Welt. In ihr jedoch herrschte eine unbegrenzte Informationsstreuung. Dies führte freilich zu keinem Chaos, weil die Universalsprache, in der alle Mitteilungen übertragen wurden, ebenfalls kein Innen und Außen kannte: denn auch die Kluft zwischen Signifikanten und Signifikaten war aufgehoben. Diese koinzidierten vielmehr. Die Zeichen standen zum Bezeichneten nicht mehr in einem Verhältnis der Indirektheit, der Nachträglichkeit, der Verstellung oder der Repräsentation. Sondern im Zeichen eines Gedankens oder eines Gefühls waren diese unmittelbar präsent, im aussendenden Ich sowohl wie im empfangenden Ich. Ausdruck und Eindruck waren dasselbe.

Doch gab es dieses Ich überhaupt noch, wenn es nicht mehr über ein System von Abgrenzungen gebildet wurde, die wiederum komplizierte Übersetzungen des Eigenen und des Fremden erforderten? Tatsächlich war das Ich in jeder Regung über sich hinaus, nämlich in der Sphäre seiner Mitteilung und Streuung; und zugleich war jedes Ich durch partizipierende Identifikation in der Sphäre der anderen. Ein späterer Theoretiker, der sich mit einer solchen Sprache und Kommunikation beschäftigte, Walter Benjamin, nannte dies die adamitische Sprache oder die Namensprache. Diese ist eine Universalsprache von unmittelbarer Wesenspräsenz, die noch nicht von Schuld und Sünde verseucht war. Die Urschuld hatte sich in die sprachlichen Zeichen als unüberbrückbare Kluft von Signifikant und Signifikat hineingefressen--eine Kluft in der Sprache selbst, die darum in jedem Zeichen den Ausschluß aus dem Paradies wiederholte. Gelegentlich wurde sogar gesagt, daß die neue (oder uralte?) Universalsprache sich so fundamental von den natürlichen Sprachen unterschiede, daß ihre Codierungsform gar nicht mehr an Schriftzeichen oder Lauten hinge, sondern aus Zahlen bestünde. Man erinnerte sich an anvancierte Denker, die früher bereits behauptet hatten, daß Gott ein Mathematiker sei und die Welt nach Zahlenverhältnissen konstruiert hätte, und daß jedenfalls eine lingua universalis, wenn es sie denn gäbe, nur eine algorithmische sein könne.

So war es kein Wunder, daß die Anhänger dieser immateriellen Kommunikation ihre Sehnsucht für erfüllt erklärten, endlich der Welt von Verstellungen, von unaufgelösten und egozentrischen Subjektivitäten, von unvermittelbaren Teilungen und Trennungen, kurz, vom Zwang zur selbstverantwortlichen Individualität entkommen zu sein. Denn die Individualität sei ein Reflex der endlichen, von Tod und Angst beherrschten Welt, ein Reflex also, wie man es theologisch ausdrückte, der "vollendeten Sündhaftigkeit" (Friedrich Schleiermacher). Kritiker wandten dagegen ein, daß die Sphäre der immateriellen Kommunikation nichts als Terror sei: daß jeder und jede ihre Regungen gleichsam emanieren (ausströmen) müssten, daß es also unmöglich sei, nicht zu kommunizieren, begründe eine terroristische Homogenität. Die Population stelle nicht mehr eine freie Gesellschaft gegeneinander unverwechselbarer Einzelner dar, sondern einen zwangsvereinigten Kollektivkörper mit einer Gruppenphysiognomie.

Gerade am Physiognomischen aber ließ sich der Unterschied zur gewöhnlichen Welt erfassen. Physiognomik war die Erkennungslehre von Körper-Zeichen, die ein Individuum unverkennbar markierten. Das Problem aber war unlösbar, daß eben diese Zeichen nicht nur falsch gelesen und gedeutet werden konnten, sondern daß sie strategisch zur Täuschung eingesetzt wurden: sie enthüllten nicht, sondern verhüllten die wahre Identität einer Person. Das nun sollte in der Sphäre unmittelbarer Kommunikation anders sein. Man drückte dies noch altertümlich aus: die "Denkbilder" und "Neigungen", das innere Leben einer Existenz also, waren, wie es wörtlich hieß, nur Modifikationen des einen universalen Lichts und der Wärme, in die alle gleichermaßen getaucht waren. Der Einzelne war also eine Verdichtung im transpersonalen Gedankenstrom und in den Wogen der Gefühle. Das Medium des Äthers, der mal Licht, mal Wärme war und immer als Transmitter funktionierte, ließ darum keine Entstellung und Verhüllung von Gedanken und Neigungen zu, weil diese nur Einschaltungen des Lichts waren, direkte Erscheinungen des Kognitiven und Emotionalen ohne Bindung an Körper und Ort, dislozierte Figurationen von psychomentalen Realitäten. Dislokation war das entscheidende Merkmal der schwerelosen Kommunikation aller mit allen jetzt und immer. Das hatte weitere Folgen.

Gedanken und Gefühle hörten nämlich nicht mehr auf einen Eigennamen wie in der gewöhnlichen Welt, sondern sie waren sphärisch gestreut, hier und dort zugleich. Damit gruben sie sich nicht länger physiognomisch in einen singulären Körper ein, zu dessen charakteristischen Zeichen sie somit wurden. Da es nicht die Brechung von Gedanken und Gefühlen durch diesen opaken Körper geben konnte, ebenso wenig wie ihre Darstellung durch diesen, fielen Wesen und Erscheinung des Denkens und der Emotionen zusammen. Das konnte man eine absolute Physiognomik nennen. Die Geste war der Gedanke selbst, die Gebärde war unmittelbar das Gefühl. Linguistisch gesehen ließ sich dieses Phänomen auch so ausdrücken: die Trennung von Proposition und Performanz löste sich auf; beide fusionierten, so daß die 'Szene' eines Gedankens, einer Regung, eines Gefühls identisch mit ihrem Gehalt wurde. Man konnte auch sagen: alles wurde zur Post--zur Sendung und Botschaft, und, weil alle dabei froh waren, zur Froh-Botschaft, zum Evangelium. Indem man dachte oder fühlte, waren Denken und Gefühl schon versendet und empfangen. Dieser postalischste aller Akte begründete eine Welt der All-Kommunikation.

Nun stellte sich freilich heraus, daß die immaterielle Sphäre, die so grundverschieden von der materiellen schien, doch nur eine "andere Form des Irdischen" darstellte. Man kommunizierte "auch über die verschiedensten Dinge, wie z.B. häusliche Angelegenheiten, Gegenstände des bürgerlichen Lebens, Dinge des moralischen und des geistigen Lebens" (148). Darum bildeten sich, obwohl alle in dasselbe homogene Medium eingetaucht waren, dennoch Provinzen und Regionen, ja, es entstand eine psychomentale Kartographie des Immateriellen. Dies hatte mehrere Gründe: einerseits lag es daran, daß ein jeder, der in dieses Reich eingeschaltet war, zwar mit allen anderen die gleiche Form annahm, aber durch seine Neigungen und Gedanken eine Inklination, eine Art Richtung und Ausschlag mitbrachte. Man konnte, andererseits, es auch umgekehrt sagen: es herrschte eine Attraktion in Richtung auf das dem Neuankömmling wesensmäßig Verwandte und Nahe, und eine Repulsion des ihm Fremden und Fernen. So bildete sich im Schwerelosen eine andere Gravitation, nämlich eine Ziehkraft hin zum Ähnlichen. Es wuchsen innerhalb des Ganzen und Einen große und kleine Agglomerate, Zusammenschlüsse des Verwandten--und mithin eine differenzierte Geographie von psychomentalen Zuständen.

Diesbezüglich bestand auf der Erde ein ziemliches Durcheinander, weil dort die soziale Geographie sich nach unscharfen Kriterien bildete, wie Armut und Reichtum, Stand und Klasse, Bildung und Wissen, Ethnie und Nation. Z.B. war jemand arm und gebildet, gehörte aber derselben Nation an wie ein Reicher und Dummer. Dadurch war die allzu bekannte Misere der Erde mit all ihren Spannungen und Konflikten enstanden. Dies war im Immateriellen durchaus anders. Zwar nahm die lingua universalis eine gleichsam auktoriale Position ein und beherrschte alle Register der psychomentalen Zustände und Sphären. Ihre gleichsam exekutive und administrative Funktion bestand jedoch darin, daß sich alle Entitäten nach Ähnlichkeiten gruppierten und dadurch "finite Sinnprovinzen" (A. Schütz) bildeten. Die ursprüngliche Konstruktion des immateriellen Reiches veränderte sich dadurch: ihre Idee nämlich, daß alle miteinander und grenzenlos kommunizierten, fand Einschränkungen, ja Verunreinigungen. Zwar entmischten sich die irdischen Agglomarationen, indem Besitz, Stand, Klasse und geographische Herkunft, die für das irdische Chaos so verhängnisvoll waren, keine Rolle mehr spielten. Doch stellten die immateriellen Sinnprovinzen ihrerseits Modifikationen der auch im irdischen Leben dominanten, ja wesenhaften Antriebe und Charaktere dar. Das galt zwar nicht für die Ureinwohner dieses Reiches, wohl aber für den wachsenden Strom der Neuankömmlinge. Sie nämlich führten absichtslos eine duale Aufspaltung des Immateriellen mit jeweils zahlreichen Untergliederungen herbei. Ja, das Immaterielle wurde vor allem durch Prozessoren und Administratoren organisiert, die eine solche Aufteilung vornahmen.

Im großen und ganzen bildeten sich zwei Lager; das eine folgte, im Körperlosen, gleichwohl der Logik des Körpers; und das andere gehorchte der Logik des Geistigen, wobei dieses jedoch, wenn auch immateriell, in körperlicher Form präsentiert wurde. Damit war die Körper-Seele-Dualität, die man überwunden glaubte, wieder unversehens reinstalliert, ja sie bestimmte die Großeinteilung des Reiches in zwei Blöcke, die fast nichts miteinander zu tun hatten. Die körperanaloge Provinz nahm alle Aktivitäten und Antriebe auf, die man in einem moralischen Sinn 'niedrig' nennten konnte: vor allem also Sexualität, Machtgier, Bereicherungswünsche usw. Die geistanaloge Provinz beherbergte dagegen das 'Hochstehende', das Geistige also, die schönen Künste und die Musik, sofern sie mit dem Ethisch-Guten konvergierten. Innerhalb dieser Groß-Regionen bildeten sich nun Sub-Provinzen je nach den Charakteren derer, die ins Immaterielle Einlaß gewannen.

Nun war es ein primitives Mißverständnis der Vergangenheit, daß die Zugehörigkeit zu diesen Provinzen gleichsam verordnet, verhängt oder gar durch Urteil erlassen würde. Das Gegenteil war wahr: die Provinzen entstanden naturwüchsig, wenn man dies von einem immateriellen Reich sagen darf. Denn gerade seine universelle, von allen Masken und Verstellungen befreite, mithin wesensmäßige Kommunikationsform führte zu seiner Aufspaltung. Manche sahen darin eine höhere Ironie walten. Wer ins Reich eingeschaltet war, war es mit seinen Kennzeichen, mit einer charakteristischen Markierung seiner psychomentalen Identität, die gerade nicht vorgegeben, sondern selbst gewählt war. Und weil das Immaterielle nach dem Prinzip der Entsprechung und Korrespondenz eingerichtet war, konnte es gar nicht anders sein, daß eine so oder so markierte Identität--z.B. 'sexueller Wüstling' oder 'reiner Asket'--Anschluß nur fand im Agglomerat der ihm Ähnlichen. Dies kann man den Effekt von Attraktion und Repulsion der wesensmäßigen Neigungen nennen: alles organisierte sich selbst, aber ungeplant, ohne Urteil, aber prozeßhaft, intentional, aber doch über Administratoren verteilt nach Prinzipien der Ähnlichkeit, durch welche die Geographie des Immateriellen schließlich gebildet wurde.

 

2. Zwischenspiel: Religion und Moderne

Ich beende hier meine Erzählung. Es handelt sich um eine etwas verschobene, jedoch in allen Punkten philologisch haltbare Zusammenfassung der Lehre von den Geistwesen und Engeln, die der berühmt-berüchtigte Emanuel Swedenborg (1688-1772) in vielen seiner Werke nach seinem Visionserlebnis 1744 entwickelt hat, vor allem in dem 1758 in London publizierten Hauptwerk "De Coelo et eius Mirabilibus, et de Inferno, ex Auditis et Visis" ("Vom Himmel und seinen Wunderdingen und von der Hölle, nach Gehörtem und Gesehenem"). An diesem Werk biß ein anderer Immanuel, nämlich Kant, sich die Zähne so sehr aus, daß er Swedenborg zu einem Bewohner des Irrenhaus erklären mußte, sich selbst aber gezwungen sah, mit der "Kritik der reinen Vernunft" (1781) jene Verfassung der Aufklärung zu schreiben, auf die fortan zu schwören war, wenn man zur scientific community und nicht zu den Irren gehören wollte. Dabei war Swedenborg eine Figur, die uns heute durchaus vertraut ist: ein Naturwissenschaftler und Technologe von europäischem Rang und unbezweifelten Verdiensten, der freilich an einer bestimmten Stelle seiner Karriere mit dem Cyberspace (oder Ätherraum) in Berührung kam und daraufhin zu dessen Prophet, Verkünder und Propagandist konvertierte. Man mag dabei an Marvin Minsky, Hans Moravec, Frank Tipler oder auch an Marshall McLuhan denken, dessen religiös-magische und romantische Züge unübersehbar sind. Freilich ist es ein großer Unterschied, daß die Cyber-Apostel heute innerhalb eines technischen und mathematischen Paradigmas und auf der Basis kulturell implementierter technischer Systeme operieren. Darum werden sie durch ihre Botschaften nicht zu Anwärtern des Irrenhauses gestempelt. Doch soll es hierauf nicht ankommen.

Vielmehr interessieren mich die sachlichen Parallelen zwischen dem Entwurf einer immateriellen Kommunikation in der Engelswelt und den teils realen, teils phantasierten Prozessen im Cyberspace. Die Absicht meiner Darstellung der Angelologie Swedenborgs samt der Anachronismen, die durch Wortwahl oder indirekte Zitate von Leibniz, Benjamin, Schleiermacher u.a. entstanden,--die Absicht also war, eine Art Ununterscheidbarkeit zwischen den religiösen Phantasmen über Engel, Himmel und Hölle einerseits sowie dem Cyberspace und seinen Bewohnern und Regionen andererseits zu erzeugen: zum Zweck der Irritation. Nun kommt es auf etwas anderes an: denn was ich mit ein bißchen Tricks und Rhetorik einander anähnelte, dies muß ich nun ausführen, begründen, reflektieren.

Natürlich meine ich nicht, daß Swedenborg, der seinerseits auf eine alte Tradition von Angelologie und Himmels-Lehren zurückgriff, eine Theorie des Cyberspace avant la lettre entwickelt habe. Oder daß Cyberspace insgesamt eine technoreligiöse Installation sei, eine Art Weltgesamtkunstwerk des Neuen Jerusalem (vielleicht aber doch?). Indessen bin ich überzeugt, daß im Cyberspace so viele religiöse Motive eingebaut sind, daß es erforderlich und sinnvoll ist, dieses neue technische Environment sub specie der Religion zu analysieren--zum Zweck des besseren Verständnisses. Denn die Gegenwart versteht sich selbst immer schlecht. Darum sind Verfremdungen und "ferne Spiegel" (Barbara Tuchman) angeraten: es kann heilsam sein, wenn wir uns selbst, d.h. uns im Cyberspace, ansehen wie einen fremden Stamm in einem unbekannten Kontinent. Wir benötigen vielleicht dringlicher noch als eine Religionsgeschichte des Cyberspace dessen Ethnographie.

Die weiterreichende Frage, die in mein Spiel eingebaut ist, ergibt sich aus dem angesprochenen Verhältnis von Swedenborg und Kant. Die wenigen Jahre zwischen "De coelo" und der "Kritik der reinen Vernunft" bilden eine epochale Wetterscheide. Swedenborg ist ein letzter Ausläufer der langwelligen Epoche Europas, in welcher die christliche Religion und ihre symbolische Ordnung nicht nur den Deutungsrahmen von Gesellschaft und Geschichte, sondern auch die formierende Kraft des staatlichen und politischen Handelns darstellte. Von den Kantschen Kritiken her datiert eine Epoche radikalen Reflexivwerdens aller tradierten und substantiellen Formen der Kultur, die systematische Verwissenschaftlichung und Technisierung von Natur, Gesellschaft und Lebenswelt sowie die Entkoppelung von Staat und Religion. Danach kann Religion entweder nur noch "innerhalb der Grenzen bloßer Vernunft" Geltung beanspruchen und sie geht als "civil or private religion" genau jener institutionellen Bindungskraft verlustig, welche sie in traditionalen Gesellschaften kennzeichnete. Es mag hier offenbleiben, ob im Effekt dieser Säkularisierung wir unhintergehbar in eine Epoche postreligiöser Gesellschaften eingetreten sind, oder ob die Moderne eine Zeit der Transformation des Religiösen einleitete, weil sich auch in allen modernen Sozietäten ungeheuer viele religiöse Formen ausbreiten. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Moderne von dieser transformierten Religiosität strukturell nicht weniger abhängt als die traditionalen Gesellschaften von den Großreligionen.

Vom Standpunkt einer prinzipiell postreligiösen Moderne aus könnte man Swedenborg und Kant indessen als komplementäre Elemente von Modernisierung deuten und nicht als Ende der einen und Anfang einer anderen Epoche. Kant ist Relais und Moderator einer konsequenten Säkularisierung, während Swedenborg bereits ein Symptom derselben wäre: gerade in der Privatheit, im 'Idiotismus' seiner tiefreligiösen Entwürfe angelischer Kommunikation in der ätherischen Welt; gerade darin, daß Swedenborg der Ausgang einer bis heute anhaltenden sektiererischen Bewegung ist; gerade darin, daß so privat seine Visionen, so zivil deren publizistische Verbreitung und Vergesellschaftung sind; gerade darin, daß seine Erweckung keinerlei Chance auf institutionelle Besetzung des framework der Moderne hat:--gerade an solchen Merkmalen zeigt sich, daß Religiosität in der Moderne immer ein "patchwork von Minderheiten", eine sektiererische bricolage oder eine willkürliche Projektion von Subjektivitäten darstellt, so ursprungshaft und authentisch sie sich geben und so viele Menschen auch immer sie teilen mögen.

Wenn dies so ist, dann ist in der Moderne damit zu rechnen, daß das Religiöse die Form flottierender Energien annimmt, die alles und jedes mit willkürlicher Wucht und mit mächtigen Bindungskräften besetzen können, ganz besonders aber Phänomene des Neuen und Vielversprechenden: seien dies grandiose technische Erfindungen, neue, revolutionäre Bewegungen oder, ganz besonders, neue Medien mit ihren wuchernden Kultformen. Staatsidolatrien der Moderne, Führerkulte, Fetischisierungen im konsumtiven Verhalten, Starkultformen in Politik, Film, TV und Sport, die endlosen Konjunkturen von Paradies-Versprechungen durch neue Techniken, sei's der Medizin, der Energietechnik, der Biologie etc.--all diese religiösen Phänomene einer wilden, weil kaum institutionell rückgebundenen Besetzung und einer heißen, weil nicht reflexiv kontrollierten Dynamik macht es extrem wahrscheinlich, daß eine so bedeutende, vielleicht sogar epochale Implementierung wie der Cyberspace nicht nur ein technisch-kommunikatives, sondern auch religiöses Aggregat darstellt.--Dies also ist in Kürze der Hypothesenhintergrund für die prima facie willkürliche Kombination von Cyberspace und der Swedenborgschen Sprache der Engel.

3. Cyberspace und Sprache der Engel

Ich nehme die spielerische Gleichsetzung von Cyberspace und der Sprache der Engel also in Grenzen ernst. Wenn ich von Cyberspace spreche, so meine ich nicht nur die augenblicklich beobachtbare Dominanz von elektronischem Schriftverkehr, sondern bezeichne damit das globalisierte, multimediale und multisensorische Medium, das alle traditionellen Aktivitäten von Gesellschaften betrifft, also nicht nur Information und Kognition, sondern ebenso das Entertainment und die Lebenswelt, kulturelle Stile und Habitus, die Verkehrs- und Kommunikationsformen, die libidinösen Dynamiken, das technische Operieren und Kontrollieren, die politische Administration und Organisation, den gesamten ökonomischen Sektor, aber auch das Recht und mit ihm die Kriminalität. Cyberspace wächst zum zentralen Medium der Vergesellschaftung und der sozialen Synthesis heran. Und da der Mensch ein soziales Wesen ist, ist es berechtigt, wie Sherry Turkle vom "Life on the Screen" zu sprechen und Fragen nach den spezifischen Existentialien im Cyberspace zu stellen--um so mehr, als wir in Zukunft immer mehr Lebenszeit 'im Netz' verbringen werden und umgekehrt dieses immer mehr unserer Lebensenergien absorbieren wird.

Doch zu sagen, daß wir 'im Netz' 'sind' oder dort 'agieren', meint etwas qualitativ anderes als wenn wir vom Raum der Wohnung zum Arbeitsplatz wechseln oder eine Stadt verlassen und eine andere betreten. Denn Cyberspace ist ein imaginärer Raum, der gleichwohl eine zentrale Relevanz und Orientierungsfunktion übernimmt: und eben das teilen wir mit Figuren wie Swedenborg, die behaupteten, den Schwerpunkt ihrer Existenz im Imaginären zu haben, oder wir teilen es mit Gesellschaften wie der mittelalterlichen, die das materiell-irdische Leben sub specie immaterieller Räume, Himmel und Hölle, organisierten.

Die Grundeigenschaften des Cyberspace entsprechen völlig denen der angelischen Welt Swedenborgs: ultimative Schnelligkeit, die zur Instantialität und Synchronizität von Kommunikationsakten führt; mithin Ortsunabhängigkeit: es ist absolut beliebig, wo jemand ist oder wo eine Information gespeichert wird; dadurch wird eine many-to-many-Kommunikation möglich; deren hohe Binnendifferenzierung wird durch die formale Einheit aller Akteure im Netz aufgefangen. Dislokation, Ubiquität und A-Temporalität erzwingen nämlich eine universale Homogenität der Erscheinungsbedingungen virtueller Existenz und ermöglichen gerade dadurch ein unbegrenztes Maß an Ausdifferenzierung. Das gilt für Swedenborgs Himmel und Hölle nicht anders als für Cyberspace. Die kreierten Existenzen sind allerdings nicht Engel, Tote oder Schamanen (Jenseitsreisende), sondern MUDS, intelligente Agenten, Avatare. Man spricht auch von Schatten im Netz. Schatten sind die virtuellen Identitäten, die durch ihr Dasein und Agieren im Netz immaterielle Spuren hinterlassen. Sie können, aber müssen keinerlei Referenz auf irgendeine Existenz, auf ein namentliches Individuum der Erde aufweisen. Sie sind die wahren Engel, während wir, die wir gewöhnlich noch unter unserem Namen ins Netz gehen und es wieder verlassen, eher routinisierte Schamanen sind, die zwischen systematisch getrennten Wirklichkeitsebenen hin und her zu wechseln verstehen. Entscheidend aber ist, daß virtuelle Existenzen kreiert werden können, die keinerlei Referenz auf einen Körper aus Fleisch und Blut mehr aufweisen. Sie haben keine Adresse, sondern sie sind eine Adresse, d.h. der Code ihrer selbst, der sie sende- und empfangsfähig macht, also kommunikativ, agent und auto-mobil.

Diese virtuellen Identitäten oder Avatare werden gewöhnlich noch von realen Menschen am Rechner gesteuert. Sie haben mit diesem Real-Menschen aber nichts zu tun, sondern sind codierte Emanationen von dessen Einbildungskraft: also Geistwesen. Ihre Attraktivität besteht darin, daß sie schwerelose Spielfiguren: sind: sie haben keine Biographie und keinen raumzeitlichen 'Sitz im Leben'. Virtuelle Existenzen haben sich der Last des Biographischen entledigt, sie sind "jenseits von Gut und Böse" (F. Nietzsche). Sie sind also keine für sich und ihr Agieren verantwortlichen Individualitäten, sondern bloße Erscheinungen oder Modifikationen des Lichts, wie Swedenborg sagen würde, also nichts als Codierungen, wie wir sagen. Virtuelle Existenzen haben Adressen, wohnen aber nirgends; sie sind ohne Namen, auch wenn sie angeschrieben werden können. Namen sind unveräußerliche Bezeichnungen eines Individuums, das durch seinen Namen vertreten und repräsentiert wird. Die Adresse einer virtuellen Existenz indes trägt auch dann keinen Namen, wenn sie einen solchen enthält: denn Namen im Virtuellen sind nur Spielmarken, sie referieren auf kein Ich, sondern sind persona, eine Maske, doch ohne Gesicht dahinter. Das gilt auch dann, wenn 'Ich selbst' es bin, der irgend ein Avatar als Spielfigur meiner selbst geschaffen und mit Namen und Adresse versehen hat. Ich mag also 'hinter' einer Adresse stehen, aber sie gibt gerade keinen Aufschluß über mich, sie führt auch nicht zu mir, sondern sie ist in gewisser Weise absolut, sie erschöpft sich in sich selbst und in ihren virtuellen Emanationen.

Ist das wirklich so? Angenommen, ich figuriere im Cyberspace als 20jährige radikalfeministische Frau, als Kaiser von China oder Gilles de Rais--: dann, so wird ein Beobachter sagen, gibt es eine Referenzbeziehung zwischen diesen Spielidentitäten und 'mir selbst', indem in ihnen mein Unbewußtes, meine Leidenschaften, meine Interessen etc. 'Ausdruck' finden. Doch dies ist von einer Position 'in dieser Welt' aus gesagt. Im Cyberspace gibt es diesen Beobachter nicht und es gibt deswegen auch nicht diese möglichen Referenzen bzw. sie sind gleichgültig. Es ist mithin unsinnig, die Lustmorde, die ich als Gilles de Rais begehe, mir psychologisch oder moralisch zurechnen zu wollen. Oder zumindestens gibt es den Schein, als ob es diese Referenz nicht gäbe. Im Netz bin ich 'Niemand', auch wenn ich 'Gilles de Rais' heiße. Das nenne ich Maske ohne Gesicht, das in jener verborgen wäre. Die Maske, bzw. der intelligente Code, findet im Cyberspace sein und genau sein Milieu, seine 'Szene'--oder nichts: und dann wird 'Gilles de Rais' abgeschaltet. Die Einschaltung von 'Gilles de Rais'--mit Swedenborg zu sprechen: seine Gegenwart als Welle oder Atmosphäre-- wird sich mit seinen Korrespondenten zusammenschließen, den Opfern und Dienern, mit Jeanne d'Arc, mit den Richtern und dem Henker--mit wem immer auch: der Code 'Gilles de Rais' begründet eine finite Sinnprovinz innerhalb des Cyberspace, mit spezifischen Interaktionspartnern und Korrespondenten, Aktionsmustern, Rollen, Konflikten in endlos möglichen Variationen. Finit aber ist diese Provinz aus folgendem Grund: genauso, wie es feststeht, daß dann, wenn Gilles de Rais das Jenseits betritt, er immer in der höllischen Sphäre des sexuellen Lasters verbleibt und niemals ein Sänger im himmlischen Chor sein wird, so ist es auch völlig undenkbar, daß man, mit dem Code 'Gilles de Rais' in den Cyberspace geschaltet, sich in einer Datenbank für Chemie wiederfindet und nicht im Milieu der Lustmörder und ihrer Opfer. Und doch agieren der Chemie-Professor an der Ruhr-Universität Bochum und der Avatar Gilles de Rais in einem absolut homogenen Medium, nach denselben Regeln, in der gleichen Form. Sie sind beide Modifikationen derselben Universalsprache.

Ich behauptete, daß virtuelle Identitäten oder Avatare keine Referenz auf ein namentliches Individuum aufweisen. Das ist technisch nicht ganz richtig, weil--wir haben es erlebt--im Falle einer virtuell ausgeübten Kriminalität es möglich ist, die elektronische Spur auf reale Personen zurückzuverfolgen. Insofern wird es im Netz immer Administratoren, Kontrolleure, virtuelle Polizeien geben. Im Grenzfall besteht also eine Behaftbarkeit einer Person aus Fleisch und Blut für seine Agenten im Cyberspace. Und für viele Verkehrsformen im Netz, wie e-mail, elektronisches banking oder shopping, für wissenschaftliche Kommunikation, für staatliche oder städtische Verwaltung von Realbevölkerungen via Datenbanken und Netzkommunikation ist die technische Identifizierung der Realität einer Person oder Institution hinter einer Adresse die Voraussetzung dafür, daß Kontakte überhaupt zustandekommen. An all diesen Segmenten läßt sich gut ablesen, daß Cyberspace weitgehend die ins Virtuelle verschobenen Verhältnisse der Real-Gesellschaft darstellt, so wie bei Swedenborg Himmel und Hölle nur spezifische Ver-rückungen der irdischen Welt sind.

Interessanter als diese Fälle aber sind die telepathischen und telekinetischen Effekte, die außer in technischen und militärischen Segmenten vor allem im virtuell-medialen Entertainment zukunftsträchtig zu sein scheinen. Hier geht es um multisensorische Erweiterung des Aktionsradius der Lüste und Vergnügen. Dafür ist die Referenz auf die empfindende Person dringend aufrechtzuerhalten, allerdings ohne daß diese Person dabei von den üblichen sozialen Obligationen und Risiken belastet wird, die zur Ökonomie der Lüste gehören, wenn sie sich zwischen Menschen abspielen. Es geht also darum, ein Medium des Eros und des Vergnügens zu kreieren, bei dem die Interfaces zwischen Körper und Cyberspace so eingerichtet sind, daß sie für alle Sensationen durchlässig sind, zugleich aber alle biographischen Identitäten, alle moralischen und hygienisch-medizinischen Risiken, alle fleischlichen Schäbigkeiten und charakterlichen Erbärmlichkeiten herausfiltern. Die Vorteile dessen, was schon Robert Musil als "Fernliebe" (im "Mann ohne Eigenschaften") pries und was heute die Form der telekinetischen und telepathischen Liebe annimmt im Zeitalter von Aids, von Beziehungsängsten und gender trouble, von Sexualneurosen und crossover-Lüsten--: diese Vorteile sind zu groß und verlockend, um nicht schon heute, trotz imperfekter technischer Realisierung, bereits 40% des gesamten Netzverkehrs auszumachen. Tatsächlich kommt es hier darauf an, das Auge, die Ohren, die Haut und natürlich die Phantasie mit den virtuell agierenden Partnern zusammenzukoppeln--aber ohne die belastenden Beziehungsmiseren der Realität. Hier also geht es um moralische und psychische Entlastung von Referenz bei gleichzeitiger Steigerung der medialen Sensorik. Was bei Swedenborg den himmlischen Verkehr ausmachte, nämlich die absolute Physiognomik, durch welche jede eigene Regung unmittelbar im Partner präsent wird, das wird heute als technisches Projekt eines Cyber-Gartens der Lüste realisiert. In gewisser Hinsicht bedeutet dies eine absolute Steigerung der Performanz, der Ebene also von Darstellung, Inszenierung, von Rhetorik und Theatralisierung der sinnlichen Lüste. Vielleicht ist dies die letzte Stufe der Kolonisierung der Sinne im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Es werden dem Körper seine Empfindungen technisch enteignet und zugleich wird der Körper zum Echo der technoimaginären Entfesselung ungeahnt entlasteter Sensationen gemacht. Das mag ein neuer Himmel sein.

Jedenfalls wird die Mediatisierung des Körpers und der Sinne, die schon heute weit vorangetrieben ist, zunehmen. Im Grenzfall mag der Körper durch seine technoimaginären Inszenierungen abgelöst, bzw. wie im Mittelalter, als erbärmlicher Madensack auf der Erde zurückgelassen werden, um seine lustvolle Resurrektion im Cyberspace zu bewerkstelligen. Der Körper ist tot! Es lebe der virtuelle Leib!, möchte man in Verlängerung der mittelalterlichen Lehre von den zwei Körpern sagen. Andererseits sind heute allenthalben kulturelle Anstrengungen zur Rückgewinnung des Körpers zu beobachten: der Körper boomt, vor allem der fitness-Körper, der freilich wesentlich nur zu seiner Darstellung trainiert wird. Der Körper, der wir qua Natur sind, scheint altes Eisen zu sein, ein Relikt, eine Barriere, die es zu überwinden gilt. Vielleicht sind die vielfältigen Körper-Kulturen, die heute zu beobachten sind, auch nur ein Reflex seiner Abdankung als Mitte unserer Existenz--so wie die Buchkultur niemals so reich und vielfältig war wie heute, im Augenblick des Endes der Gutenberg-Galaxis. Man wurde dessen, was eine Sache gewesen ist, oft nur inne in Reflexion ihres Endes. "Roma aeterna" wurde erkannt im Augenblick, als der Satz "Roma fuit" ins Bewußtsein drang. So mag es auch mit dem Körper sein. Vielleicht aber ist die Steigerung und Plastizierung des Körpers auch nur eine weitere Stufe im Prozeß seiner qualitativen Über-Steigung. Denn der Zug, den Körper zu perfektionieren, zu bemeistern und zu übersteigen, ist ein jahrhundertealter Impuls der europäischen Kultur im Zeichen ihrer Intellektualisierung, die nun die Stufe ihre technischen Machbarkeit erreicht hat: das Gehirn mit einem multisensorisch perfektionierten Cyberspace verkoppelt, wäre das größte denkbare erotische Organ. So gesehen wäre der Cyber-Leib die Vollendung unserer Kultur, ihr wahrer Himmel--oder ihre wahre Hölle.

 

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Böhme, Hartmut: Enträumlichung und Körperlosigkeit im Cyberspace und ihre historischen Vorläufer; In: Theisen, Bianca (Hg.): Modern Languages Notes 115 (2000), S. 423–441.