In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, Bd. XLII (1998), S. 476-485.

Hartmut Böhme

Zur Gegenstandsfrage der Germanistik und Kulturwissenschaft


Ziemliche Unübersichtlichkeit

Kürzlich habe ich folgende Definition gewagt: "Kulturwissenschaft erforscht die von Menschen hervorgebrachten, sozialen wie technischen Einrichtungen, die zwischen Menschen gebildeten Handlungs- und Konfliktformen sowie deren Werte- und Normenhorizonte, insbesondere insoweit diese zu ihrer Konstitution, Tradierung und Entwicklung besonderer Ebenen der symbolischen und medialen Vermittlung bedürfen." Man wird zu solchen komprehensiven Definitionen und ihrer Begründung gezwungen, weil der Name Kulturwissenschaft zwar in den letzten zehn Jahren eine steile Karriere durchlief, das Fach Kulturwissenschaft, seine disziplinäre Struktur und curriculare Organisation sowie sein Gegenstandsfeld jedoch, um es milde auszudrücken, unbestimmt sind und zunehmend auf das Mißtrauen der KollegInnen in den Nachbarfächern stoßen. Überflüssig zu sagen, daß obige Definition die Frage des Gegenstandes der Kulturwissenschaft nicht löst, sondern sogar ein Symptom des Problems darstellt. Nämlich: zu weit, unterdeterminiert, zu unspezifisch. Gibt es überhaupt einen für die Kulturwissenschaft charakteristischen Gegenstand? Ich wäre in diesem Augenblick lieber Kunsthistoriker, Philosoph oder Germanist. Auch hier gibt es Gegenstandsprobleme, doch sind sie im Vergleich mit denen der Kulturwissenschaft überschaubar, sie haben 'Kerne', sie haben Traditionen, und sie sind keine 'Konstruktionsprobleme', handeln also nicht von der Neu-Gründung eines Faches, sondern von den Entwicklungsperspektiven etablierter Disziplinen.
 

Da ich gerade an der New York University bin, gibt mir dies eine Möglichkeit, das Problem des Gegenstandes gewissermaßen nach Posteingang zu beschreiben. Es stellt sich in der Kulturwissenschaft besonders krass, nicht nur für jemanden, der zwei Jahrzehnte in der Neueren deutschen Literatur gearbeitet hat. Hier glaubte ich zu wissen, was der Gegenstand der Literaturwissenschaft ist, hatte jedenfalls nicht den Eindruck, daß mir dieser abhanden kommen könnte. Ich erzähle also, was für Probleme mir auf den Schreibtisch kommen. Die Frage des 'Gegenstandes' der Kulturwissenschaft springt einen dabei an.
 

Eine Dissertation ist zu begutachten über die Kulturgeschichte der Haut (literarische, kunsthistorische, medizinische, anthropologische, perzeptionstheoretische Quellen). Das Gutachten für eine Habilitationsschrift steht an: Sie ist die Studie eines Wissenschaftlers, der Germanistik und Ethnologie studiert und nun eine empirisch-ethnologische Untersuchung über die scientific community des CERN in Genf geschrieben hat. Eine weitere Habilitation über die "Bewältigung von Geschwindigkeit" macht einem ehemaligen Germanisten weniger Mühe, weil sie über Musil und Benjamin handelt. Ein Student aus dem Seminar über "Stadt-Räume" schickt sein Referat: Er hat sich als Gegenstand 'Die Baustelle' ausgesucht und plagt sich mit dem Problem, daß er aus verschiedenen Wissenschaften seinen Gegenstand, den es tausendfach 'gibt', kulturwissenschaftlich erst 'erfinden' muß. Eine Studentin aus demselben Seminar sendet ein Exposé für eine Magisterarbeit über das Phänomen 'Keller'. Ich kommentiere ihren Entwurf und empfehle ihr die Lektüre einer kürzlich bei mir geschriebenen Magister-Arbeit über "Verschlossene Räume". Ein Informatiker und Mathematiker, der bei mir promovieren möchte, mailt sein Exposé über "Kulturelle Auswirkungen des Internet". Nebenher lese und benote ich ein Referat über die Goldhagen-Debatte. Ein weiteres Dissertations-Expoé trudelt ein: "Metaphern des Übergangs. Versuch einer Kulturtheorie der Grenze". Die Doktorandin hatte zuvor, als Slawistin, eine Magisterarbeit über Soldaten an der sowjetischen Grenze in den 30er Jahren geschrieben. Ein Kollege aus Chicago bittet um Betreuung und Gutachten seines Projekts "The Rhetoric of Cultural Discourse: Jews and Germans in the Epoch of Emancipation". Eine hiesige Studentin engagiert mich als adviser für ihre Magisterarbeit über den Indologen Heinrich Zimmer (Schwiegersohn von H.v. Hofmannsthal). Ein Kollege aus Greifswald lädt mich zu einem Vortrag ein über die "Dialektik der Aufklärung". Ein Dozent der University of Sri Jayewardenapura, Sri Lanka, fragt an, ob er bei mir über Popular Culture and Mass Communication eine Dissertation schreiben könne. Die Schweizerische Lucerna Stiftung lädt mich ein zu einer Tagung "Die wissenschaftlich-technische Entmaterialisierung der Welt. Archäologie der Materialien". Beinahe täglich gehen e-mails hin und her wegen der Vorbereitung von Konferenz und Ausstellung "Interface V: Die Politik der Maschine". Neben dem Text, den Sie gerade lesen, habe ich hier noch einige andere zu schreiben: über "Fetisch und Idol, Sammlung und Erinnerung" bei Goethe (endlich vertrautes Gelände); ein Lexikon-Artikel zum Stichwort "Kulturwissenschaft" ist fertig zu machen (auch das ist nicht fremd); ein Konferenzbeitrag über Beschleunigung in den Wissenschafts- und Medienentwicklungen wartet auf Abgabe; ein Artikel über das Verhältnis von Literatur und Ökologie steht mir eher bevor; ein fälliger Essay über das von der EU geförderte Kunstprojekt einer italienischen 'Luft-Skulpteurin', die, kooperierend mit ars electronica Linz, zwischen mehreren europäischen Städten mit Brieftauben arbeitet, hat dazu geführt, daß ich Literatur über 'Brieftauben als Medien' nach New York gebracht habe. Für eine internationale Ausstellung "Die Zukunft der Büroarbeit" ist ein Katalogbeitrag über die Virtualisierung von Arbeit zu liefern. Ich höre auf. Das Problem ist klar.
 

Man muß sich über Bedarf und Motivation nicht beklagen. Die Berliner Erfahrung ist: Viel zu viele Leute, die sich in ihren Herkunftswissenschaften aus (guten und weniger guten) Gründen nicht mehr aufgehoben sehen, drängen in das Fach Kulturwissenschaft. Die Diffusität des Faches erscheint manchen geradezu als das Neue Jerusalem. Die New Yorker Erfahrung mit der Germanistik zeigt, was man überall in den USA, entweder noch als Streitfrage diskutiert oder bereits entschieden, beobachten kann: wird die Germanistik noch eine Philologie mit eigenem Kanon sein, sich in German Cultural Studies transformieren oder zu einem Zweig der Comparative Literature werden? Auch hier geht es um empirische Nachfrage und theoretische Zielkonflikte. Mit den Kollegen in den USA kann man über den Verbleib des Gegenstandes der Germanistik bestens diskutieren. Sie stehen unter erheblichem Entscheidungsdruck ö ohne den Schutz im Rücken, den für die deutsche Germanistik immerhin die Tatsache bietet, daß sie (zuerst) Muttersprachenphilologie ist (und bleiben muß). Die Ungewißheit in den USA über die Zukunft des Gegenstandes der Germanistik läßt mich die überfordernde Gegenstandserweiterung in der Kulturwissenschaft weniger dramatisch empfinden als in Berlin.
 

Ich will jedoch zuerst, aus doppelter Ferne, die These vorstellen, daß der Gegenstandsverlust der Germanistik eingebildet ist. Wer seinen Gegenstand verliert, ist selber schuld. Die Literaturwissenschaft, sagt W. Barner zurecht, ist eine Kunstwissenschaft. Dies ist ihr Kern. Diesen zu vernachlässigen, käme einer Selbstliquidation der Literaturwissenschaft gleich. Germanisten, die sich nicht zuerst als Kunstwissenschaftler verstehen, gehören nicht ins Fach oder höchstens zu seinen Rändern. Es gibt für die Legitimation der Germanistik nur zwei Fragen: (warum) muß es diejenige Kunst geben, die wir Literatur nennen? Die Frage gilt historisch und aktuell. Und: warum muß es neben dem primären Gebrauch von Literatur (das Lesen) eine Expertenschicht geben, die sich professionell mit der Erklärung der Literatur beschäftigt? Es gibt zwei Richtungen, in denen der praktische Nachweis für die fragliche Legitimität geführt werden kann. 1. Die bloß historische Faktizitat der Literatur wird mit theoretisch überzeugenden Gründen legitimiert. Will sagen: Die Literatur weist besondere Eigenarten und Leistungen auf, die von anderen wertbesetzten kulturellen Aktivitäten ö wie z.B. Musik komponieren, Mathematik machen, Stoffe veredeln, bewegte Bilder herstellen ö nicht oder nur schlechter ersetzt werden können. 2. Das Spezifische der Literatur, das historisch jeweils anders ausdifferenziert ist, bildet den Kern der Legitimiation auch der Literaturwissenschaft. Diese aber gewinnt ihre eigentliche Rechtfertigung nicht deswegen, weil Literatur nicht substituierbar ist, sondern weil man ö jedenfalls seit der Neuzeit ö den kulturellen Wert der Literatur nur dann hinreichend entfaltet, wenn man sie professionell erklärt. Man muß also die Erklärungsbedürftigkeit der Literatur erklären, um sich als Wissenschaftler der Literatur zu begründen.
 

Es kann sein, daß der Wert der Literatur historisch irgendwann gegen Null tendiert oder daß die Literatur nicht mehr einem Typus angehört (wie z.B. in oralen Kulturen), der notwendig der professionellen Auslegung bedarf. Beides ist gegenwärtig nicht der Fall, selbst wenn man konzidiert, daß der Status der Literatur sich durch die Entwicklung der audiovisuellen und digitalen Medien dramatisch verändert. Es scheint mir vorläufig unbestreitbar daß a) Literatur historisch wie gegenwärtig einen begründbaren Wert darstellt, b) Literatur erklärungsbedurftig ist, und c) daß es deswegen mit gutem Grund Literaturwissenschaftler gibt. Literatur ist ein Wert erster Stufe, und weil (b) gilt, ist Literaturwissenschaft ein davon abgeleiteter Wert zweiter Stufe. Kann man mit Luhmann sagen, daß Literatur eine Beobachtung erster Stufe der Gesellschaft ist, so ist Literaturwissenschaft eine notwendige Beobachtung der Beobachtung, weil Literatur zwar keine kulturelle Selbstverständlichkeit hat, doch aber eine für die Gesellschaft wertvolle Zunahme an Beobachtungshorizonten darstellt.
 

Das Gegenstandsproblem der Germanistik scheint mir also lösbar. Das heißt nicht, daß Literaturwissenschaft sich nur auf den Kunstcharakter der Literatur konzentrieren könnte und also endlich bleiben dürfe, was sie immer schon war. Mag sein, daß man der Anstrengungen müde ist, die den Literaturwissenschaftlern 'von außen', sprich: nicht von der Literatur, zugemutet wurden. Dies überzeugt nicht. Wenn man behauptet, der Kunstcharakter sei das Non-Aliud der Literatur, muß man, dies gebietet die Logik, hinreichend viel von dem verstehen, was das Aliud der Literatur ist. Damit behaupte ich, daß diejenigen Literaturwisenschaftler am ehesten den Kunstcharakter der Literatur verstehen (nicht als Kunstkenner, sondern Kunsterklärer), wenn sie viel wissen von den umgrenzenden, ja auch fernliegenden Feldern anderer kultureller Praktiken. Die Sensibilitat literarischer Wahrnehmung steigt mit dem Grad kultureller und sozialer Wahrnehmung. Wahrnehmungsfähigkeit ist die Voraussetzung wissenschaftlichen Auslegens oder Erklärens. So gesehen kann man die Gegenstandsstruktur oder das Formaggregat der Literatur allerdings als vorrangiges Erkenntnisziel bezeichnen.
 

Literatur ist ferner ein unter spezifischen Bedingungen hergestellter und als solcher gebrauchter kultureller Gegenstand. Formen sind in dieser doppelten Perspektive 1. hochelaborierte kulturelle Praktiken im Feld anderer kultureller Praktiken und 2. (sich wandelnde) Funktionen. Hier geht es nicht mehr ausschließlich um Kunstcharaktere, sondern um deren funktionale Rückbindung an kulturelle Konstellationen. Das bietet den Produktions-, Intertextualitäts- und Rezeptionstheorien keine besondere Schwierigkeit. Selbstverständlich gehört hierzu die Analyse der Literatur als Medium, das an die historische Entfaltung der (technischen) Medien und der Intermedialität gebunden ist, ohne semantisch und ästhetisch in ihnen aufzugehen. Deswegen war die Literaturwissenschaft gut beraten, daß sie kultur- und medienwissenschaftliche Dimensionen aufgenommen hat: dies ist von der Literatur selbst her geboten. Nur Literaturwissenschaftler, die den Status der Kennerschaft nicht verlassen und keine Wissenschaftler sein wollen (wie viele Literaturkritiker und Leser), können diese Erweiterung der Literaturwissenschaft mißbilligen (wie U. Greiner oder K.H. Bohrer). Als Beobachter des kunstvollen Beobachtungssystem Literatur können wir jedoch nicht anders, als ö eben das System Literatur miterforschen wollen, um erst dadurch das spezifisch Literarische zu verstehen.

 
Literatur ist aber nicht nur kulturelle Praxis und Funktion, sondern auch ästhetische Darstellung, will sagen: die ästhetische Codierung von Sachverhalten (kulturelle Semantiken), die nur in dieser Codierung kommunizierbar werden. Sie ist, anders gesagt, eine besondere Thematisierungs- oder Perspektivierungsstrategie, durch die Bedeutungen erzeugt werden. Es wäre absurd, diese Bedeutungen nicht zum Gegenstand der Literatur zu machen. In ihnen verdichtet sich das Potential der Literatur als ausgezeichnete Form der Selbstbeobachtung von Gesellschaften. Es ist seiner Struktur nach infinit. Wissen departmentialisiert sich, bildet Disziplinen und Fachwissen. Literatur differenziert sich dagegen formspezifisch aus, dies ist die Weise, wie thematisiert wird; das Was des Thematisierten aber hat keine Grenzen. Formspezifische Thematisierung und Entgrenzung dessen, was überhaupt Thema werden kann, stehen in charakteristischen Verhältnissen, in denen sich die Positionsmannigfaltigkeiten entwickeln, die Literatur zur umgebenden Kultur aufnimmt. Daß also die Semantik von Darstellung und Dargestelltem grundsätzlich infinit ist, hat für den Literaturwissenschaftler zur (fatalen) Folge, daß er eine Kompetenz für die semantischen Potentiale von Literatur wenigstens insoweit haben muß, wie dies zur Erkenntnis der Literatur notwendig ist. Darum arbeitet er eo ipso interdisziplinär. Sich dagen zu wehren, hieße, sich gegen die Literatur selbst zu wehren.

 
Wenn man sich auf diesen Rahmen einigen und auf dessen Voraussetzung, daß sein Zentrum die Kunstform Literatur ist, verständigen könnte, gäbe es noch genug Probleme, aber nicht den drohenden Verlust des Gegenstandes. Man könnte eine interdisziplinäre Literaturwissenschaft entwickeln, in welcher für bestimmte Fragestellungen und Gegenstände es auch möglich wäre, Hierarchien für das zu mobilisierende Wissen anzugeben. Es würde eine liberale Konkurrenz, aber nicht ein eliminativer Methodenstreit herrschen. Es könnte viel Lust an der Arbeit und weniger verbitterte Griesgrämigkeit entstehen, die man allenthalben an deutschen Universitäten beobachtet. Wenn man dagegen aus der Literaturwissenschaft eine Medienwissenschaft oder Medienkulturwissenschaft oder Sozialgeschichte usw. machen will, sollte man sagen, daß man keine Literatur-Wissenschaft mehr will. Dies aber nicht zu sagen, doch die Germanistik mit Programmen ihrer Selbstaufgabe zu überziehen, heißt, aus ihr einen Joker für das eigene Spiel zu machen. Das würde ich mir als Germanist nicht gefallen lassen, gleichwohl aber unterstützen, daß es Medienwissenschaften, Kulturwissenschaft, Performance Studies usw. an deutschen Hochschulen gibt. Eine Germanistik, die alles vereinnahmt, was entsteht, und dies jeweils zu ihrer neuen Mitte erklärt, verschluckt sich.


Kulturwissenschaft auf der Suche nach ihrem Objekt

 Vielleicht sollte man die Kulturwissenschaft eine Weile in Ruhe lassen, bis an Hand hinreichend vieler Arbeiten, die sich kulturwissenschaftlich nennen oder so eingeschätzt werden, in einer Meta-Studie untersucht werden kann, wie diese Arbeiten eigentlich funktionieren, wie sie ihre Fragen gewinnen, welche Methoden sie mobilisieren, welche Kompetenzen sie voraussetzen, welche Ziele sie verfolgen, wie ihre Gegenstände profiliert werden. Man könnte dann mit empirischem Grund sagen: so also ist und arbeitet Kulturwissenschaft. Dafür ist die Zeit zu früh. Statt dessen befindet man sich, wie in Gründungsphasen üblich, in einer Phase divergierender Grundsatzerklärungen und, siehe oben, schwer vereinbarer Arbeitsfelder. Die gegenüber den USA weniger aufgeschlossenen deutschen Universitäten und die staatlichen Sparmaßnahmen geben für eine wünschenswerte konzentrierte Erprobungsphase keinen Raum. Darum steht das junge Fach, das in Berlin so und in Passau ganz anders und in Tübingen nicht vergleichbar mit Bremen oder Münster gelehrt wird, unter objektivem Streß. Es scheint nur so, als herrsche in der Kulturwissenschaft die Freiheit, sich alles Mögliche und am liebsten das Attraktivste aus anderen Fächern zusammenzuklauben, um daraus eine interessant moderierte Diskurskunst zu entwickeln. Jeder halbwegs mit der Universität Vertraute weiß, daß die Abrechnung kommt. Wie sie kam für die werkimmanente Methode, die Sozialgeschichte, den Strukturalismus, den Dekonstruktivismus, die Diskursanalyse etc. An den 'Moden' der letzten Jahre ist aufschlußreich, daß keine wirklich untergegangen ist, wenn sie es nur zu einer gewissen theoretischen Reife und zu überzeugenden Analysen gebracht hat. Insgesamt haben die 'Wellen' zur Komplexitätssteigerung der Wissenschaft als zu ihrem Guten beigetragen. Daraus muß die Kulturwissenschaft, die auch als 'Mode' ö doch auch aus guten Gründen ö entstand, die Lehre ziehen, daß sie nur einige Jahre Zeit hat, sich zu einem bewährten 'Modell' zu mausern. Dann hat sie eine Chance, aus der unsinnigen Rolle, irgendwie eine Avantgarde zu bilden, zurückzutreten und ein normales, vermutlich kleines Fach zu werden, das in besonderer Weise talentiert sein muß, interdisziplinär zu agieren, Gegenstände zu entdecken, Fragestellungen zu moderieren, auf andere Wissenschaften zu reagieren, aktuelle Trends der soziokulturellen Entwicklung auszumachen, Revisionen historischer Lesarten vorzunehmen, geschichtlich Vergessenes zu erinnern. Das sagt nicht viel, aber doch, daß auch dann, wenn die Kulturwissenschaft sich als Fach etablieren sollte, sie eine Art Relaisfunktion behalten wird. Diese Funktion wird durch die Spezialisierung der Wissenschaften strukturell erzeugt. Die Germanistik hat in ihrem Innovationsdelirium dies auch versucht. Nicht ohne Erfolg. Sie hat aber übersehen, daß sie dabei die Verantwortung für ihren Gegenstand oft verletzt hat. Dies ist in der Kulturwissenschaft anders. Denn in gewisser Hinsicht ist ihr Gegenstand gerade das Relais. Wenn sie selbst zu einem wird, täte sie dies in Referenz auf das, was ihren Gegenstand ausmacht: das Schalten und das Verschaltete. Es wäre kein Verrat an ihren Gegenständen.

 
Dies möchte ich an nur einem Beispiel erläutern. Ich nehme das obige des Studenten: die Baustelle. Es ist extrem und deswegen symptomatisch. 1. Es handelt sich hierbei nicht um einen Text. Die Kulturwissenschaft kann und darf sich nicht auf textuelle Objekte einschränken, nicht einmal auf im weiteren Sinne medial oder symbolisch konstituierte. 2. Baustellen sind keine im engeren Sinn kulturellen Objekte, sondern institutionalisierte, komplexe technische Prozesse ephemerer Natur. Mit diesen Aspekten beschäftigen sich Bauingenieurwissenschaft, Maschinentechnik, Arbeitswissenschaft, Architektur, Statik, Stoffkunde, evtl. Baugeschichte (z.B. Bauhüttenwesen im Mittelalter, römisches Bauwesen), im weiteren Betriebswirtschaft, Soziologie (Urbanistik), Jura (Baurecht etc.), Historie (z.B. Geschichte der Bauarbeitergewerkschaft). 3. In keiner Wissenschaft findet man Versuche zu bestimmen, was überhaupt eine 'Baustelle' ausmacht oder wie sie historisch wahrgenommen wurde. Insofern hat der Studierende etwas 'entdeckt'. Dies kann man ein Indiz kulturwissenschaftlicher Arbeit nennen: sie 'entdeckt' ihre Objekte. 4. Sie 'schafft' sie jedoch nicht neu - es gibt diese Objekte -, und sie benutzt in jedem Fall das Wissen, das hinsichtlich eines kulturwissenschaftlich perspektivierten Phänomens in anderen Wissenschaften entwickelt wurde. 5. Im Verhältnis zu diesem Wissen akzentuiert die Kulturwissenschaft eine 'andere', vielleicht auch 'neue' Perspektive, die etwas an dem Phänomen zu erkennen gibt, das anders und vorher nicht erkannt wurde. Was waren solche kulturwissenschaftlichen 'Perspektivierungen'?

 
6. Ich nenne rhapsodisch einige Punkte. Ich gehe nicht darauf ein, daß 'Bauen' ein zentraler Kulturmechanismus ist, ohne den das, was weite Teile der 'materiellen Kultur' ausmacht, nicht verständlich und schon deswegen der Untersuchung wert wäre. Ich nenne andere Aspekte: eine Baustelle ist ein temporal bestimmtes, räumlich aggregiertes Gebilde, das sich über bestimmte semiotische Abgrenzungsakte 'markiert' und von der Umgebung abhebt. 'In' der Baustelle herrschen andere Regeln und Normen als 'außen': eine besondere Innen-/Außenbeziehung ist für Baustellen charakteristisch. Das hat zweierlei zur Folge: 'In' der Baustelle bilden sich 'ephemere' kulturelle, heute oft auch multikulturelle Gemeinschaften, die keineswegs nur arbeitssoziologisch beschrieben werden können. Sie verfügen über historisch wandelbare, spezifische Mentalitäten, Symbolformen (z.B. Feste), kulturelle Vergemeinschaftungen (besonders wenn Wohnen und Arbeiten kombiniert sind, Männergesellschaften), Prestigemuster und Autoritätsstaffeln, Werte und Normen (womit nicht Arbeits- oder Sicherheitsnormen gemeint sind), Kommunikationsstrukturen (z.B. bei Arbeitern verschiedener Sprache), gewerkegebundene Traditionen (z.B. die Zimmerleute). Von 'außen' werden Baustellen (ästhetisch) wahrgenommen, besprochen, beobachtet, besucht ("Schaustelle Berlin", Baustellentourismus), im weiteren Sinn: sie werden kulturell begleitet (Baugeschichte z.B. von Kathedralen, Schlössern). Baustellen haben (oft) eine Faszinationsgeschichte. Sie haben für 'die da draußen' oft aber auch negative soziale, kulturelle, ästhetische Auswirkungen (Konflikte, Behinderungen, Verschlechterung der Lebensqualität, Widerstandsformen dagegen). Die Entwicklung von Bautechniken verändert, revolutioniert zuweilen die 'kulturelle Gemeinschaft' der Baustelle. Symbolische Hintergründe (Sakralbauten, Herschaftsbauten, Zweckbauten) bestimmen Baustellen ebenso wie soziale Hintergrundsstrukturen (Sklavenhaltergesellschaft bei Pyramidenbau, Zunftwesen etc.) bis in ihre inneren Feinstrukturen hinein. Kulturelle und symbolische Hintergründe spielen eine tragende Rolle (mythische, magische, religiose Symbolformen des Bauens, Bauen als Kulturprozeß, Bau-Heroen, Bau-Katastrophen). Wichtig ist ferner die Frage: wie bildet sich das kulturelle Gedächtnis des Bauens und der Baustellen? Und gewiß kann man noch untersuchen, wie Baustellen in Kunstgeschichte, Literatur, Film etc. ästhetisch gestaltet und welches Wissen und welche Wahrnehmungsmuster dabei transportiert werden.
 

Es wird, so hoffe ich, bereits an diesen Andeutungen sichtbar, daß es ein kulturhistorisches und -theoretisches Wissen von 'Baustellen' geben kann, das man in anderen Wissenschaften vergeblich sucht. Es ist auch kein Zweifel, daß dieses Wissen Sinn macht und sogar pragmatisch nützlich sein kann. Deutlich ist auch, daß der Gegenstand der Kulturwissenschaft nicht einfach existiert (wie z.B. die Textmenge deutscher Literatur), sondern vielfach erst konstruiert werden muß. Interessant sind dabei gerade Fälle 'materieller Kultur', die zumeist schon in Einzugsbereiche ganzer Gruppen von Wissenschaften fallen. Hier besonders ist Kulturwissenschaft ein Supplement zu und/oder eine Integration von vorhandenem Wissen. Oft kann sie beides sein: ihre Perspektive wäre supplementierend, insofern sie übersehene symbolische, sozietäre, ästhetische, semiotische, phänomenologische, kommunikative und kulturhistorische Dimensionen überhaupt erst in den Diskurs einführt; und sie wäre integrativ, insofern sie unverbundene Wissenssegmente versammelt und zusammen mit ihren eigenen Perspektivierungen z.B. zu einer Art 'Gesamtphänomen Baustelle' (mit historischem Index) komponiert. Dabei zeigt sich, daß 'Baustellen' nicht als technisch optimierte Umsetzung von Architekturplanen verstanden werden können, sondern an jeder Stelle ihrer Geschichte komplexe 'Verschaltungen' unterschiedlicher sozialer, technischer, organisatorischer, kultureller, symbolischer Praktiken darstellen.

 
Daraus kann man schließen: Es gibt ein 'Segment' an einem Phänomen, das man nur erkennt, wenn man es kulturwissenschaftlich perspektiviert. Und es gibt die 'Verschaltungsstruktur' von Gegenständen, die kulturwissenschaftlich deswegen thematisiert werden muß oder sollte, weil es die arbeitsteiligen Wissenschaften versäumt haben, sich integrierende Forschungs- und Reflexionsebenen zu bilden, die es überflussig machen wurden, noch zusätzlich ein kulturwissenschaftliches Integral zu bilden.
 

Das Beispiel ist, zugegeben, etwas outriert. Über näherliegende Gegenstandsfelder ist genug geschrieben worden. Was ich betonen möchte, ist, daß die Gegenstände der Kulturwissenschaft immer 1. konstruiert, 2. spezifisch perspektiviert (in Einzelforschung) und 3. integral verschaltet werden müssen. Damit ist gesagt: (a) die Kulturwissenschaft findet keine 'unbesetzten' Gegenstande vor, kein 'ureigenes Terrain'; sondern sie operiert überwiegend in Gegenstandsfeldern, die sie sich mit anderen Wissenschaften teilt (weswegen sie öfters deren Methoden übernimmt ö von der Texthermeneutik bis zur Feldforschung, von der Mentalitätsgeschichte bis zur Technikgeschichte etc.). In diesem Sinne verfährt die Kulturwissenschaft synkretistisch oder 'methodeneklektizistisch'. Innerhalb dieses geteilten Gegenstandsfeldes muß die Kulturwissenschaft (b) eine eigene Physiognomie der Perspektivierung und Thematisierung finden. Das heißt: sie muß einen spezifischen und mithin nicht mit anderen Wissenschaften geteilten Gegenstandsapsekt ins Spiel bringen und erforschen (das macht sie zum Fach). Und (c) wird die Kulturwissenschaft einen reflexiven Metastatus einnehmen (aber nicht privilegiert besetzen), indem sie bezogen auf die Relais-Struktur der Gegenstände eine qualitative Rekombination der vorhandenen Wissensfelder und eine experimentelle Integration des Gegenstandsphänomens vornimmt.
 

Vermutlich ist das für ein werdendes, kleines Fach entschieden zu viel. Die Kulturwissenschaft wird deswegen, bei Strafe ihres Untergangs, nicht versäumen dürfen, mit den ihr benachbarten Disziplinen die genannten Aufgaben zu teilen, sie also von vornherein interdisziplinär zu entwickeln. Ein erhebliches Problem stellt dabei das Qualifikationsprofil dar, das man für Kulturwissenschaftler entwickeln mußte. Denn da klar ist, daß die Kulturwissenschaft sich nicht nur auf Texte, nur auf Bilder, nur auf symbolische Formen, nur auf materielle Aggregate der Kultur, nur auf Geschichte, nur auf die Gegenwart beziehen darf; daß sie zudem nicht nur auf eine, sondern auf viele Kulturen gerichtet ist; daß ihr Wissen nicht nur selbsterzeugt, sondern auch von anderen Wissenschaften bezogen und weiterverarbeitet ist ö: da dies so ist, stellt sich die Frage, wie eine solche Anforderung ohne 'allseitigen Dilettantismus' abgehen kann. In der Tat ist dies eine Gefahr, aber auch eine Chance. Letztere wird die Kulturwissenschaft nutzen, indem sie erfinderisch und sorgsam zugleich, detektivisch fahndend und spekulativ mutig, mikrologisch und theoretisch, analytisch und essayistisch, ihren Gegenstanden dienend und vorsichtig anspruchsvoll, streng und obessionell mitten in dieser Gefahr arbeitet und aushält.

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