In: Lutz Niethammer (Hg.): Bericht 1991 des Kulturwissenschaftlichen Instituts, Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen; Essen 1992, S. 195-211.

Hartmut Böhme

Gaia.
Bilder der Erde von Hesiod bis James Lovelock

Zu den stupenden Erscheinungen der Naturwissenschaften heute gehört es, daß sie — wie durch Fieberanfälle — an ihren verschiedenen Fronten immer wieder von der Antike heimgesucht werden. Vermutlich überrascht dies weniger Philosophen als die Naturwissenschaftler selbst, die seit Galilei sich im Bewußtsein ihrer Überlegenheit von antiken naturphilosophischen Traditionen abgekehrt haben. Unterdessen gehört es fast zum Rhythmus wissenschaftlicher Reformen, daß diese im Namen des Alten erfolgen. Infolge der überbordenden Destruktionspotentiale moderner Technik wird die regeneratio der Wissenschaft allzu oft als conservatio der noch eben faßbaren Reste verlorener Traditionen gesucht. Ein gutes Beispiel dafür ist die Karriere der Gaia-Hypothese, die seit ihrer Kreation durch den BiosphärenForscher James Lovelock (1979) und die Mikrobiologin Lynn Margulis (1986) in den USA einen ebenso umstrittenen wie unwiderstehlichen Aufschwung genommen hat. Die neueste Wende der Wissenschaften von der Erde erfolgt im Namen der archaischsten Göttin des Abendlandes: Gaia. War diese die mytho(theo)logische Fassung der Erde als Lebewesen, so erscheint den Erd-Wissenschaftlern nunmehr das staunenswerte Gleichgewicht der interaktiven Netzwerke von organischer und anorganischer Natur als ªwisdom of the body´, Gaias nämlich. Ökologische Komplexheit im Maßstab der Erde wird als Äquivalent vitaler Organismen verstanden: das ist die Wiederkehr der Lehre von der wechselseitigen Spiegelung des Mikro- und Makrokosmos. James Lovelock widerfährt der erhabene Schauer früher Anatomen bei der Freilegung des Wunderwerks des menschlichen Leibes: ªI feel like an eighteenth century physician discovering the body.´ Rückt der ªGeophysiologe´ Lovelock zwar von seiner anfänglichen Emphase ab, wonach die Erde ein intelligentes, mit Intentionen handelndes Lebewesen sei, so hält er doch daran fest, daß ihre Mechanismen der bewußtlosen Intelligenz von Körpern entspricht. Er bewegt sich damit im Schema des romantischen Naturphilosophen Schelling, für den die Natur unbewußte Intelligenz, der Mensch dagegen bewußte Natur sei. Im Menschen kommt Natur zur Sprache — oder: die Gaia-Hypothese ist die im Menschen reflexiv gewordene Erde. Es ist kein Wunder, daß die New-Age-Bewegung sich der Gaia-Hypothese im Nu bemächtigt hatte. Sie ist unterdessen Bestandteil der religiösen Bewegungen, die mit grünem Denken nicht nur in den USA des öfteren zusammengehen.

Dabei fließt die Gaia-Hypothese durchaus nicht wie Milch der frommen Denkungsart, sondern sie hat als ernstzunehmende wissenschaftliche Theorie begonnen. In mehrfacher Hinsicht stellt sie eine Herausforderung etablierter WissenschaftsParadigmen dar. Die im Gedankenexperiment (Lovelock betrachtet die Erde vom Mars aus) gewonnene Einsicht, daß die Erde innerhalb des Alls ªa strange and beautiful anomaly´ sei, ist nur möglich, wenn man den physikalischen und chemischen Blick der hardcore-geologist (und ihr Paradigma der Uniformität der geologischen Ursachen) hinter sich läßt und die Erde sub specie des selbstgenerierten Lebens analysiert. Den Sonderfall >Erde< zu denken, hebt die absolute Trennung organischen und anorganischen Seins auf, wenn richtig ist, daß beider aktive Wechselwirkung für die mundane Welt charakteristisch ist. Nichts weniger ist damit beansprucht als eine der Einsteinschen Relativitätstheorie ebenbürtige Theorie der Relativität von Leben und Nicht-Leben. Was Lovelock >von oben<, makrokosmisch, einsah, fand seine Stützung >von unten<, mikrokosmisch, insofern Lynn Margulis und ihr Sohn Dorion Sagan aus ihren Mikroben-Forschungen zur These der endogenen symbiotischen Kooperation nicht nur zwischen Lebenwesen sondern zwischen diesen und ihrer anorganischen Umgebung gelangten. Gegen die Darwinsche Orthodoxie gerichtet, ist bei ihnen die Erde nicht ein gigantischer Schauplatz selektiver Anpassung und mörderischen Überlebenskampfes, sondern erfüllt von der Vision eines komprehensiv lebende wie nicht-lebende Materie umfangenden Konsortiums allen Seins. So gewiß darin Impulse zum Umdenken und Umlenken der wissenschaftlich-technischen Zivilisation liegen, so nötig ist die Reflexion der darin liegenden mythologischen, religiösen und ästhetischen Momente, die mit dem Rückruf der Gaia notwendig assoziiert sind. Nicht um Rückkehr zur Urgeschichte kann es gehen, wohl aber um das Gewahrwerden ihrer gegenwärtigen Potentiale in der Kritik der selbstverschuldeten Krise der Natur.

Mit Gaia wird unvermeidlich die ªTheogonie´ des musenberufenen Hesiod (um 700 v.Chr.) zitiert. Bei ihm laufen die vorderorientalischen Schöpfungsmythen zusammen und geht, noch in mythischer Sprache, der Horizont der vorsokratischen Kosmos-Philosophie auf. Eingeschlossen in die Genealogie der Götter, welche die Genesis der Welt erzählt, erscheinen — so Olog Gigon — zum ersten Male die Wahrheit, der Ursprung und das Ganze als diejenigen Kategorien, mit denen die Philosophie seit Anaximander den Begriff des Seins bilden wird. Und das Ganze, das im Ursprung liegt und darum wahr ist, ist das ªdem Menschen übermächtig und unverfügbar Gegenüberstehende (das darum Gott genannt werden kann)´. — So lauten bei Hesiod die Verse des Ursprungs:

Zuallererst wahrlich entstand das Chaos, aberdann die breitbrüstige Gaia, der niemals wankende Sitz von allen Unsterblichen, die das Haupt des schneebedeckten Olymp bewohnen, und der dämmerige Tartaros im Innern der breitstraßigen Erde und der Eros, der schönste unter den unsterblichen Göttern, der gliederlösende. (...) Aus dem Chaos entstand der Erebos und die dunkle Nacht, aus der Nacht aber entstanden wiederum der Äther und die Tageshelle, die sie gebar, nachdem sie empfangen und sich mit Erebos in Liebe verbunden hatte. Gaia aber erzeugte als erster, ihr selbst gleich, den sternenreichen Uranos, damit er sie ganz umhülle (und) damit er den seligen Göttern für immer der nicht wankende Sitz sei. (...) Sie gebar auch das unermüdlichwogende Meer, schäumend im Wogenschwall, den Pontos, ohne ersehnte Liebe. Aber dann gebar sie, nachdem sie von Uranos umarmt worden war, den tiefaufgewirbelten Okeanos...

(Theogonie V. 116-133)

Derart also faßt Hesiod die Wurzeln alles Seienden. Im Ursprung ist das Chaos, das >KIaffende<. Man hat es sich zu denken als ein I eeres und Mächtiges. Wenn man die von der breiten Erde und dem umwölbenden Himmel gebildete Raumgestalt (Welthöhle) sich wegdenkt, hat man nichts als das >Aufgesperrte< — eben das Chaos. Aus diesem entsteht die Erde, und in dieser, >unten<, wie ein anderes Chaos, der finster lagernde Tartaros. Und der weltenbildende Eros: jene universale Macht, die im Ursprung gedacht werden muß, wenn der Kosmos eine einzige Kette von Generierungen ist. Gaia ist nicht diese vor unseren Augen liegende Erde da; sondern sie ist die Macht, welche in unserer Erde sich darstellt. Gaia ist deren Unverfügbares und Unvordenkliches, ihr Göttliches (das noch den Göttern vorausliegt). Im Sinne der späteren Elementenlehre ist zu sagen: Gaia ist riza/rizoma = Wurzel der Erde, woraus alles wird. Hesiod lehrt das Entstehen aus einem Element (wie es später Thales für das Wasser, Heraklit für das Feuer und Anaximenes für die Luft annehmen, bis Empedokles alle vier Elemente gleichrangig zusammenordnet). Zum Werden aber bedarf es des Eros. Er schließt Gaia zum hieros gamos (zur heiligen Hochzeit) mit demjenigen zusammen, der aus ihr selbst (>autopoietisch<), ihr selbst gleich, hervorgegangen ist: der Himmel, Uranos. In vielen Kulturen müssen die hochzeitlich >zusammenliegenden< Erde und Himmel getrennt werden, damit >Raum< werde für die Dinge der Natur. Im interkulturell verbreiteten, sog. HET-Mythos (Himmel-Erde-Trennungsmythos) heißt Schöpfung: Himmel und Erde treten — nach der hochzeitlichen Nacht — im Lichtraum des Tages auseinander. Daß das Werden an Trennung und Unterscheidung gebunden ist, bleibt als Denkfigur in der griechischen Philosophie erhalten. Bei Hesiod entstehen Tag und Nacht nicht durch (regelmäßige) Hochzeit und Trennung von Himmel und Erde; sondern Erebos (das Dunkel) und Nux (Nacht), wie Gaia aus dem Chaos hervorgegangen, erzeugen Äther und Tag. Licht entsteht aus dem Dunkel — niemals umgekehrt. Noch vor allen Göttern mit ihren individuierten Zuständigkeiten, noch vor aller >konreten< Natur haben wir damit die Weltgestalt und ihre dynamischen Prinzipien: Gaia generiert Uranos wie Nux das Licht; sie bilden fortan die (erotischen = generativen) Polaritäten von Erde und Himmel sowie Nacht und Tag. Eros ist hierbei das Prinzip der natura naturans. Dann erst setzt die Zeugung der Götter und mit ihrer genealogischen Ordnung auch die (späte, erstrittene) Rechtsform der Welt ein. Durchaus gilt, daß Gaia darin Mitte und Mutter des Werdens ist, die Magna Mater der Religionen.

Als solche ist sie in der Antike immer auch verehrt worden — sei's unter dem Namen Demeter oder Terra. Und selbst die Philosophen versagten der Gaia niemals ihren Respekt. Und Eros als ursprüngliche Macht finden wir bei den Orphikern ebenso wie bei Parmenides, bei Empedokles (im Gespann von Liebe und Streit als der bewegenden Urpolarität des Alls) wie liverarisch am schönsten in Platons ªSymposion´, wo Hesiod ausdrücklich zitiert wird (Symposion 178b). Im Blick auf die Gaia-Hypothese ist die Bemerkung Platons aufschlußreich, wonach die Erde ªnicht den Frauen nachgeahmt (hat) Schwangerschaft und Geburt, sondern diese ihr´ (Menexenos 238a). Die Prokreationskraft der Gaia anthropomorph, im Schema der menschlichen Sexualität zu verstehen — gerade dies wäre ein anthropozentrisches Mißverständnis! An der menschlichen Sexualität geht nur auf, was die Macht der lebendigen Natur ist. Wichtig aber sind die Spuren, die Gaia in der Kosmologie hinterläßt, in welcher Platon, ganz im Zeichen des patriarchalen Gottes der Vernunft, seine Theorie der Weltentstehung darlegt. Bei Platon gestaltet der göttliche Werkmeister ªdas Weltall, indem er die Vernunft in der Seele, die Seele aber im Körper schuf, um so das seiner Natur nach schönste und beste Werk zu vollenden.´ (Timaios 30b). Dieser Kosmos ist mithin ªals ein in Wahrheit beseeltes und mit Vernunft begabtes Lebewesen´ entstanden (Timaios 30b); und er ist ein solches Lebendiges im Ganzen, nicht nur in Teilen. So schließt die Platonische Kosmologie die Gaia-Hypothese ein. Den ªLeib (soma) des Alls´ (Timaios 31b), insofern er sichtbar und betastbar ist, bildet der Gott aus den vier Elementen Feuer, Wasser, Erde und Luft. Die konkrete Erde aber ªhat er zu unserer Ernährerin gemacht und ... zur Hüterin und Erzeugerin von Nacht und Tag, die erste und ehrwürdigste aller Götter, die innerhalb des Himmels geworden sind´ (Timaios 40b/c). Die Priorisierung der Gaia ist eine deutliche Reverenz an Hesiod (wie auch Timaios 40e/41a). Das gilt, obwohl Platon deutlich Vorbehalte gegen die Mythologie der Magna Mater hat und diese durch den Gott der Vernunft abzulösen gedenkt. Dennoch fordert Gaia vom Philosophen ihren Tribut — und Platon leistet diesen, indem er eine ªschwierige und dunkle Form´ des Werdens einführt, das ªWorin´ aller elementaristischen Genesis. >Worin< entsteht etwas?, lautet Platons Frage. Und seine Antwort ist: dies muß eine ªKraft´ (dynamis) sein, die ªallen Werdens bergender Hort sei wie eine Amme´ (Timaios 49a). Das, worin alles entsteht und vergeht, ist die ªAmme des Werdens´, ªdas Aufnehmende der Mutter´ (Timaios 50d). Kein Zweifel — im rationalen Werk des väterlichen Demiurgen ist die Mutter das Enigma der eigenen Schöpfung—: ªein unsichtbares, gestaltloses, allaufnehmendes Gebilde, das auf eine irgendwie höchst unerklärliche Weise am Denkbaren teilnimmt und äußerst schwierig zu erfassen ist´ (Timaios 51a). Im wahrsten Sinn ist Gaia ein Nicht-Identisches (nicht eines der Elemente, nicht irgendein Körper) und dennoch alles Gewordene ermöglichend; etwas, was noch vor den auseinandergetretenen Elementen und noch vor aller Welt ist. Diese ªAmme des Werdens´ faßt Platon ins Bild einer von heterogensten Kräften durchzogenen, höchst ungleichgewichtigen Erschütterung. Das bildet bei Platon den äußersten Rand des mit Sprache noch andeutend Sagbaren —: daß vor aller Differenzierung, vor allen Göttern, vor dem Kosmos, vor den Zahlen (vor dem Demiurgen?) da etwas sei wie ein mächtiges, vibrierendes Hin und Her, ein Pulsieren von Kraft, eine objektlose und eigenschaftslose Erschütterung, ohne die nichts wird. Dies ist das begrifflose, vom Logos nicht eigentlich erhellbare Geheimnis des Worin und Wohin des Werdens: Platons Gang zu den Müttern. Die Gaia-Hypothese. Historisch zum ersten Mal wird hier der Prozeß der Verwissenschaftlichung der Welt (Platon hatte soeben den Anspruch auf eine vollständige Mathematisierbarkeit des Kosmos aufgestellt) eingeholt von einem Unverfügbaren, das sich mitteilt als weder in Zahl noch Begriff zu fassende Macht der natura naturans. Diese ist nur anzudeuten in Metaphern, poetisch also. Poesie ist hier, mitten im philosophischen Diskurs, der Ausdruck des Ausdrucklosen.

Wo dieses Bewußtsein noch besteht, kann der Mensch sein Privileg, an Vernunft teilzuhaben nicht so verstehen, als sei er Herr und Mittelpunkt der Erde und diese für ihn bereitet, wie es in der Stoa später gedacht wird. Bei Theophrast (372287 v.Chr.), dem Nachfolger des Aristoteles in der Platonischen Akademie, heißt es im Fragment 19 der Schrift ªÜber die Frömmigkeit´: ªDiese (= die Erde) ist nämlich der gemeinsame Herd der Götter und Menschen, und wir alle, die [wir uns] an sie wie an unsere Ernährerin und Mutter schmiegen, müssen sie preisen und als unsere Gebärerin zärtlich lieben.´ Zweieinhalb Jahrtausende später hängt die Mikrobiologin Lynn Margulis die Fotografie des blauen Planeten in ihrem Institut auf — mit der emblematischen inseriptio: ªLove your mother!´

In der Stoa finden wir keineswegs nur eine anthropozentrische Teleologie, sondern ebenso auch eine pantheistische Gleichsetzung von Gott und Natur, oder genauer: die Lehre, wonach die Natur eine mit Bewußtsein und Vernunft planend voranschreitende Kraft sei (wie es auch Lovelock in der Gaia-Hypothese zunächst annimmt). Gegenüber dem Atomismus der Epikureer, wonach alles durch zufällige Zusammenballungen von Atomen entstehe, betont Poseidonios, daß die Natur Ordnungssinn und eine Art von Kunst zeige (sed ordo apparet et artis quaedam similitudo): ªWenn nun das, was von der Erde durch die Wurzeln Halt empfängt, durch ein künstlerisches Schaffen der Natur lebt und gedeiht, so muß sicherlich in der Erde selbst die gleiche künstlerisch schaffende Kraft wirksam sein.´ Diese ªKunstfertigkeit´ (sollerha) der Natur ist so vollkommen, daß sie auch nachahmend (imitando) durch keine menschliche Kunst (ars), kein Handwerk und keinen Werkmeister (opifex) erreichbar sei. Die ªauf und ab, hierhin und dorthin´ spielende Wechselwirkung der Elemente enthält eine Prokreationskraft, die ein Gebären und Werkschaffen ist wie ein Ernähren und Wachsen (die Formulierung erinnert an Platons Amme des Werdens). Wie sehr hinsichtlich der cohaerendi natura die konkurrierenden philosophischen Schulen übereinstimmen, das zeigt der radikale Epikureer Lukrez (98/97-55 v.Chr.), der sein Lehrgedicht ªDe rerum natura´ mit der berühmten Apostrophe der Venus und der durch sie belebten Natur eröffnet. Trägt doch bei Lukrez daedala tellus (Künstlerin Erde) einen Ehrentitel, durch welchen ihr als Naturkraft zugesprochen wird, was in der Antike den Inbegriff von Kunstfertigkeit überhaupt ausmacht: Daedalus ist Zeichen dafür, daß die Natur als genetrix alles aufs sinnreichste zeugt und daß die Erde ohne Unterlaß der Liebesgöttin, sie spiegelnd, huldigt (De rerum natura Libr. I,1ff, bes. 7).

Daß die Natur eine Künstlerin sei, bleibt eine in Hermetismus und Alchemie sowie in der Naturphilosophie der Renaissance verbreitete Denkfigur. Als frühes Zeugnis des Mittelalters aufschlußreich ist hier die Kosmologie des neoplatonischen Dichterphilosophen Bernardus Silvestris aus der Schule von Chartres. In seiner Schrift ªDe mundi Universitate´ (etwa 1140) schildert Bernardus, wie Natura bei der göttlichen Noys (= nous, Weltvernunft) im Namen der ungestalten Silva (= starrendes Chaos, Schoß der Materie) für die Schaffung des Makrokosmos plädiert. Denn die ªMutter´ Silva sehnt sich danach, dem uralten Tumult zu entkommen und verlangt nach kunstvollen Maßen und den Fesseln der Muse (artifices numeros et musisa vincla requirit, Vers 22): hält sie doch in ihrem Schoß verstreut schon alle möglichen Kinder der Welt (Vers 37ff). Dieses der Materie immanente Drängen nach ästhetischem Maß bedarf des terminierenden Formvermögens der Vernunft und der beide vermittelnden Natura. Der so etablierte Kreislauf der Elemente bildet die ªvierfache Wurzel´ aller Dinge und Gestalten des Weltkreises. Auf der Linie des ªTimaios´ finden wir hier, mitten in christlicher Theologie und ohne jeden Verdacht auf Heterodoxie, die Lehre der Entstehung der natürlichen Welt nach den Gesetzen des Schönen. Der Natur, sagt dies, wohnt eine künstlerische Potenz inne, die sich in der Hochzeit generativer Materie und formmächtiger Vernunft entfaltet — analog zur Musik oder zu Bildwerken.

Es klingt wie ein fernes Echo auf diesen Hymnus der ästhetischen Integriertheit lebendiger Natur, wenn dreieinhalb Jahrhunderte später — unter dem Eindruck des gewaltigen Aufschwungs des frühneuzeitlichen Bergbaus — Paulus Niavis in seinem ªIudicium Iovis´ (um 1490) eine Gerichtsszene schildert, bei welcher ªim Tale der Schönheit´ der Mensch von der Erde (Terra) des Muttermordes angeklagt wird (parrisidi accusatus) —: wegen der vielen, ihren Leib durchbohrenden Bergwerke. Bei Bernardus Silvestris wurde die Doppelnatur des Menschen (Leib/Erde — Geist/Himmel) so ausgelegt, daß daraus sowohl die Verpflichtung zur achtungsvollen Erkenntnis wie auch das Privileg des dominium terrae — sich gegenseitig begrenzend — abgeleitet wurden. Im Plädoyer von Merkur und Demeter (welche die weinende Terra vertreten) bei Niavis dagegen erscheint diese Balance völlig gestört. Die Klage ist, daß der Mensch ohne jeden Respekt, mit Instrumenten, die wie Folterwerkzeuge seien, den lebendigen Leib der Ernährerin um des bloßen Nutzens und Gewinns willen zerstörten. Und tatsächlich verteidigt sich der Mensch mit dem restlos säkularisierten stoischen Argument, die Erde sei um seinetwillen da und er müsse ihr, die ihre Schätze stiefmütterlich im Inneren des Schoßes verberge, das Lebensnotwendige in mühsamer Arbeit entreißen. An dieser historischen Schaltstelle findet ein dreifacher Abschied statt: von der Erde als daedala tellus; von der Erde als mütterlichem Leib; von der Erkenntnis als ästhetischer und ethischer Einsicht ins gefügte Ganze der Natur. An ihre Stelle treten technisch instrumentelle Arbeit sowie wissenschaftliches Wissen. Die Erde wird zum toten Material, deanimiert und anästhetisch.

Erinnern die technikfeindlichen Argumente der Terra an die antiken Vorbehalte gegen den Bergbau, so läßt der Vorwurf der Folterung zurückdenken an Platons Reserve gegen Wahrheitserzwingung durch experimentelle Praxis. Wie man in der Astronomie die (unsichtbaren) Zahlenverhältnisse des Kosmos nicht durch Augenschein, sondern durch Vernunft herausbekommen muß, so wird man die in Harmonien klingenden Sphären auch nicht mit Gewalt bestimmen wollen — wie diejenigen? welche ªdie Saiten ängstigen und quälen´ (Platon benutzt hier die sonst für gefolterte Sklaven üblichen Wörter; Politeia, Zeta, 531b). Entsprechend wird in der pseudovergilischen Dichtung ªAetna´ (Vers 401ff) sogar die experimentelle Untersuchung des Steines mit dem Foltern parallel gesetzt. Um zu erfahren, daß er Feuer sprühen könne, muß man ihn mit dem Eisen befragen; und daß er — wie ein gefolterter Mensch — nachgeben, ja, erweichen könne und sich als furchtsam erweise, das erfahre man, wenn man mit Feuerfolter die Lebensgeister aus ihm herauszwinge; indem sein Schmerz Funken sprühe, gebe der Stein seine Natur, wie ein Geständnis, preis. Im Umgang mit der Erde und den Dingen der Natur hat diese Kombination von >Untersuchung< und >Experiment< große Zukunft.

Denn der berühmte Zeitgenosse des Paulus Niavis, Francis Bacon, legt in seinem ªNovum Organum´ die Experiementier-Theorie der Neuzeit vor (die z.B. von Galilei schon praktiziert wurde). Nach Bacon gibt die Natur ihr Geheimnis nicht freiwillig her. Im Experiment müsse sie irritiert, belastet, gezwungen, genötigt, ja, gequält werden, damit sie, wie die Hexen in der Folter, ihre Arkana dem Menschen gestehe. Die natura vexata Bavons ist die erboste, ihre Antworten unter Zwang preisgebende Natur. Durch methodisches Experimentieren lege der Mensch dagegen die Grundlage zu ihrer Beherrschung und damit zum Reichtum der Nation (was auch die Legitimationsfolie für den wissenschaftlichen Bergbau bei Agricola ist). Die Erde wird subspesie ihrer Nützlichkeit für den Menschen gesehen. Die Erde ist nicht Künstlerin, sondern Rohstoff, den es anzueignen gilt. Sie ist in ihren generativen Verfahren nicht Vorbild einer mimetischen Kunst und Technik, sondern diese werden begründet nach autonomen Regeln des Herstellens, das alles Wissen in sich absorbiert. Diesen modernen Zug nimmt auch Kant in der berühmten Passage der Vorrede zur ªKritik der reinen Vernunft´ auf, wo es heißt, ªdaß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt... und die Natur nötigen müsse auf ihre Fragen zu antworten´. Vernunftprinzipien und Experimentaltechnik schirmen den Menschen vor widerfahrender Natur ab und erlauben es ihm, aus sicherer Distanz sich der Natur zu konfrontieren in der Rolle ªeines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt.´ (KdrV B XIII) Man hört die Analogie zur frühneuzeitlichen Gerichtspraxis mit ihren Foltermanualen, wie sie Francis Bacon bestens kannte, in gemildertem Ton noch durch.

Dies ist der Hintergrund für das Diktum Goethes: ªDie Natur verstummt auf der Folter. ´ Erpreßte Antworten sind die andere Form des Stummen, ja, des Toten. Tatsächlich hat Goethe in seinem erbitterten Kampf gegen Newton der ªExperimentellen Philosophie´ auch vorgeworfen, die Natur im Experiment zu vivisezieren: ªDas Lebendige ist zwar in Elemente zerlegt, aber man kann es aus diesen nicht wieder zusammenstellen und beleben.´ Wissenschaftlich objektivierte Natur ist für Goethe tote Natur. Zwar ist Goethe nicht so weit gegangen wie Niavis im Plädoyer des Merkur, worin er den Menschen als Mörder der Natur bezeichnet (Johann Georg Hamann dagegen wiederholt diese Anklage). Doch hat er erkannt, daß die empirische Wissenschaft durch Arbeit am toten Material in Gang kam. Wenn Goethe in der Anatomie und der mathematischen Physik das Paradigma der analytischen Wissenschaften ausmacht, so hieß das für ihn: die New Sciences gewannen Autoritat nicht im Studium des lebenden Organismus, sondern von toten Körpern oder anorganischer Materie. Dagegen hat er den konstruktiven Charakter der neuzeitlichen Wissenschaften gründlich verkannt. Sein Blick auf die Erde galt nicht der Frage, was man mit ihr und aus ihr (zum Nutzen des Menschen) machen kann, sein Interesse war also nicht technischer Art. Sondern Goethe wollte Naturwissenschaft eingerichtet sehen als eine ªzarte Empirie´, in welcher der Forscher, mit aufmerksamen Sinnen, die Natur derart befragt, daß diese, beinahe wie im Dialog, aus freien Stücken sich zeigt. Natur ist für Goethe aistheton, das dem lebendigen Sinn Wahrnehmbare. Zwischen technischer und phänomenaler Wissenschaft kann es keine Vermittlung geben.

Obwohl Goethe in keiner Weise die zerstörerischen Kräfte der Erde übersah und deswegen eine kämpfende Selbsterhaltung des Menschen für unabdingbar erachtete, näherte er gleichwohl Natur und Kunst einander möglichst an: innerhalb der Grenzen, die durch die Gewalt der Natur gesetzt und die der Gewalt des Menschen zu setzen sind. Natur als andre Kunst und Kunst ªwie eine zweite Natur´ entwickeln zu wollen, hat aufschlußreiche Konsequenzen. Ist die Natur ªdie einzige Künstlerin´, wie es im Tobler-Fragment heißt, so bedeutet dies keineswegs, daß Kunst in äußerlichem Sinn Natur nachzuahmen habe. Vielmehr muß sie auf deren intelligentes Verfahren, also ªauf jenes Vernünftige zurückgehen, aus we!chem die Natur besteht und wonach sie handelt´. Kunst ist eben deshalb Kunst, ªweil sie nicht Natur ist´, aber gleichwohl ªauf der Spur der Natur´ bleibt. Das ist modern gedacht. In Freiheit gegenüber den Produkten der Natur (der natura naturata) — darin also autonom —, ist Kunst dennoch Mimesis der natura naturans, ihrer weltenbildenden, prokreativen Kraft — nahe also dem, was der Gaia als Potenz zugeschrieben wurde. Gerade indem Kunst in größter Entfernung zur ªNatur als Produkt´ (Schelling) steht und ªgleich der Minerva aus dem Haupte Jupiters, so aus dem Haupte der größten Menschen geboren´ und mithin das Dokument ihrer unvermittelten (Auto-)Poiesis ist—: gerade darin ist Kunst der Wirkkraft der Natur nahe (der bildenden wie auch der chaotischen).

ªDas Schöne´, kann es darum heißen, ªist eine Manifestation geheimer Naturgesetze, die uns ohne dessen Erscheinung ewig wären verborgen gewesen.´ Und: ªWem die Natur ihr offenbares Geheimnis zu enthüllen anfangt, der empfindet eine unwiderstehliche Sehnsucht nach ihrer würdigsten Auslegerin, der Kunst.´ Natur verweist auf Kunst, indem diese deren Latentes, das Schöpferische der Materie, ausstellt. Als Idiom des Menschen ist Kunst zugleich Auslegung und Dolmetscherin der Natur.

Das hat Folgen auch für Goethes Konzept der Naturwissenschaft. Stellt das Kunstwerk in seiner Struktur die natura naturans dar, so sucht Wissenschaft umgekehrt Kunst in der Natur auf. Wenn Goethe z.B. die zergliedernde Anatomie überführt in ªplastische Anatomie´, so mit dem Ziel, daß der Arzt im Medium skulpturaler Erfahrung den Kunstwerkcharakter des menschlichen Leibes verstehen lernt. In der plastischen Anatomie des Arzt-Künstlers offenbart sich, aus der Perspektive eines secundus deus, das Geheimnist des lebendigen Fleisches. So auch treibt Goethe Zoologie, Botanik und Geologie —; sie sind leiblich fundiert, insofern der Mensch als ªder größte und genaueste physikalische Apparat´ sich immer schon in einer durch sinnliche Erkenntnis (aisthesis) erschlossenen Welt (aistheton) bewegt. Wenn James Lovelock auf den Spuren Gaias sich als ªGeophysiologe´ bezeichnet, so hatte Goethe gegen diesen Neologismus als Bezeichnung seiner Forschung nichts eingewandt. Indessen besteht der bedeutende Unterschied, daß Lovelock nicht wie Goethe das Leben der Erde vom Leibe her erschließen will, sondern mithilfe kompliziertester Meßtechnik, die dem verborgenen Netzwerk der Gaia adäquat ist. Was für Lovelock Kybernetik in der Natur ist, war für Goethe Kunst der Natur. Die neueste Variante der Gaia-Hypothese besteht darin, daß die plastische Kunst der Erde abgelöst wird durch das Können der Computer.

In den 60er und 70er Jahren entdeckte der an Raumprojekten der NASA mitarbeitende James Lovelock, aus orbitaler Perspektive, die Singularität des ªblauen Planeten´, der lebenzeugenden Gaia. Zur gleichen Zeit — aus der Perspektive der betonierten Metropolen, in denen die Natur unter die Schwelle der Wahrnehmbarkeit zu schwinden drohte — entwickelten Künstler wie Walter de Maria, Robert Smithson, Richard Long, Michael Heizer u.a. die concept- und land-art. Ob die Parallelität dieser Entwicklungen einen inhaltlichen Zusammenhang zeigt, ist noch nicht untersucht. Indessen, Wissenschaft und Kunst anerkannten gleichermaßen Verletzbarkeit und Macht der Erde wie auch das unaufhebbare Ungeschütztsein des Menschen — trotz des imponierenden Standes zivilisatorischer Durchdringung und technischer Beherrschung des Naturraums. Bei Goethe war die Einsicht, daß die theoretische Degradierung der Natur und die technische Megalomanie (Faust's Meer-Projekt) die Naturmacht unterschätzt, eine Voraussetzung seines alternativen Konzepts von Kunst und Wissenschaft. Heute dagegen werden Künstler und Wissenschaftler aufgrund der Naturkrise, die in eine Überlebenskrise der Menschheit umzuschlagen beginnt, von solchen Erkenntnissen auch praktisch eingeholt. Darauf reagiert die Gaia-Hypothese wissenschaftlich, die concept- und land-art ästhetisch. Könnte es sein, daß diese zwei Vorgänge aufeinander bezogen sind?

So wenig die Wahrheit der Gaia in den künstlichen Welten der Groß-Laboratorien auszumachen ist, ebenso wenig kann die mit Natur korrespondierende Kunst in abgeschirmten Museen, Galerien und Ateliers ihren Ort finden. Denn hier wird hinsichtlich der Produktion und Rezeption des Werks die Natur ausgeschlossen und ihre Erfahrung verhindert. In der Kunst, die man nach einem Titel de Marias zusammenfassend als ªearthworks´ bezeichnen kann (de Maria installierte mehrfach nichts anderes als riesige Mengen ortsnaher Erden), werden die Erde, ihre Formen und ihre Materialien in einer Weise gegenwärtig, die mit den Traditionen des Museums und des überlieferten Werkbegriffs bricht.

Land-Art pointiert bestimmte Momente moderner Kunst und knüpft zugleich, nicht immer bewußt, an die antiken naturphilosophischen Traditionen an, die zuletzt in der Naturästhetik der Goethe-Zeit lebendig waren. Oft bilden moderne Kunstwerke auch ihren eigenen Produktionsprozeß ab. An dieser reflexiven Wende, die am Werk sein Prozessuales ausstellt, ist übersehen worden, daß darin genau die Differenz erscheint, die zwischen natura naturata und natura naturans liegt. Der Naturbezug muß gerade nicht, wie Goethe sagte, darin liegen, Naturdinge abzubilden, sondern besteht sogar eher darin, daß der ästhetische Prozeß selbst sich als Rückgang auf die formbildende Kreativität der Natur begreift. Darin liegt die historische Möglichkeit, auch jenseits der Nachahmungs-Doktrin, d.h. in der Abwendung vom Gegenständlichen gleichwohl Natur darzustellen. Die abstrakten Landschaftsbilder William Turners probierten dies erstmals vollendet aus. Natur ist nicht gegenwärtig, wo sie auf Bildern zu sehen ist, sondern gibt sich zu spüren als Moment der ästhetischen Produktivkraft. Die Hineinnahme des Unwillkürlichen und Zufälligen ins Kunstwerk (bis hin zu Jackson Pollock) kann durchaus als Naturmoment im Werkprozeß gedeutet werden.

Zum zweiten werden in der modernen Kunst die Materialien, Stoffe selbst zum Thema. Das traditionelle Verhältnis der Kunst zum Stoff war aristotelisch: der bedeutungslosen Materie prägt sich die künstlerische Idee als logos spermatikos auf. In der Tradition der Gaia sahen wir hingegen, daß der Materie sehr wohl ein Drängen zur Form immanent ist, ja, daß sie selber plastische Kraft hat. In dieser Weise ist die Wendung der Kunst auf ihr Stoffliches zu verstehen als ästhetische Erforschung der stummen Materialsprache. Die Arbeiten de Marias, Longs, Heizers, aber auch Beuys' oder Rückriems mit Erden, Kies, Sand, Torf, Mineralien, Granit, Basalt, Asphalt, Metallen, Fett usw. ist von daher eine ästhetische ªGeophysiologie´. Wenn Materien der Natur in ihrer Beschaffenheit, ihrer Struktur, ihrer formbildenden Potenz, ihrem >Ortsgeist< und ihrer Verankerung in geologischer Zeit zu Kunstwerken werden, so demonstriert dies, was Poseidonios sollertia der Natur nannte. ªKunst ist Material´ (so der Titel einer Berliner Ausstellung 1982) —: in naturästhetischer Perspektive heißt dies, daß Kunst die ªAuslegerin´ (Goethe) von Natur ist; sie ist die ins Medium des Menschen übersetzte Artikulation der Natur.

In den ªEarth-Works´ de Marias, den konzeptualistischen Werken der land-art von Robert Smithson und Richard Long, selbst in den gigantischen Materialbewegungen Michael Heizers oder den Installationen von Joseph Beuys werden die Kunstprozesse dabei oft als kultische Zeremonien angelegt, die im Augenblick ihres rituellen Vollzugs ihr Ziel erreicht haben: was als Werk bleibt, ist das Memorial, das Denkbild einer ästhetischen Geste, durch welche Gaia erschien, während die materialen Spuren des Werks oft durch Erosion und Alterung sich wieder verlieren, d.h. mit Absicht an die Natur zurückgegeben werden.

Dies gilt, drittens, für land-art allgemein. Auffällig ist, daß bei vielen Werken der Künstler von der klassischen Haltung, Souverän seines Produkts zu sein, zurücktritt. Wenn Objekte vergraben werden, damit Erde, Bakterien, Feuchtigkeiten an ihnen arbeiten; wenn Wetter und Erosionskräfte die Form der Werke verändern oder diese gar annihilieren; oder wenn charakteristische Raum- und Lichtkonfigurationen der Landschaft bestimmend werden für die Gestalt des Werks—: dann löst sich der tradierte Begriff der Autorschaft ebenso auf wie der des Werks. Jene ist nicht autonom, dieses nicht geschlossen; beide verzichten auf den alten Anspruch der Kunst auf Ewigkeit. Statt dessen werden Kunst und Natur kopräsent; Natur wird akzentuiert in ihrer jedes Menschenwerk begleitenden Mitaktivität — eine in der Moderne weitgehend vergessene Dimension. Indem Kunstwerke bis zur Vernichtung dem Einwirken durch Natur ausgesetzt werden, wird daran erinnert, daß erodierende oder katastrophische Gewalten die einschließende Bedingung aller menschlichen Arbeiten sind. Im letzten heißt dies: die Erde ist uneinnehmbar, nicht zu durchdringen, nicht zu beherrschen. Sie weist nicht den Menschen überhaupt, sondern den Menschen in seinem Machtbewußtsein ab.

Viertens wird in der Erd-Kunst die Form der künstlerischen Arbeit geändert. Kunst wird Arbeit in der Natur, oft in zivilisationsfernen Räumen, wie Wüsten, Salzseen, Brachen, ausgestorbenen Zivilisationsräumen, die Geschichte im Übergang zur Naturgeschichte zeigen. Für den Künstler wie den Betrachter heißt dies, daß beide sich der präformierten Wahrnehmungsform urbaner Kunststätten zu entäußern haben. Die notwendigen Bewegungen im Umgebungsraum des Werks bringen den ganzen Körper und alle Sinne ins Spiel; die Wahrnehmung der Zeit wird verändert dadurch, daß Wetter, Jahreszeiten, Tageslicht, ja, selbst geologische Zeiten für Konzeption und Rezeption des Werks konstitutiv sind. Im Grenzfall wird das bloße Gehen in einer Landschaft (de Maria und Long haben dies gezeigt) mit den ephemeren Spuren, die es hinterläßt, zu einem meditativen Ritual der Beschwörung von Stille, Einsamkeit, Langsamkeit. Darin setzt der Mensch sich in Beziehung zu den erhabenen Dimensionen menschenloser Natur. Oder die nur durch modernste Technik möglichen Versetzungen von Felsmassen durch Michael Heizer (240.000 Tonnen Gestein) werden trotz ihres Gigantismus als den Erdleib kaum ritzende, marginale Semiosis erkennbar, wenn sie in der erdgeschichtlichen Konfiguration gedacht werden, in welcher Heizer seine Erdbewegungen anordnet. Gegenüber dem Schein menschlicher Superiorität im Zeichen des High-Tech-Zeitalters erinnern solche im Zeichen des Erhabenen unternommenen Werke daran, daß die Disproportion von Menschenzeit und Weltzeit (H. Blumenberg) ebenso unüberbrückbar bleibt wie diejenige zwischen dem letztlich unverfügbaren Erdraum und dem diesem implantierten Kulturraum.

Der Mensch ist, wie im Verständnis der Vorsokratiker, ephemeros: gegenüber dem Raum und der Zeit Gaias ist er ein dem Flüchtigen unterworfenes Lebewesen. Gerade dadurch wird das Besondere und Kostbare des Seins in der Natur pointiert. Ein Merkzeichen dieser Lehre der Gaia ist auch jener von de Maria 1000 Meter in den Erdleib gebohrte Metallstab (ªErdkilometer´; documenta 6). Diese axis mundi, ähnlich wie Brancusis ªEndlose Säule´, tritt schon ªin den Mythen als Weltenachse oder Lebensbaum, als Säule des Himmels oder als Himmelsleiter´ auf. Auch hier will Kunst zu einem Denkbild der Gaia werden — und dessen, daß der Mensch von dieser umfangen bleibt. In der Erd-Kunst werden der Autonomie des Menschen Grenzen gesetzt. Über Naturgeschichte nicht Herr zu werden, sondern innerhalb ihrer den Raum des Menschen auszumachen, ist Ziel dieser Künstler. Darin korrespondieren sie der Gaia-Hypothese, wenn es denn in ihr darum geht, mit Hilfe der Wissenschaften besser zu bestimmen, wie die Arbeit an menschlicher Kultur unter den Bedingungen Gaias aussehen kann. So könnte sein, daß am Ende des 20. Jahrhunderts Kunst und Wissenschaft, unter dem Druck der Naturkrise, sich wieder aufeinander zubewegen — wie es in der vorerst letzten Epoche der Naturphilosophie, der Zeit um 1800, schon einmal versucht wurde. Im nachmetaphysischen Zeitalter bedarf es einer neuen Übersetzung der Gaia.

In überraschender Weise findet die ªgeophysiologische´ land-art bei einem Denker ein Echo, der nicht im entferntesten an sie gedacht hätte: in Martin Heideggers ªDer Ursprung des Kunstwerks´. Kunst, so Heidegger, stelle Erde her. Was soll dies heißen?

Auf keinen Fall ist mit Herstellen hier techne gemeint, im Sinne von: der Mensch macht (sich) die Erde (untertan). Im Gegenteil. Das Kunstwerk, meint Heidegger, öffnet die Erde als physis, — im griechischen Wortsinn: als ein Herauskommen und Aufgehen. Erde ist das den Menschen Bergende wie das vor diesem sich Abschließende. Das Kunstwerk ist ein (menschliches) Aufstellen derart, daß die ªWelt´, die dabei eröffnet wird, zugleich ein ªZurückstellen´ ist — nämlich zur Erde. Was meint dies?

Man kann darin zunächst jene archaische Formel wiedererkennen, die den Menschen selbst meint: auch er ist aus Erde (wächst aus ihr) und wird zu ihr (er wird Staub). Das ist das Bergende der Erde im Doppelsinn dessen, daß das Aufgehen (das gesellschaftliche Wohnen des Menschen in der Welt) das von der Erde Eingeschlossene zur Kehrseite hat. Beides stellt das Kunstwerk her und dar. Das meint der Satz: ªDas Werk läßt die Erde eine Erde sein.´

Die Artikulation der Erde meint sie weder als >Blut und Boden<, noch als Ding oder Planet oder physikalisches Objekt. Was das Kunstwerk an Erde Erde sein läßt, ist vielmehr, daß es die Erde erinnert, d.i. für Heidegger: in der Wahrheit erscheinen läßt, ins Unverborgene und Unvergessene hebt (aletheia). Dieses Erhellen aber geschieht als Paradox: Erde wird eröffnet, ªwenn sie unentborgen und unerklärt bleibt´. Kunst ist ein Werk des Menschen, doch so, daß dieser von der Erde zurückgewiesen wird: ªDie Erde läßt so jedes Eindringen in sie an ihr selbst zerschellen. Sie läßt jede nur rechnerische Zudringlichkeit in eine Zerstörung umschlagen. Mag diese den Schein einer Herrschaft und des Fortschritts vor sich hertragen in der Gestalt der technisch-wissenschaftlichen Vergegenständlichung der Natur, diese Herrschaft bleibt doch eine Ohnmacht des Wollens. Offen gelichtet als sie selbst erscheint die Erde nur, wo sie als die wesenhaft Unerschließbare gewahrt und bewahrt wird, die vor jeder Erschließung zurückweicht und d.h. ständig sich verschlossen hält.´

Mir scheint, daß Heidegger hier charakteristische Züge der Natur-Vergegenwärtigung in der modernen Kunst (nicht nur in der land-art, sondern etwa auch bei Max Ernst, Paul Klee, Franz Marc) getroffen hat — und zugleich eine Differenz dieser Kunst zur wissenschaftlichen Gaia-Hypothese mitbenennt. Gaia möge, so der latente Wunsch der wissenschaftlichen Geo-Physiologen, in ihrer staunenswerten Lebendigkeit sich entschleiern als eine mathematische Figur. Gerade dies ist erneuerter Platon; denn Platon zuerst hatte das Geheimnis der Welt als eine nur der Vernunft zugängliche mathematische Gestalt gedacht. Die Gaia-Hypothese wäre mithin eine Form metaphysischer Mathematik; umso mehr, wenn einige Chaos-Theoretiker heute das mathematische Chaos mit Natur identifizieren. Die land-art dagegen ist im Heideggerschen Sinn nachmetaphysisch. Sie stellt die destruktive Dialektik von Erde und verfügendem Eindringen in sie dar — mit dem Effekt, daß gerade dadurch ihre wesentliche Unverfügbarkeit erscheint und der Mensch seine unhintergehbare Ohnmacht als heilsame Selbstbegrenzung erfährt. Dies wäre die 'Wahrheit´ einer Kunst, die 'Erde eine Erde sein läßt´, die Wahrheit der earth-works. Es muß nicht die Wahrheit der Kunst sein.

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