In: Darsow, Götz-Lothar (Hg.): Metamorphosen des Gedächtnisses; Stuttgart-Bad Cannstatt 1999, S. 23–43.

Hartmut Böhme

Über Geschwindigkeit und Wiederholung im Cyberspace: das Alte im Neuen.

1. Transhumanes Tempo und mythische Form

Die Geschwindigkeit der gesellschaftlicher Wandlungen nimmt in fast allen Sektoren der Gesellschaft zu; das ist eine Trivialität. Vermutlich aber sind Umbrüche schon immer als Akzeleration erfahren worden. Wenn Reiche kollabieren, Revolutionen das Alte niederreissen und die Gesellschaft in ein unbekanntes Neues stürzt, wenn grosse Kriege ausbrechen oder dramatische Krisen herrschen, dann läuft die Zeit, für alle Beteiligten, schneller. Doch auch Medienumbrüche erzeugen Tempo: so zog der Buchdruck mit seinen Flugschriften und "Bildfahrzeugen" (wie Aby Warburg sagt) eine im Vergleich zur skripturalen Kultur gewaltige Steigerung des Zirkulationstempos von Wissen und Symbolen nach sich. Aufgrund von Schnellpresse und Telegraphensystem im 19. Jahrhundert wurde ein Tempo von Informationsvermittlung erzeugt, das Zeitungen bis zu fünfmal täglich erscheinen liess. Dabei hatte man die Schwindelanfälle in den Eisenbahnzügen gerade erst hinter sich. Heute sind Telepräsenz und Videographie, wie sie Paul Virilio untersucht, sind Echtzeit und das Experimentieren mit Nanosekunden im Rechner wie im Teilchenbeschleuniger Effekte von Geschwindigkeiten, die längst das Mass des Menschenkörpers hinter sich gelassen haben. Schnell wie der Wind oder ein Pfeil zu sein oder einen Gedankenblitz zu haben·: dies waren die Ultima von Tempo im agrikulturell-handwerklichen und leiblichen Massstab. Die heute entscheidenden Tempi aber sind transhuman und müssen im Moment, wo sie ihr autonomes anorganisches System verlassen und ins Menschliche übersetzt werden, extrem heruntergebremst werden, um ins Mass menschlicher Verarbeitungskapazität zu kommen.

Am schnellsten ö trotz Concorde und ICE, Raumschiffen und Formel 1 ö sind und entwickeln sich heute die Wissens- und Informationssysteme. Spätestens seit der Nervosität des letzten fin de siècle wurde dies spürbar. Der Futurismus war es, der zürst die transhumane Geschwindigkeit als Imperativ der technischen Kultur und der dritten Natur feierte. Gewiss gibt es hierfür mythische und literarische Vorläufer: jenen Phäton etwa, den Ovid in einem gewaltigen takeoff zum ersten Herön übermenschlicher Geschwindigkeit werden ö und tragisch scheitern lässt. Oder es wird im Grimmschen Märchen "Die drei Brüder" ein Wettstreit des Tempos inszeniert, in welchem der erste einen rennenden Hasen rasiert, der zweite ein galoppierendes Pferd mit neuen Hufeisen beschlägt, der dritte aber den Sieg damit erringt, dass er den Säbel über seinem Kopf in solchem Tempo kreisen lässt, dass er bei stärkstem Unwetter so trocken bleibt, "als säss' er unter Dach und Fach". Hier ist bereits, wie auch im Märchen von "Swinegel und der Has", etwas davon bergiffen, dass die wirkungsvollsten Effekte von Geschwindigkeit dann erzielt werden, wenn man selbst immobil bleibt (der Igel), während hoffnungslos vorgestrig und tragischer Verlierer ist, wer Geschwindigkeit noch am Mass des Körperlich-Möglichen ausrichtet (der Hase). So gibt auch die seltsame Erfindung jenes Propellerregenschirms gleichsam avant la lettre die Grenze des ergomechanischen Systems an, das auch Heinrich von Kleist in seiner "Penthesilea" mit physikalischer Präzision durchbuchstabiert, wenn er Achill und Penthesilea "in einen Kampf wetteifernder Geschwindigkeit" (IV. Auftr., Vers 493/4) verwickelt: hierbei rast Achills Streitwagen mit solchem Tempo dahin, dass der Blick nicht mehr durch die Spreichenräder zu dringen vermag, die sich optisch zur Scheibe geschlossen haben. "Gehetzter Hirsche Flug ist schneller nicht!", heisst es erst altmodisch. Dann aber Newtonsche Experimentaloptik: "Der Blick drängt unzerknickt sich durch die Räder,/ Zur Scheibe fliegend eingedreht, nicht hin!" (III. Auft., Vers 384-6).

Solche Märchen und literarischen Beispiele operieren an und mit der Grenze von Geschwindigkeit im handwerklichen und leiblichen Massstab. Doch geht es schon um die ästhetische Erkundung des Nicht-Mehr-Aisthetischen, also: der nicht mehr ins Mass unserer Sinne fallenden Geschwindigkeit. Ein Experiment mit dem Transhumanen entfesselter Energien im wiederholenden Schema mythischer Handlung ö dies ist die dramatische Idee der ganzen "Penthesilea". Um 1800 formuliert sich schon die äusserste Moderne. Kleists Geschwindigkeitsrausch ist indes nichts Neues. Schon seit einigen Jahrhunderten bewegte sich Europa in einer historischen Dynamik, in der das, was sich am schnellsten entwickelt, den Massstab für Entwicklung überhaupt abgibt. Dabei aber, was oft übersehen wird, gilt für unsere Kultur seit langem, dass es Wissen und Information sind, welche das Mass der Welt abgeben. Ja nicht nur das: sie sind das, was uns beherrscht, obwohl wir sie beherrschen sollten. Diese Regel gilt unabhängig davon, ob ihr zugestimmt wird oder nicht. Sie enthält eine objektive Kraft ö d.h. sie bestimmt die Realität; und sie tut dies als vis a tergo, als Kraft hinter dem Rücken, also unabhängig von unserem Bewusstsein.

Gesteigertes Tempo erzeugt aber auch gesteigert das gesellschaftliche Unbewusste. Schon Hölderlin nannte dies "reissende Zeit" und meinte damit die paradoxen Prozesse von zugleich höchster Verdichtung und dunkelster Auslieferung. Dieses Paradoxon bezeichnet bei Hölderlin die Logik des Tragischen. Hohe Geschwindigkeit, so kann jeder ganz untragisch ö ohne Phäton zu sein ö an sich selbst erfahren, enthält genau dieses Paradox: wir bringen sie zwar hervor ö und doch nimmt sie uns zugleich mit. Geschwindigkeit ist eine der Ekstaseformen, bei denen Hingerissenheit und Kalkül, Rausch und Bewusstsein, Selbstvergessenheit und Geistesgegenwart nebeneinander und zugleich bestehen. Man kann diese Paradoxa geradezu die Formel der Moderne nennen, die dabei ältere Kulturpraktiken radikalisiert und universalisiert. Die Künste nicht nur, sondern auch die Wissenschaften und die gesellschaftlichen Prozesse weisen dieses Paradox der Geschwindigkeit auf. Doch keine Kulturform könnte dies besser allegorisieren als der Tanz, der genau dieses Zugleich von Unbewusstsein und Bewusstheit, von Verausgabung und Kontrolle zur Kunst erhebt. Die Moderne hat die Form des Tanzes. Folgen wir einen Augenblick diesem Gedanken, so heisst dies: das Wissenstempo, das die sozialen Prozesse so hinterrücks beherrscht und das, als Wissen, eben auch bewusst ist, wird immer begleitet oder gekontert oder sogar konditioniert von Automatismen und tief eingespurten Routinen, von unbewussten Wiederholungen und magischem Bann. In der Moderne stehen alle Prämien auf das Neue und Innovative ö das scheint eine kulturelle Selbstverständlichkeit. Doch die höchsten Prämien stehen auf solchen Innovationen, die unbemerkt etwas Uraltes mittransportieren und aufführen. Cyberspace und Internet, welche die Wissensrevolution unserer Tage mediatisieren und damit das Zentrum des gesellschaftlichen Bewusstseins bilden, sind, so meine These, paradigmatisch ein solches Neues und nach vorne Reissendes, das zugleich die zeitgemässeste Form der Wiederholung und der Regression darstellt.

Wohl möglich steckt in diesen Paradoxen mehr als das Doppelgesicht der Moderne. Um dasselbe noch einmal (wiederholend) in anderer Metaphorik zu sagen, die ich Hans Blumenbergs Buch "Höhlenausgänge" entnehme, kann man formulieren: die zivilisatorische Anstrengung, welche aus der Höhle, dem Dunkel, dem Statisch-Ständigen herausführt ins Freie, Helle, Prozessual-Ausgesetzte ö also zur Menschwerdung ö, ist ineins damit ein Weg, diese Höhle als bergende Hülle, als ruhendes Dunkel wieder herzustellen ö also das Präexistenzielle oder Transhumane zu beschwören. Die Zivilisation folgt darin einer doppelten Matrix des Begehrens und des Zwangs: sie muss dem entkommen, was sie begehrt; und in dem, wohin sie entkommt, stellt sie das Begehrte, metamorphorisiert, wieder her. Cyberspace nun ist die zivilisationsgeschichtlich am höchsten entwickelte Bewusstseinsform, gleichsam reines Licht und reine Freiheit; im technisch Virtuellen ist alles selbstidentisch, gewissermassen eine schattenlose Welt aus nichts als Licht. Und doch: Cyberspace reproduziert zugleich die Höhle, die Höhle als Welt und die Welt als Höhle, in der alles nichts als Schattenspiel ist. Nicht zufällig wird keines der Platon'schen Gleichnisse in den letzten Jahren so häufig zitiert wie sein Höhlengleichnis: und immer in dem Sinn, als habe Platon hier die Situation des Menschen in der totalitär gewordenen audiovisüllen Kultur heute beschrieben. Cyberspace dehnt die Höhlengrenze ins Infinite und beruft dennoch dabei das kleinformatig Umhüllende: dieses Ineinander von Fortschritt und Wiederholungszauber ist im Schlagwort vom global village auf die klassische Formel gebracht. Der ungeheure Erfolg dieser Metapher Marshall McLuhans, die er bereits vor dem eigentlichen takeoff des Computerzeitalters prägte, geht auch darauf zurück, das darin die Sehnsucht von Höhlenbewohnern auf die zeitgemässe Höhe technischer Entwicklung gehoben wurde.

Geschwindigkeit charakterisiert ohne Zweifel den Prozess der Zivilisation. Sie ist aber auch das, was die Moderne ins Schwindeln gebracht hat. Sie ist die Bewegung, die die Daseinshöhle des Barbaren radikal hinter sich lässt. Sie treibt die Bewegung der Weltflucht an, die mit der Flucht aus der Höhle koinzidiert. Das Atemberaubende und grandios Abenteuerliche des Cyberspace lässt indes übersehen, dass in ihm auf eine wilde, flottierende Weise das mythische Reservoir und die religiösen Energien der Geschichte abgerufen und wiederhergestellt werden. In Ansätzen hat der Versuch, dies zu verstehen, bereits begonnen. Das wiederhole ich hier nicht. Die Deutungen zur Mythologie und Theologie von Cyberspace sind aber doch schon weit genug gediehen, um zu sehen, dass wir heute ein Forschungsprogramm benötigen, das in der Lage ist, die Verflechtung von avanciertester Technik und mythischer Wiederholung zu entziffern. Meine Annahme ist, dass das Neue und das Uralte, dass Entwurf und Erinnerung, dass energischer Futurismus und Nachleben einen vertrackten Synkretismus der Zeiten erzeugen. Um diesen zu verstehen, können nur erste Beobachtungen und Vorschläge gemacht werden.
 

Who is afraid of Deep Blue?

Im April und Mai 1997 wurde auch die sog. seriöse Presse, vom Feuilleton über die Wissenschaftsbeilage bis zum Titelseitenkommentar und retour, von einem Geschwindigkeitsdrama erfüllt, das je nach Haltung als Alp oder Zukunftsperspektive gedeutet wurde. Es ging um das mediengeputschte Düll von Giganten: Mensch gegen Maschine, nämlich der Schachweltmeister Garri Kasparow gegen den IBM-Computer RS/ 6000 SP2, auf den Namen "Deep Blue" (Gewicht 1,4 Tonnen). "Deep Blue" rechnete pro Sekunden 200 Millionen Positionen durch ö eine unvorstellbare Rechengeschwindigkeit. Sie erregte Journalisten zu epochalen Fragen: schlagen Geschwindigkeit und Quantität des Rechners die kreative Intelligenz des Menschen? Der Schachprogrammierer Christian Donninger, kommentierte, dass "so ziemlich alle Schachfeinheiten auf dem Altar der Geschwindigkeit geopfert" würden.

Wie immer auch ö eine Denkfigur hatte Reprise, nämlich die der drohenden Überholung oder Beschämung des organischen Menschen durch seine eigenen Produkte. Durchaus berührte die Niederlage Kasparows einen empfindlichen Punkt, den Günther Anders mit dem Begriff der prometheischen Scham gefasst hatte. Es scheint so, dass die unvorstellbare Geschwindigkeit der neuen Maschinen die Frage abrief, ob der Mensch durch technische Implementierungen nicht nur verstärkt, sondern final übertroffen werde? Mit einigem Schauder reagierte die Öffentlichkeit darauf. Kasparows Niederlage hiesse: der Mensch wird durch eine neue Spezies abgelöst ö: die intelligenten Maschinen. Ein neues Kapitel in der Evolution, ein Generationenwechsel in der Folge der höchsten Wesen.

Kasparow erklärte zuvor, dass er die Ehre der Menschheit verteidige. Nach seiner Niederlage änderte sich der Tonfall der Kommentatoren. Überall erschienen Artikel zur Abgrenzung von menschlicher und maschinaler Intelligenz. Das Düll war gar keines gewesen. Die ZEIT (vom 23.5.97) brachte z.B. einen Artikel über die Hirnforschung zum menschlichen Bewusstsein, um zu zeigen, wie weit die maschinalen Imitationen menschlicher Fähigkeiten von einer Simulation des Bewusstseins entfernt seien. Doch war man nun vorsichtig. Obwohl die Besonderheit des Menschen erst einmal gerettet war, liess man am Ende den amerikanischen Neurophilosophen Paul Churchland zu Wort kommen, der die vollständige Substituierung menschlichen Bewusstseins durch intelligente Maschinen vorausdenkt und meint: "Wenn Maschinen es schaffen, alle unseren kognitiven Tätigkeiten bis ins letzte Detail zu simulieren, dann wäre es geradezu ein neuer Rassismus, ihnen den Status echter Personen vorzünthalten." (ebd.) Political correctness für Roboter!

Aufschlussreich war, dass das Publikum (in New York) nach dem 'genialen' Sieg des Rechners in der 2. Partie dem Rechner "standing ovations" brachte, oder, wie ein Journalist sich korrigiert, vielleicht doch den Konstrukteuren? Währenddessen taumelte Kasparow weinend aus dem Saal. Er äusserte später, dass er sich schäme: die klassische Reaktion, die Günther Anders beschrieben hatte.

Nicht zufällig kommt in diesen Wochen der Vorsitzende der Foundation on Economic Trends in Washington, Jeremy Rifkin, ausführlich zu Wort, um von einem "grundlegenden" Wandel zu sprechen, der "die Zivilisation verändern" wird und zwar "in rasender Geschwindigkeit" (ZEIT 2.5.97). Rifkin meint den Wandel durch die Informationstechnologien. Nicht länger gehe es um die Ersetzung von körperlicher Arbeit durch mechanische Produktionssysteme, sondern von "menschlichem Geist" durch "denkende Maschinen". Vor Jahren schon hatte Rifkin Aufsehen damit erregt, dass er für das 21. Jahrhundert einen "time war" ö einen Krieg der Geschwindigkeiten ö prognostizierte. Weder damals noch heute meinte er allerdings solche Albernheiten, durch welche das Düll Kasparow ö Deep Blue vielleicht eine Zeit einläutet, in welcher menschliche Schachweltmeisterschaften für ein Publikum von beobachtenden Computern ungefähr so interessant sein werden wie für Menschen Pferderennen oder Hahnenkämpfe. Rifkin ist es bei der prognostizierten Ablösung des menschlichen Geistes durch die Maschinen um die Zukunft von Arbeitsplätzen zu tun. Wie in der mechanischen Revolution eine Unzahl von Arbeitsplätzen überflüssig wurde, so würd dies auch in der Informationsgesellschaft sein: "das Informationszeitalter" und die "Cyberspace-Ökonomie" schafften aufgrund der Temposteigerung von Produktion und zentralen Dienstleistungen "die Massenbeschäftigung" ab. Die soziale Unruhe, die davon ausgehen werde, stellt nach Rifkins Meinung das zentrale Zukunftsproblem der Politik dar.

Innerhalb dieses Feldes ist 'Kultur' in der Industrie unterdessen zu einem key-word avanciert. Es geht nicht mehr um das Ziel automatisierter, menschenleerer Betriebe, die, ungestört von der Fehlerqülle Mensch, vor sich hinarbeiten, allenfalls über Steuerungssysteme noch mit Menschen verbunden (Computer Integrated Manufacturing, CIM). Vielmehr hat sich die Einsicht verbreitet, dass es auf kooperative Beziehungen zwischen Mensch und Maschine und zwischen den Menschen ankommt, wenn die Effektivität und das Tempo des Systems erhöht werden soll. Dafür wird Teamfähigkeit, Kommunikation, Teilung von Verantwortung, Flexibilität, Lernfähigkeit, hohe Kompetenz und Informiertheit erwartet ö nahezu alles Fähigkeiten, die nichts mit technischlen Fertigkeiten zu tun haben, sondern mit mentalen, kulturellen und sozialen Voraussetzungen. 'Kultur' ist das Sammelkonzept, unter dessen Label ein neuer Kommunikations- und Managementstil in die Ökonomie eingeführt wird. Daraus erwächst, was heute avancierte "Unternehmenskultur" heisst.

In einem anderen, zentralen Sektor der Gesellschaft konstatiert der neue Präsident der DFG, der Gen-Forscher am Münchner Institut für Biochemie, Ernst-Ludwig Winnacker, in einer Rede zur Jahresversammlung des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft (vgl. ZEIT 2.5.97) ebenfalls die Geschwindigkeit als charakteristischen Zug der Entwicklung, nun aber des Wissens. Sein Beispiel ist die Biotechnologie, in welcher die Kombination der neuen Wissenschaftskultur (Interdisziplinarität, Kommunikation, Team) mit neuen Wissenstechnologien (Mikrotechnik, Hochleistungsrechner) zu einer Entwicklung geführt hat, die innerhalb weniger Jahre die Physik als Leitwissenschaft ablöste. Biotechnologie sei die paradigmatische Wissenschaft überhaupt geworden. Auch hier geht es um Geschwindigkeit: zum einen um den gnadenlosen Wettlauf zwischen den USA, Japan und Europa; zum anderen darum, dass Wissen in einem Tempo und Umfang erzeugt wird, welche einzelne Institute, Universitäten, Grossfirmen oder Länder überfordern. Winnacker fordert "globalen Wettbewerb" in der Grundlagenforschung, weil gerade in der Biotechnologie der Vorsprung im Basiswissen unmittelbar koinzidiert mit optimierten, ertragsintensiven Nutzungsanwendungen. Die neue "Innovationskultur" ö auch dies eine currente Variante des Kulturbegriffs ö erfordert eine Fusion von Staat, Konzernen, Universitäten, Forschungseinrichtungen zu nationalen oder internationalen Grossprojekten, in denen allein noch die geforderte Geschwindigkeit von Entwicklung erreichbar scheint. Unerwähnt bleibt, dass diese Geschwindigkeit auch zur Depersonalisation des Wissenschaftsprozesses führt. Da das Forschungstempo nur zu halten ist, wenn man grosse Massen von Wissenschaftlern fusioniert, verschwinden die einzelnen Köpfe im Kollektiv; es gibt keine Autoren der Erkenntnis mehr.

Selten wird die Geschwindigkeit der Wissensproduktion als Problem der Gesamtkultur oder der Einzelnen verstanden. Dies wird indes sofort sichtbar, wenn man das objektive Wissenswachstum im Verhältnis zu den subjektiven Verarbeitungskapazitäten in den Blick nimmt. Nehmen wir an, dass um 1500 jemand mit sehr guten Bildungsbedingungen das Weltwissen wenn nicht in allen Einzelheiten, so doch in den relevanten Bereichen repräsentativ in sich versammeln konnte. Noch gab es eine Korrespondenz zwischen den externen Speichern (wie Bibliotheken, Handschriften) und der Kapazität individüllen Gedächtnisses und kognitiver Verarbeitung. Die enzyklopädeischen Anstrengungen des 17. Jahrhunderts und die berühmte Encyclopédie von d'Alembert und Diderot um die Mitte des 18. Jahrhunderts weisen jedoch schon eine qualitativ neue Dynamik auf: die von sehr vielen Experten bearbeiteten Resumés von Teilgebieten des Wissens konnten nicht mehr in einem Kopf, sondern nur noch in einem Werk vereinigt werden, das die Fassungskraft eines Universalgelehrten beiweitem überstieg. Gerade die Enzyklopädien sind ein Indiz dafür, dass exzellente Gelehrte vielleicht noch die Navigationspläne im Wissensuniversums beherrschen konnten; das Wissen insgesamt aber verschwand schon in einen Bereich jenseits des Menschen. Und die Enzyklopädien selbst veralteten fortan immer schneller: sie wurden zu Datenbanken von nur noch historischem Wert. Diderots und d'Alemberts Unternehmen blieb denn auch das letzte seiner Art: ein Monument der Aufklärung. Jedes Universal-Lexikon seither ist im Augenblick seiner Vollendung veraltet.

Seit Jahrhunderten ist zu beobachten, dass das unüberschaubare Wissen immer grössere Speicher beansprucht, die ihrerseits immer kompliziertere Ordnungs-Verfahren erfordern. Vom Gesamtwissen, das in Bibliotheken oder Datenbanken gespeichert ist, kann jeder nur einen winzigen Ausschnitt realisieren. Alles andere Wissen ist Wüste und Wildnis. Der Anteil des vom Einzelnen kultivierbaren Wissens ist verschwindend. Lebenszeit und Verarbeitungsgeschwindigkeit des Menschen reichen für das Wissensuniversum prinzipiell nicht mehr aus. Es gibt keine biographische Aussicht mehr auf wachsende Reife im Feld des Wissens und damit sich einstellender Weisheit. Das Wissen des Einzelnen kumuliert sich nicht, sondern es wird ständig entwertet und muss permanent neu aufgebaut werden. Das life-long-learning markiert den Umschlag von Wissensgeschwindigkeit in einen neuen Biographietyp: Leben heisst, mit dem ununterbrochenen Veralten fertig zu werden und an die Stelle von Erfahrungswissen, Bildung und Tradition so etwas zu setzen wie Netzwerk-Kunst, Navigationsvermögen, Adaptionsfähigkeit. Dies geschieht in immer grösserem Tempo. Das Anwachsen des neuen Wissens erzeugt komplementär dazu ein grösser werdendes Feld von Wissensruinen, Zonen des Vergessens, Museen, Relikten, historischem Gedächtnis. Nicht nur das Wissen wächst exponentiell, sondern auch die Vergangenheit. Die unheimliche Komprimierung der Ereignisdichte und der Wissensdaten schlägt schon heute oft in Wüste um. Die gegenwärtige Kultur ist, obwohl menschengemacht, bereits transhuman. Jeder einzelne Mensch, so gebildet man sein mag, ist im Verhältnis zur Gesamtkultur und dem Gesamtwissen auf den Stand des "idiotes", des Barbaren gedrückt. Dies ist ein seltsames Paradox: je mehr Wissen erzeugt wird, um so barbarischer werden wir. Es sind weniger die Maschinen in ihrer stählernen Eleganz, als die Tempi der Wissensprozesse, welche uns beschämen. Sie verwandeln uns, so klug wir sein mögen, zu Hinterweltlern, zu Unwissenden, zu Vorgestrigen. In einer Art Umkehraffirmation raten deswegen viele Zeitgeist-Theoretiker dazu, die Transhumanität der Wissens- und Techniksysteme anzürkennen und die Entwicklung der Zukunft unseren Computern zu überlassen, die uns ohnehin in ihrer Hand hätten. Das mag von denen einen als Apokalypse, von den anderen als neues Paradies angesehen werden: sicher ist, dass wir es hier mit einem Effekt zu tun haben, der heisst: die Geschwindigkeit der historischen Entwicklung ist den Menschen entglitten.

Der konservative Skeptiker Odo Marquard, unverdächtig des Technikkultes wie des Abendland-Lamentos, sieht darin eine "tachogene Weltfremdheit" (gr. tachos = Eile, Schnelligkeit) der Einzelnen und seiner biographischen Bestände, aber auch der Kultur und des Wissens. Er identifiziert, wie Paul Virilo, in der in diesem Jahrhundert eingeschlagenen Geschwindigkeit der soziokulturellen und kognitiven Prozesse die Hauptursache für die eigentümliche Unerreichbarkeit, in die die Kultur und das Wissen gerückt sind.

Freilich kann diese Entwicklung, die bei Ereignissen wie dem Düll Kasparow ö Deep Blue gern als Sensation hochgespielt werden (während man sich heute kaum noch daran erinnert), niemanden wirklich überraschen. Bereits Nietzsche, vor mehr als hundert Jahren, hat die kulturelle Steigerung der Geschwindigkeit beobachtet und auf die leiblichen und aisthetischen Verarbeitungskonseqünzen hin reflektiert:

"Die Sensibiltität unsäglich reizbarer ... die Fülle disparater Eindrücke grösser denn je: der KOSMOPOLOTISMUS der Speisen, der Literaturen, Zeitungen, Formen, Geschmäcker, selbst Landschaften usw. Das TEMPO dieser Einströmung ein PRESTISSIMO; die Eindrücke wischen sich aus, man wehrt sich instinktiv, etwas hereinzunehmen, TIEF zu nehmen, etwas zu "verdaün"; Schwächung der Verdauungs-Kraft resultiert daraus. Eine Art ANPASSUNG an diese Überhäufung mit Eindrücken tritt ein: der Mensch verlernt zu AGIEREN; ER REAGIERT NUR NOCH auf Erregungen von aussen her."

Im Futurismus wurde diese Entwicklung im Zeichen technischer Mobilisierung keineswegs kulturkritisch wahrgenommen, sondern hymnisch begrüsst. So gewinnt der Maler Umberto Boccioni im "Manifest "Futiristische Malerei und Plastik" aus der technischen Beschleunigung Ansätze einer neuen Ästhetik:

"Es handelt sich also darum, eine Form zu finden, die Ausdruck dieses neuen Absolutum ist; der Geschwindigkeit, die ein wirklich moderner Mensch nicht unberücksichtigt lassen kann. Es handelt sich darum, die Aspekte zu untersuchen, die das Leben in der Geschwindigkeit und in der aus ihr folgenden Simultaneität angenommen hat." Dieses neue Absolutum liefert Boccioni das Bild "eines herrlichen Schauspiels: des modernen Lebens; eines neuen Fiebers: der wissenschaftlichen Entdeckung." Der Wortführer des Futurismus, Tommaso Marinetti, phantasiert im Zeichen dieses Absolutums eine Art Fusion der neuronalen Netze mit dem globalen technischen Kommunikatzionsnetz, wodurch das traditionale Ich ausgelöscht und eine transpersonale "drahtlose Phantasie" installiert würde. Dichtung ist mit dem "Kult des Fortschritts und der Geschwindigkeit" gleichgesetzt und gewinnt fast schon den Status des freien Flottierens im Cyberspace: Der Dichter "wirft ... riesige Analogiennetze über die Welt aus. Er gibt damit telegraphisch den aus Analogien bestehenden Grund des Lebens wieder, d.h. mit derselben ökonomischen Schnelligkeit, die der Fernschreiber den Reportern und Kriegsberichterstattern für ihre oberflächlichen Erzählungen auferlegt. Dieses Bedürfnis nach lakonischer Ausdrucksweise entspricht nicht nur den Gesetzen der Geschwindigkeit..." Um 1900 wurde der technische Impuls als moderne Nervosität inkorporiert; am Ende des Jahrhunderts wird die Exteriorisierung des neuronalen Netzes als weltumspannendes Nervensystem gedacht. Dazwischen liegt eine Geschichte von Wissensexplosionen, welche in ihren anthropologischen Folgen kaum überschätzt werden kann.
 

Das Wissen als Motor der Beschleunigung

Als einzelner mag man glauben oder auch mächtige Gruppen mögen annehmen, dass andere Sektoren dynamischer, eingreifender, bestimmender seien als das Wissen. Zum Beispiel wird dies vom Militär gesagt: welch eine kraftvolle Dynamik hat vom Zeppelin zur intelligenten Bombe geführt! Entscheidet sich nicht die Frage der Macht an diesem Parameter? Ist nicht der Krieg der Vater aller Dinge, also auch der Geschwindigkeit? Wurde nicht jede Temposteigerung der letzten Jahrhunderte im Krieg erfunden und erprobt? Oder die Verkehrssysteme: welche umwälzende Steigerung von Tempo, Mobilität, Vielfalt, von systematischer Entfaltung zu Land, Luft und Wasser für Menschen- und Materiemassen in nur einem Jahrhundert! Bestimmen sie nicht das Gesicht der Gesellschaften und des Einzelnen und beherrschen sie nicht die Position im ranking der Kräfte? Ist nicht der Mensch, peregrinus vormals ö ein Wanderer, zum Passagier geworden, wie Paul Virilio meint, unstet wie ein Nomade in den ephemeren Nicht-Orten des Transports? Oder die Geschwindigkeit der sozialen und politischen Prozesse: ist sie in diesem Jahrhundert nicht höher als jemals zuvor und wird sie nicht zum Indikator der Chancen von Gesellschaften im Wettstreit mit anderen? Oder das Tempo der Umwälzung von Lebenswelten und -stilen: man muss nur den Gerätepark vom Microwave bis zur Multimediamaschine einer heutigen Wohnung mit der Familienwelt hundert Jahre zurück vergleichen, um die ungeheuren Veränderungen des Alltagslebens zu ermessen, die sich in einer historisch sehr kurzen Spanne vollzogen haben.

Alle diese Entwicklungen haben ein Gemeinsames: Militär und Verkehr, soziale Systeme und Lebenswelt, so unterschiedlich sie sein mögen, sind gleichermassen erfasst von einer übergeordneten Entwicklung. Dies sind die von den technischen Naturwissenschaften erzeugten Veränderungen, die ihrerseits Variablen des Wissenssystems darstellen. Auf allen Ebenen hängt das Leben und Überleben des Einzelnen, der Kollektive und Sozialwesen von der Dynamik des Wissens ab. Das Wissen ist gegenwärtig der einzige relevante exponentielle Wachstumsbereich; ein System, das sich unabhängig generiert und das sich über politische und kulturelle Differenzen und Gegensätze hinweg durchsetzt, und zwar strukturell identisch und ubiquitär; ein System, das, makroökonomisch betrachtet, nichts kostet, weil es die Kosten seiner Entwicklung indirekt selbst erbringt (die Gesellschaften, die den höchsten Wissensstandard aufweisen, sind die reichsten und selbstverständlich auch die mächtigsten). Das oft benutzte Wort, dass wir unterwegs zu einer Wissensgesellschaft seien, ist nur darin falsch, dass wir nicht im Aufbruch zu, sondern schon mitten in einer Wissensgesellschaft leben.

Die Gesellschaften hängen am Tropf der Wissensentwicklung. Der Wettlauf, der Wettkampf, ja, der lautlose Krieg um Wissensvorsprünge wird das nächste Jahrhundert bestimmen. Bis in alle Provinzen des Lebens hinein. Dass die Wissenschaften eine wunderbare Machtressource sind, wie schon Francis Bacon wusste, ist heute eine Binsenwahrheit. Aber auch ein intelligenter Wohlstand, der mit sozialen, ökologischen und generationsübergreifenden Dimensionen abgestimmt ist, wird nur zu erreichen sein mit Wissenschaften, die quantitativ und qualitativ reich sind. Eine Gesellschaft, die ihr vitalstes Interesse nicht in den 'Mehr-Wert des Wissens' setzt, hat keinen Willen zur Zukunft. Das heisst: sie verfährt selbstmörderisch.

Man muss dies nicht verlockend oder gar human nennen. Man mag religiöse oder politische Systeme als Rahmen kultureller Entwicklungen für angemessener halten. Sicher wäre es ethisch besser und ästhetisch schöner, soziale Entwicklungen hin auf menschliches Glück zu orientieren, wie es die grossen Traditionen der Aufklärung getan haben. Doch insgesamt haben die europäischen Gesellschaften seit der Renaissance eine andere und konseqünte Richtung eingeschlagen, die unumkehrbar geworden ist, unterdessen auch im globalen Massstab. 'Kalte' Kulturen, um eine Kategorie von Claude Lévi-Strauss aufzunehmen, stellen ihren Erfindungsreichtum, ihre Kraft und ihre Einrichtungen darauf ab, einmal erreichte Verhältnisse zu stabilisieren, Veränderungen, die diese Balance gefährden könnten, zu vermeiden, und sich in einem unvordenklichen Ursprung, der zugleich Grenze und Einheit der Gesellschaft darstellt, zu verankern. 'Heisse' Gesellschaften tun genau das Entgegengesetzte: sie begünstigen das Neue, finden ihre Balance in der ständigen Veränderung, binden sich nicht zurück an imaginäre Ursprünge, sondern voraus an (noch) ungedeckte Entwürfe; sie wollen nicht ein auf Daür gestelltes Hier und Jetzt, sondern deren ständige Mobilisierung und Überschreitung. Die longü durée (welche Mentalitätshistoriker wie Marc Bloch und Lucien Febvre entdeckten) besteht bei modernen Geselschaften nicht in der Persistenz stabiler Strukturen. Unsere Daür, wenn in ein Nietzscheanisches "Wir" zu fallen hier erlaubt ist, besteht in deren permanentem Dementi, in der auf Daür gestellten Umwälzung, im "test drive", wie es Avital Ronell genannt hat, im endlosen Willen zum Experiment. Wir leben folglich in einer anstrengenden und herausfordernden, ungemütlichen und ruhelosen Kultur. Der "test drive" ist, auch wo er unblutig ist, knallhart. Das Leben, das er uns abverlangt, ist eine totale Mobilmachung der Kräfte, eine radikal nachparadiesische Verurteilung zu einer monomanischen Arbeit, die unser persönliches Können täglich überfordert (während viele andere nichts zu arbeiten haben).

Ob wir wollen oder nicht ö das kennzeichnet die Lage von Gefangenen ö: Wir können aus dem "Zug der Zeit" nicht mehr aussteigen, von dem Robert Musil einmal sagte, dass man immer wieder ihm zurufen möchte: Halt! Fahren wir nicht verkehrt? Wir können einen Zug, der nicht mehr ein Teil, sondern das Ganze ist, nicht verlassen und wir können ihn auch nicht wechseln. Ein solcher Zug ist das System des Wissens: seit Jahrhunderten nimmt es uns mit (im doppelten Wortsinn) ö in steigender Geschwindigkeit. Und dieses System des Wissens, und das macht es so erregend, hat keine natürliche Entwicklung, es führt nicht zu einem vorbestimmten Ziel, es ist brutal und zerstörerisch oder fruchtbar und hilfreich, es weist also nicht von sich aus eine ethische Dynamik auf, es ist sozial wie asozial, kritisch und herrisch, öffentlich und esoterisch, kurz: so ambivalent und zerrissen wie fast alles, was wir tun und was wir sind. Das System des Wissens ist also umgreifend und dynamisch, es ermöglicht und bestimmt uns, es ist fast so etwas wie unser Schicksal ö und doch müssen wir fähig werden, nicht nur in ihm zu navigieren, es zu nutzen und anzuwenden, sondern es auch zu steuern und zu kritisieren. Dies ist die Paradoxie, die Musil mit dem "Zug der Zeit" vor Augen hatte: er reisst uns mit und wir müssen sagen, woher, wie und wohin ö wenn dies denn noch möglich ist.
 

Wissenschaften und Künste

Die technischen Naturwissenschaften, die alle wichtigen Entwicklungen bestimmen und darin fast schon wie eine mythische Macht fungieren, sind mit der Dynamik, die sie hervorgerufen haben, offensichtlich überfordert. Ihre Hyperspezialisierung und fabrikförmige Organisation verhindern geradezu strategisch die Reflexion auf sinnvolle Ziele, und auf das Abwägen von Mitteln im Verhältnis zu diesen. Sie weisen keinerlei intrinsische ethische Motivation auf ö alle moralischen Normen treten von aussen und meist post festum (nach Katastrophen, Kriegen, entsetzlichen Erfolgen) an sie heran wie Zwerge, welche Riesen mit Argumenten in den Arm fallen wollen. Der Fortgang der Naturwissenschaft und Technik ist unabhängig geworden von der ethischen Substanz derjenigen, die sie betreiben. Dass in den vergangenen Jahren prominente Naturwissenschaftler mit Büchern aufwarten, die sich mit philosophischen, ethischen und politischen Fragen beschäftigen, bestätigt diese Regel: denn dies geschieht durchweg im Memoiren-Alter. Dann erst und vorausgesetzt, sie sind zuvor brillant gewesen, beginnen sie, über die Entwicklungslogik ihres Faches, seine Integration in die Geschichte und seine ethische Legitimation nachzudenken. So wichtig diese Bücher sein mögen ö sie sind kompensatorisch im Sinne Odo Marquards, Versuche also zum Ausgleich von Modernisierungsschäden, die den technischen Naturwissenschaften unvermeidlich innewohnen. Es sind Ornamente am "stahlharten Gehäuse", wie Max Weber die Moderne metaphorisch fasste. Die transhumane Verfassung moderner Wissenschaften wird davon nicht berührt.

Die Kultur, die Künste und die Geisteswissenschaften bieten ein reziprokes Bild. Sie haben in den letzten Jahrzehnten die posthistoire, die Postmoderne, die postindustrielle Gesellschaft, die zweite Moderne auf und ab buchstabiert, die vielen Enden besiegelt, das Ende der Metaphysik, der grossen Erzählungen, der Kunst, der Natur, der Geschichte, des Subjekts, des Sinns, der Schrift wortreich begangen und zuweilen auch erklärt. Sie haben sogar ihr eigenes Ende vorgeschlagen. Das hätte ihre Musealisierung zur Folge: was sich nicht mehr bewegt, taugt bestenfalls zur Sammlung und Konservierung, zur Ausstellung in einem Akt gnädigen Erinnerns. Doch darum geht es nicht. Es geht auch nicht um die Fortsetzung der Krisenreflexion, welche die Künste seit der Avantgardebewegung um 1900 betreiben und worin die Geisteswissenschaften ihnen seit längerem folgen (eine ältere Denkfigur von 1800 wiederholend). Theoretisch, methodisch und materialiter ö d.h. hinsichtlich ihrer Grundlegung, ihrer Verfahren und ihrer Gegenstandsebene ö haben die Künste und, wenigstens in den letzten Jahrzehnten, auch die Kulturwissenschaften nichts unterlassen, was man hätte von ihnen erwarten dürfen, um auf der Höhe der Zeit zu sein. Sie sind es dennoch nicht.

Sie weisen gewiss das Mass an Reflexivität auf, das für die Moderne eine conditio sine qua non ist. Beispiel dafür sind der Dekonstruktivismus und radikale Konstruktivismus, die ja keineswegs eine Erfindung von Theoretikern sind, sondern schon lange zuvor eine ästhetische Figur, ja, den Inbegriff der ästhetischen Verfahren schlechthin bildeten. Die Wissenschaften sind innovativ im Entwickeln neuer Fragestellung und Erschliessen neuer Gebiete ö wie z.B. interkulturelle, medienhistorische oder kulturanthropologische Felder. Sie sind flexibel und kreativ im Aufbau von Diskurswelten. In drei Jahrzehnten haben sie die Frankfurter Schule, den Strukturalismus, die Semiotik, die Systemtheorie, den Poststrukturalismus, den Dekonstruktivismus, die Gender History, die Mentalitätsgeschichte, den New Historicism und andere Theorieansätze aufgenommen und umgesetzt. Die Künste haben alle Möglichkeiten thematischer Erweiterung, der medialen Ausdifferenzierung und Interferenz, der Materialerprobung, der Erkundung von Produktions- und Performanzverfahren durchexperimentiert ö in einem atemlosen Tempo, das in den traditionellen Künsten nur deswegen einer Erschöpfung Platz zu machen scheint, weil die Innovationskräfte sich von den Künsten auf die innere Dynamik der apparativen Techniken verschoben haben. Das heisst: die Geisteswissenschaften haben ebenso wie die Künste den Modernisierungsschub hinter sich.

Dennoch überfordert das Tempo, das die Kultur nach dem Durchbrechen der Schallmaür der Moderne eingeschlagen hat, die Künste und die historischen Wissenschaften vermutlich prinzipiell. Reflexions- und Orientierungswissen zu liefern, wie es von den hermeneutischen Wissenschaften und den Künsten seit je verlangt wurde, setzte Sichtpunkte für eine Kartographie der kulturellen Landschaft voraus. Das war jedoch an die klassische Haltung der theoria gebunden, die von fester Position aus das Bewegte und Katastrophische überblickte und vermass. Hans Blumenberg nannte das, Lukrez zitierend, die Situation eines "Schiffbruchs mit Zuschaür". Diese Haltung ermöglicht nicht nur Kartographie, sondern ebenso die Sammlung und das Museum, die Orte, welche die an ihnen aufbewahrten, dem Gebrauch entzogenen Dinge und Artefakte in "Semiophoren" verwandelt, wie Krzystof Pomian sagt. Über sie wird der Verkehr von Unsichtbarem und Sichtbarem, Toten und Lebenden, Vergessen und Erinnerung reguliert. Diese privilegierte Lage ist vorbei, auch dort, wo kein Schiffbruch geschieht. Wie der Künstler schon lange, ist heute auch der Theoretiker oder der Kustode mitten einbegriffen in die Prozesse, die er thematisiert. Er ist ohne festen Boden, ohne eine massstäbliche, rahmende Vernunft, ohne Regularien des Erinnerns und der Verflechtung der Zeiten, ohne Distanz und ohne feste Hierarchien. Er ist im Malstrom, doch nicht mehr, wie bei E. A. Pö, im Malstrom eines heimtückischen, doch berechenbaren Meeres, sondern eines rasenden Wissenstroms mit unbekannter Richtung. Dies hat Folgen.
 

Anthropologische Folgen

Und zwar deswegen, weil von den technischen Entwicklungen diejenigen Bereiche überrollt und zugleich mobilisiert werden, welche zu den klassischen Sinnbezirken der Künste und humanities gehörten. Dadurch hat sich das Verhältnis von Naturwissenschaft und Kultur noch einmal verschoben: es gibt nahezu keine (relevanten) Zonen mehr, die nicht technisch durchdrungen werden. Nehmen wir an, dass Denken und Erinnern, Empfinden und Vorstellen, Kommunizieren und Planen wesentliche Grundakte des animal rationale sind. Nehmen wir an, dass Sich-Bewegen und Interagieren, Fortpflanzen und Sterben basale Grundmuster des Menschen als Lebewesen sind. Nehmen wir an, dass Tiere und Pflanzen, Stoffe und Landschaften als das Von-Sich-aus-Daseiende ö nämlich als Natur ö gelten und Geltung beanspruchen. Nehmen wir an, dass menschliches Leben einer symbolischen Rückversicherung (religio) bedarf, in einem Gott, im Baum der toten Ahnen, im mythischen Gewebe der Welt, in der allgemeinen Lebendigkeit der Natur, in der Tiefe geschichtlicher Zeit, in der Evidenz gemeinsamen Raumes. Nehmen wir dies an und erkennen darin die grossen Leitmotive des (nicht nur europäischen) Denkens der Vergangenheit, die in Religion und Philosophie, in Kunst und Politik aufs leidenschaftlichste bewegt wurden; und erkennen wir, dass die Kulturwissenschaften mit der Auslegung und Erklärung dieses kulturellen Erbes beschäftigt sein sollten, ö so müssen wir eingestehen, dass sämtliche dieser Leitmotive heute zu technisch-wissenschaftlichen Problemen geworden sind, von denen Künstler wie Geisteswissenschaftler in der Regel nichts verstehen. Es gibt nicht mehr die "zwei Kulturen", wie Charles Percy Snow, oder die "drei Kulturen", wie Wolf Lepenies das Universum des Wissens unterteilen. Es gibt nur noch eine Kultur: die technische. Und die schönwetterischen Reden über die neue Globalisierung als Weltkultur laufen darauf hinaus: alle Globalisierungen sind technisch-wissenschaftliche Strategien. Trotz aller Modernisierungsanstrengung ö zwischen den Künsten und Geisteswissenschaften einerseits und der technologischen Entwicklung andererseits klafft ein dramatisches cultural lag.

Dazu wenige Beispiele: Was Gedächtnis, Kognition (Wissen, Wahrnehmung) und die Kombination von Informationen zu Netzen, was also "Geist" ist, wird von der Neurobiologie und der Computerwissenschaft, die zur monopolartigen Kognitionswissenschaft fusioniert sind, besetzt. Was die klassische Anthropologie als ontologische Substanz, was die historische Anthropologie ö dernier cri der Humanwissenschaften ö als prozessuale geschichtliche Figur des Menschen ausgearbeitet haben, wird zum technischen Dispositiv: für das künftige Design des Menschen. Der menschliche Leib, seine Ausstattung, Leistungen und Ästhetik wird in der Transplantationsmedizin, der Prothetik, der Gen- und Reproduktionsmedizin und der Cyberspace-Technik zu einer Ingenieursfrage. Was intersubjektive Verständigung ist, wird durch die telematischen Kommunikationsmedien bestimmt. Phantasie ist eine Funktion der massenmedialen Multis, deren Simulationspotenz die Einbildungskraft der einzelnen Menschen beschämt. Die kulturhistorische Ausdifferenzierung der Medien und Künste wird im Monomedium des Computers zu einer geschichtslosen Synchronizität technisch integriert. Tiere, Pflanzen und Stoffe sind entweder technisch verwertbare Ressourcen oder Bausteine von technischen Neuentwicklungen anderer Tiere, Pflanzen, Stoffe. Tiere und Pflanzen werden entworfen wie Automodelle. Die alte Praxis der Züchtung, die im rassistischen Biologismus ihren perversen Höhepunkt fand, ist altbacken und unelegant. Es ist Unfug zu glauben, dass irgendeine der angelaufenen Entwicklungen gestoppt werden könnte. Es wird ein epochal neuer Todesbegriff (Hirntod) kreiert, um der transplantativen Hochleistungsmedizin zu ihren Ressourcen und Versuchsreihen zu verhelfen. Es wird prothesenmedizinisch und neurochirurgisch der menschliche Leib schon jetzt als eine Synthese von organischer Substanz und technischem Aggregat behandelt. Die Gen-Medizin, wenn sie nicht gegen Prinzipien des wissenschaftlichen Fortschritts verstossen will, kann gar nicht anders, als das menschliche Genom zum Feld des Experiments und der Nutzungskämpfe zu machen. Die Natur insgesamt ist entweder technisches Design oder Müll. Dieses Zweiklassensystem ist als ein Effekt der technischen Züchtung ins Reich der Pflanzen und Tiere und Stoffe bereits eingeführt ö und es sieht so aus, dass diese Dichotomie auch die Weltbevölkerung neu aufteilen wird.

Durchweg erkennen wir hier traditionelle Bereiche der Geisteswissenschaften und der Künste neu, nämlich technisch-wissenschaftlich formiert. Davon versteht der Philologe so wenig wie der Politologe, der Maler so wenig wie der Regisseur. Gewiss kann man die skizzierte Entwicklung das vielleicht grossartigste Abenteuer nennen, was je unternommen wurde. Die Frage ist, wie Geisteswissenschaftler und Künstler, die in technisch-naturwissenschaftlichen Fragen notorisch ignorant sind, sich dazu verhalten können. 'Natürlich' zürst, indem sie technische Kompetenz erwerben. Das wird der jetzigen Generation kaum mehr möglich sein, auch wenn eine nachholende Adaption technisch-wissenschaftlichen Wissens und seiner Anwendung allenthalben in Kunst (zB. Stellarc) und Wissenschaft (z.B. D. de Kerckhove, F. Kittler) zu beobachten ist.
 

Das Alte im Neuen

Vor allem aber bedarf es einer Mobilisierung der Geschichte gegen die technische Einlösung der hybridesten ihrer Ressourcen. Was heisst das? Die technischen Entwicklungen laufen auf eine rigorose Vernichtung der historischen Zeit hinaus: dies erzeugt eine Art Stillstand inmitten der Beschleunigung. Und sie verwirklichen uralte, mythische und religiöse Antriebe: dies rückt das Dynamische in den Bann der Wiederholung. So selbstevident all das Neue der technischen Kultur ist ö es ist durchaus ungewiss, was das am Neuen wirklich Neue oder das als Neues larvierte Alte ist. Die technische Kultur ist dramatisch unaufgeklärt über sich selbst. Vielleicht ist deswegen das Programm einer zweiten Aufklärung so nötig wie niemals zuvor. Das öffentliche Bewusstsein über die Dynamik der technischen Entwicklung ist vernebelt. Die Naturwissenschaftler wissen in den meisten Fällen nur das, was in den Maürn ihrer Labore geschieht. Sie haben keine Ahnung über Herkunft und Richtung dessen, was sie tun. Jede der oben genannten Fronten der technischen Avantgarde hat ihren Ort in der Imagologie der europäischen Geschichte. Die Selbstvergöttlichung als Programm; die Unsterblichkeitsidee; die Überschreitung der Grenzen von Zeugung und Tod; nicht nur die Benennung (Adams Aufgabe im Paradies) sondern auch die Schaffung der Pflanzen, Tiere und Stoffe; die Züchtung und Veredelung von Eliten; der kommunitäre Zusammenschluss aller zu einer globalen Gemeinschaft in einem zeit- und raumlosen Reich immaterieller Begegnung; die Flucht aus der Welt der Körper, der Materie, der Hinfälligkeit, des Schmutzes, der Endlichkeit; die Schöpfung unsterblicher Werke; das Erreichen transhumaner Intelligenz; die Kreation eines universalen Archivs ohne Vergessen; die vollständige Verfügbarmachung tierischen und pflanzlichen Lebens; die Opferung des Niedrigen zu Gunsten des höheren Zieles ö: all diese Vorstellungen gehören zu den grandiosen Phantasien und Energieinvestitionen der älteren und ältesten Geschichte. Wir können sie an den historischen Zeugnissen studieren, analysieren, erklären, kritisieren: in der Religion und Kunst, in der Philosophie und Literatur, in der Architektur und Wissenschaft. Es ist der Tiefenspiegel historischer Zeit, worin die nicht zufällig auf Geschichtslosigkeit setzende Avantgarde der Techniten ihr Antlitz wiedererkennen könnte ö: es ist alt, vielleicht uralt. Diese vertrackte Dialektik auszuarbeiten: wie im Allerneuesten das Archaische sich wiederholt ö die Figur der Wiederholung, diese geheime Verzauberung der Zukunft durch die Geschichte zu verstehen ö: das wäre eine angemessene Aufgabe einer Zeit gegenüber, deren fortreissender Charakter bislang verhindert, ihrer Wahrheit ansichtig zu werden. In dieser Weise ist jede gegebene Kultur insbesondere in Schwellenzeiten eine Interferenz der Zeiten, ein Durchschuss des präsentischen Bewusstseins mit zumeist unbewussten Wiederholungen ö und das heisst kulturtheoretisch: jede Kultur ist synkretistisch. Und es scheint, dass die gegenwärtige Schwellenzeit in besonderer Weise synkretistisch funktioniert.

In die Eroberungen des Neuen schmilzt sich auf vertrackte Weise das Alte ein. Das Gegenwärtige wird dadurch zu einer Form unbewussten Erinnerns oder symptomatischer Verkörperung. Dies aber ist auch eine Art Vergessen. Das Vergessen hat hier nur nicht jene notwendige und strategische Form des Vergessenmachens des Vergangenen, wenn das Gegenwärtige sich von diesem abzustossen und zu befreien sucht. Sondern im Gegenteil hat hier das Vergessen die besondere Form, das Weiterwirken des Vergangenen zu ermöglichen ö ohne es kenntlich zu machen. Cyberspace ist eine gewaltige Maschine nicht-kenntlichen Vergessens oder unbewussten Erinnerns.

Das erlaubt das vielfältige, zumeist passagere und doch permanente Wieder-Holen kulturell alter, vor allem magisch-fetischistischer, mythischer, religiöser und metaphysischer Muster in der besonderen Gestalt eines immateriellen Nachlebens, das sich vom Jenseits nur durch seine technische Form unterscheidet. Gewiss ist Cyberspace in einem exoterischen Sinn auch und zürst ein ubiquitäres Archiv, ein Verkehrsmittel von Zeichen aller Art, ein Kommunikationsmedium, eine Wissensmaschine, ein Entertainment- und Sex-Tummelplatz, ein ideales Theater für multiple Persönlichkeiten und ein optimales Instrument szientifischer Globalisierung. In einem hermetischen Sinn aber ist Cyberspace eine religiöse Sphäre, die allerdings, bezogen auf die Religionen der Welt, ganz unspezifisch und ohne jede theologische oder institutionelle Bindung ist, gleichsam eine anarchische Fluktuation von religiösen Energien. Cyberspace ist ferner eine magisch-fetischistische Sphäre, welche die Nähe-Ferne-Relation in einem total werdenden Näheraum auflöst. Ein Raum, der magisch durchwirkt wird, worin die Modalitäten von lebendig- und unlebendig diffus oder vertauscht werden, worin der Gegensatz von Materie und Nicht-Materie aufgehoben ist, und worin der Nutzer eine extremes Mass von zugleich manipulativer Freiheit und unpersönlicher Abhängigkeit erfährt. Man kann zwar nicht sagen, dass Cyberspace so schon ist oder je in dieser Weise ausschliesslich funktionieren würde. Unabweisbar indes ist, dass Entwickler, Theoretiker und Nutzer des Cyberspace diesen als eine technische Realisierung magischer und fetischistischer Praktiken phantasieren, erleben, einrichten oder benutzen. Cyberspace ist sodann eine mythische Form, das Medium nämlich von komprehensiven und dichten, obligatorischen und kommunitären, naturanalogen und ritüllen, polymorphen und polysemischen symbolischen Ordnungen. Diese Attribute kennzeichnen die Hybriditäts-Struktur des Mythischen in antiken Gesellschaften im Übergang von archaischen zu profanen Kulturformen. Es scheint, dass nach dem (symbolischen) "Tod Gottes" der Cyberspace zu einem Medium einer Re-Mythisierung werden könnte, welche ähnliche Hybriditätsformen hervorbringt wie der antike Mythos. Und schliesslich ist Cyberspace eine metaphysische Installation, insofern sie, auf technischem Weg, eine strikte und hierarchische Trennung von materieller und immaterieller Welt herstellt, wie sie bisher nur symbolisch vorgenommen werdene konnte. Diese symbolische Trennung kennzeichnete die grosse metaphysische Epoche von Platon über das Christentum bis zu Kant. Auffällig war hier und ist heute wieder das Vorherrschen dualistischer Oppositionen: ist die Erde zunehmend dem materiellen Elend zugeordnet, so Cyberspace der Sphäre des Geistes; ist die Erde mit Schmutz konnotiert, so Cyberspace mit Reinheit; ist die Zeitform der Erde durch Entropiezuwachs, Sterblichkeit und Endlichkeit charakterisiert, so ist die Zeitform von Cyberspace die der instantiellen Omnipräsenz, der Entgrenzung und der Abwesenheit des Todes. Es ist der alte Gegensatz von Geist und Materie, Form und Stoff, von Unreinheit und Reinheit, Diesseits und Jenseits, Sterblichkeit und Unsterblichkeit. Reine Metaphysik.

Es wäre deswegen wünschenswert, wenn Ethnologen und Mythenforscher, Religionswissenschaftler und Mentalitätshistoriker, Psychoanalytiker und Verhaltensbiologen ö Fachleute also für Wiederholungshandlungen ö sich an der Erforschung von Cyberspace und seinen Populationen, seiner Riten und Symbolpraktiken beteiligen würden. Wir wüssten dann nicht nur, was uns pausenlos gepredigt wird, in welche grandiose Zukunft nämlich Cyberspace führt, sondern auch, in welcher Vergangenheit er uns absetzt. Beides ist gleichermassen spannend.

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