In: Matussek, Peter (Hg.): Goethe und die Verzeitlichung der Natur; München 1998, S. 178-202.

Hartmut Böhme

Fetisch und Idol.

Die Temporalität von Erinnerungsformen in Goethes Wilhelm Meister, Faust und Der Sammler und die Seinigen

 

In der Schrift Der Verfasser teilt die Geschichte seiner botanischen Studien mit (1817) erinnert Goethe, wie er 1786 in Padua angesichts einer Fächerpalme die Idee zur "Metamorphose der Pflanze" faßte. Er ließ deswegen einen Gärtner die "Stufenfolge dieser Veränderungen" abschneiden und führte diese botanischen Dokumente zwischen großen Pappen mit sich. 1817 weiß er, wie dieses Verhalten zu bezeichnen ist: "Sie liegen wie ich sie damals mitgenommen, noch wohlbehalten vor mir und ich verehre sie als Fetische, die meine Aufmerksamkeit zu erregen und zu fesseln völlig geeignet, mir eine gedeihliche Folge meiner Bemühungen zuzusagen scheinen." (WA II, 6, 119-121)

In diesen Fetischen wurde dinglich eine Idee konserviert, sie sind Memorialzeichen eines 'bedeutenden Augenblicks.' Der Fetisch konzentriert die Forschungsleidenschaft, die erregt gehalten wird, indem sie kontinuierlich (durch die Gegenwart des Fetischs) an ihren Ursprung rückgebunden bleibt. Dies kennzeichnet die Temporalität des Fetischismus. Zugleich dienten die Pflanzen-Fetische Goethe als Talisman für die Wahrheit seiner durch die blitzhafte Idee angeleiteten Forschungen, indem sie diese zu beschützen "scheinen" (sic!): Pflanzen folgen nicht nur ihrer inneren Metamorphose, sondern weisen auch "eine glückliche Mobilität und Biegsamkeit" auf, um sich den Gegebenheiten der Klimate und Böden in den Erdkreisen anzupassen. Das war die Idee der Paduaer Palme! 1817 erkennt Goethe, im Besitz des Terminus, daß die seit 30 Jahren konservierten Pflanzenteile eine fetischistische Funktion hatten: sie sollten apotropäisch seine idée fixe behüten, nämlich die der Urpflanze. Die Paduaer Palme ist der Fetisch, der auf die Erfahrung symbolischer Präsenz in Sizilien vorausweist, durch welche "die Anschauung noch auf eine höhere Weise belebt werden könnte: eine Forderung, die mir damals unter der sinnlichen Form einer übersinnlichen Urpflanze vorschwebte" — bis "in Sicilien" als "am letzten Ziel meiner Reise" schließlich "die ursprüngliche Identität aller Pflanzentheile vollkommen" aufleuchtete. Von Padua nach Sizilien: dies ist der Weg vom Fetisch zum Symbol. Das kann Goethe erst durch die Re-Interpretation der Ereignisse von 1786-88 erkennen, nunmehr, 1817, im Besitz des Terms Fetisch, und weil er noch immer die Paduaer Palmen-Dokumente fetischhaft "verehrt". Der Fetisch ist als eine Sonderform des Symbolischen integriert und historisiert, und er wird zum dinglichen Anhalt für eine Historisierung seines Forschungsweges. Weit entfernt ist Goethe von der gemeineuropäischen Verwerfung des Fetischismus als primitive oder perverse Kulturform.

 

Re-Leküre im Zeichen des Fetischs: das Arztbesteck im Wilhelm Meister

Die zweite Re-Chiffrierung mithilfe des Fetischismus erfolgt durch die Wiederaufnahme der Arztbesteck-Szene aus den Lehrjahren in den Wanderjahren. Auch hier wird ein früherer Text dadurch, daß Goethe der Fetisch-Begriff zur Verfügung steht, 'umgeschrieben' und retrospektiv transparent gemacht. Auch hier finden wir, daß der fetischistische Mechanismus aufgelöst und 'historisch' wird, indem er seinen Begriff findet und somit eine reflexive Wende eintritt. Wilhelm und seine Theater-Truppe wurden im Wald von Räubern überfallen, Wilhelm dabei erheblich verletzt. Aus der Ohnmacht erwachend, im Schoß Philines liegend, erblickt er eine schöne Dame, in einen, ihre weibliche "Gestalt" verbergenden, "Mannsüberrock" gehüllt, heranreiten und Hilfe durch einen alten Wundarzt besorgen. Der Anblick Nataliens (um sie handelt es sich) trifft Wilhelm, im Zustand von Schwäche, wie ein coup de foudre und brennt sich als Imago der "schönen Amazone" in ihn ein. Wilhelm, unfähig eines Wortes, wird die Kugel aus der Wunde entfernt. Und unmittelbar, bevor er (wahres subiectum) erneut in Ohnmacht sinkt, kam es "ihm auf einmal" vor, "als sei ihr Haupt mit Strahlen umgeben, und über ihr ganzes Bild verbreite sich nach und nach ein glänzendes Licht. [...] Die Heilige verschwand vor den Augen des Hinsinkenden" (HA VII, 228).

Dies ist die Geburtsstunde des Idols. Es entsteht durch sakrale Auratisierung und transformiert die Real-Person Natalie in eine imaginäre Sphäre, worin sie die persona einer kultischen, libidinösen Besetzung figuriert. In der Ohnmacht versinken Raum und Zeit; aus ihr erwachend aber verbleibt das Idol im Reich jener Zeichen, das keiner Zeit unterliegt. Wilhelms Lehr- und Wanderjahre haben fortan ihren Fixstern, ihr Kultbild, ihren Star, auf den er wie ein Kompaß, magnetisch, ausgerichtet bleibt. Das Einbrennen des Idols konstituiert eine magische Zugehörigkeit, wie sie Wilhelm nicht anders widerfährt als jedem afrikanischen Fetischdiener, von denen Missionare und Handelsleute, Reiseschriftsteller und Philosophen (wie z.B. Hegel) so herablassend wie angewidert geschrieben hatten.

Während dieser Augenblicke faßt Wilhelm wie zufällig auch Tasche, Kästchen und Besteck des Wundarztes ins Auge. Dies ist die Szene, die Goethe im Schema des Fetischismus reinterpretiert und mit der primordialen Idolisierung Nataliens verbindet. In den Lehrjahren glaubt Wilhelm, anläßlich der ärztlichen Versorgung der Wunden Lotharios, Tasche, Bänder und Besteck beim jungen Wundarzt wiederzuerkennen: "Wilhelm betrachtete das Band, das von der Tasche herunterhing, er glaubte es zu kennen. Lebhafte, widersprechende Farben, ein seltsames Muster, Gold und Silber in wunderlichen Figuren zeichneten dieses Band vor allen Bändern der Welt aus. Wilhelm war überzeugt, die Instrumententasche des alten Chirurgus vor sich zu sehen, der ihn in jenem Walde verbunden hatte, und die Hoffnung, nach so langer Zeit wieder eine Spur seiner Amazone zu finden, schlug wie eine Flamme durch sein ganzes Wesen. "(HA VII, 428)

Band und Tasche sind dingliche Zeichen, die auf die Läsion seines Ich und die idolisierte Helferin zurückverweisen, insofern Denkmale einer Vergangenheit, und ebenso Vorweise, Spur einer ausstehenden Wiederbegegnung mit der Amazone. Noch weiß Wilhelm nicht, daß diese Ding-Zeichen nicht nur Natalie erinnern und ankündigen, sondern zugleich seine Bestimmung, Arzt zu werden. In dieser geheimnishaften Kraft erscheint der Fetisch in den Wanderjahren wieder — zufällig im Moment, als Montan Wilhelm dazu rät, sich zu einem nützlichen Glied der Gesellschaft zu machen: "Unter solchem Gespräch nun zog Wilhelm, ich weiß nicht zu welchem Gebrauch, etwas aus dem Busen, das halb wie eine Brieftasche, halb wie ein Besteck aussah, und von Montan als ein Altbekanntes angesprochen wurde. Unser Freund läugnete nicht, daß er es als eine Art Fetisch bei sich trage, in dem Aberglauben, sein Schicksal hange gewissermaßen von dessen Besitz ab.

Was es aber gewesen, dürfen wir an dieser Stelle dem Leser noch nicht anvertrauen, soviel aber müssen wir sagen, daß hieran sich ein Gespräch anknüpfte, dessen Resultate sich endlich dahin ergaben, daß Wilhelm bekannte: wie er schon längst geneigt einem gewissen besondern Geschäft, einer ganz eigentlich nützlichen Kunst sich zu widmen […]" (HA VIII, 40).

Das 'Unaufgeklärte' und Schicksalhafte, das an dem fetischisierten Arzt-Besteck hängt, verlängert der Erzähler, indem er selbst wie ein Fetisch-Priester den Leser im Bann eines Geheimnisses beläßt, das sich ihm, wie Wilhelm, "noch nicht" erschließt — obwohl nun der Begriff für die magische Sache zur Verfügung steht. Goethe verbirgt darin die poetologische Einsicht, daß dingliche Leitmotive funktionieren wie Fetische. Es sind, im Sinne von Donald W. Winnicotts "transitional objects", durch die Zeit hin festgehaltene "Übergangsobjekte", welche Figur und Leser mit auf die Reise (der Erzählung) nehmen, als materiale Beschützer, und zugleich als Träger eines Geheimnisses, das alles miteinder verbindet — in einem Zustand von Trennung und Desorientierung, in Gefahr also. Weswegen 'Fetische' und die ihnen ähnlichen 'Motive' in Zuständen ungesicherter (Lebens-)Wege und hermeneutischer Ungewißheit (des Lesens) als magische Sekuritätsspender funktionieren. Sie sind energiegesättigte, temporale Relais im offenen narrativen Prozeß und der noch unklaren teleologischen Struktur des Lebensweges Wilhelms. Goethe macht daraus ein poetisches Spiel und stellt Wilhelm sogar den Begriff dessen zur Verfügung, dem er unterliegt: "Fetisch". Damit hat er eine charakteristische Spaltung im Fetischismus erkannt, die der Psychoanalytiker Octave Mannoni unter die treffende Formel rückt: "Je sais bien, mais quand même...". Gegenüber der punktuellen, ereignishaften Szene des initialen Einbrennens des Fetischs — von den Ethnographen als die prägende "first encounter"-Szene geschildert —, heißt das andauernde Benutzen des Fetischs immer, daß der Fetischist 'wohl weiß', daß er es ist (je sais bien), 'aber dennoch' (mais quand même) bleibt er im magischen Bann des Fetischs.

Dieser Gesprächs-Szene mit Montan ist vorauszusetzen, daß Wilhelm zwischenzeitlich Band, Tasche und Besteck an sich gebracht hat. Erst dadurch erfüllen sie den Sinn von 'Fetisch'. Denn der Fetisch ist ein Objekt, das magische Kraft mitteilt, doch nur demjenigen, der ihn bedingungslos 'besitzt'. Darum wird der Fetisch von Wilhelm (wie es auch von afrikanischen Fetischisten erzählt wird) am Körper getragen: dies stiftet Zugehörigkeit, ja magischen Schutz und Unverletztlichkeit (die auf die Verletzung zurückverweist) und verleiht dem Fetisch-Objekt einen eigenen Status. Der Fetisch ist weder ein funktional gebrauchter Gegenstand (wenn er es war, wird er dysfunktionalisiert) noch bloß ein Zeichen oder eine mentale Struktur. Vielmehr gehört der Fetisch einer intermediären Sphäre an, die ihn ein Ding in Raum und Zeit, doch zugleich jenseits davon eine Konzentration von Bedeutungen und Kräften sein läßt, die dem Subjekt magisch 'zur Seite' sind. Nicht zufällig sind dies die Bestimmungen auch der "transitional objects", die für den Eintritt in die Welt eine so unverzichtbare Rolle (nicht nur) für Kinder spielen. So agiert auch Wilhelm auf der Ebene von archaischen Objekten und Objektbeziehungen ("Aberglauben", "Schicksal"). Auch im Goetheschen Sinn ist er vor-erwachsen. In diese 'Übergangszeit' gehört der fetischistische Mechanismus. Das wurde früh erkannt, wenn Ethnographen und Philosophen den afrikanischen Fetischismus in dem Aufklärungsmuster interpretierten, daß darin die Kindheit Europas wiederbegegne.

In dem für die Wende zum Wundarzt grundlegenden Brief Wilhelms an Natalie (der Amazone) werden diese Zusammenhänge Wilhelm bewußt:

"Die Angelegenheiten unseres Lebens haben einen geheimnisvollen Gang, der sich nicht berechnen läßt. Du erinnerst dich gewiß jenes Bestecks, das euer tüchtiger Wundarzt hervorzog, als du dich mir, wie ich verwundet im Walde hingestreckt lag, hülfreich nähertest? Es leuchtete mir damals dergestalt in die Augen und machte einen so tiefen Eindruck, daß ich ganz entzückt war, als ich nach Jahren es in den Händen eines Jüngeren wiederfand. Dieser legte keinen besondern Wert darauf; die Instrumente sämtlich hatten sich in neuerer Zeit verbessert und waren zweckmäßíger eingerichtet, und ich erlangte jenes um desto eher, als ihm die Anschaffung eines neuen dadurch erleichtert wurde. Nun führte ich es immer mit mir, freilich zu keinem Gebrauch, aber desto sicherer zu tröstlicher Erinnerung: Es war Zeuge des Augenblicks wo mein Glück begann, zu dem ich erst durch großen Umweg gelangen sollte.

Zufällig sah es Jarno, als wir bei dem Köhler übernachteten, der es alsobald erkannte, und auf meine Erklärung erwiderte: 'Ich habe nichts dagegen, daß man sich einen solchen Fetisch aufstellt, zur Erinnerung an manches unerwartete Gute, an bedeutende Folgen eines gleichgültigen Umstandes; es hebt uns empor als etwas, das auf ein Unbegreifliches deutet, erquickt uns in Verlegenheiten und ermutigt unsere Hoffnungen; aber schöner wäre es, wenn du dich durch jene Werkzeuge hättest anreizen lassen, auch ihren Gebrauch zu verstehen und dasjenige zu leisten, was sie stumm von dir fordern.'" (HA VIII, 280/1)

Wilhelm gelangt hier an die Grenze seiner fetischistischen Bezauberung. Er identifiziert die Stimme der Aufklärung in sich, als habe der Fetisch nie etwas anderes bedeutet als den Aufruf zur Nützlichkeit: "Laß mich bekennen […], daß mir dies hundertmal eingefallen ist; es regte sich in mir eine innere Stimme, die mich meinen eigentlichen Beruf hieran erkennen ließ." (ebd.) Was Fetische in Afrika immer auch waren — orakelnde Medien der Zukunft —, verkümmert zu einem Fall der Berufsberatung. Von der Erzählstruktur her wird der Fetisch retrospektiv rationalisiert, nämlich als Vorweis eingemeindet; er stellt eine Stütze in der teleologischen Konstruktion des Weges zum Wundarzt dar. Freilich geht dies nicht ohne Amputationen ab: denn der Fetisch 'Wundarztbesteck' war fusioniert mit dem Idol der Amazone. Gerade als nutzloses Gerät ("zu keinem Gebrauch") war der Fetisch auch ein Memorialzeichen von "Glück", das Wilhelm hier, ohne es unter dem (Ein-)Druck Montans zu merken, auf Nützlichkeit zusammenschnurren läßt. In dieser Logik wird Wilhelm das alte Besteck neuerlich eintauschen, so wie der junge Chirurgus das technisch überholte, wertlose Besteck eintauschte. Der utilitaristische und ökonomische Wert steht in einem unaufhebbaren Mißverhältnis zum Fetisch-Wert, der gerade, weil er nicht aufzurechnen ist, einen libidinösen Mehrwert trägt, der auf "Glück" und nicht auf soziale Verwendbarkeit zielt. Auch das Idol 'Amazone' wird in die Funktionsträgerin Natalie innerhalb der Turmgesellschaft verwandelt und profaniert (wie der erotische Liebreiz Philines in ihre Nützlichkeit als Schneiderin überführt wird).

Robert J. Stoller hat die Formel geprägt: "Ein Fetisch ist eine Geschichte, die sich als Gegenstand ausgibt." Als eine im Ding maskierte Erzählung, als 'reifizierte Narratio', hat Goethe die Geschichte von 'Tasche, Band und Besteck' entwickelt. Er hat damit den Fetisch temporalisiert, nämlich die in ihn verkapselte Zeit geöffnet und dem Faden des Erzählens eingesponnen. Er hat damit 'Fortschritt' erzeugt und Aufklärung — und läßt deren Preis erkennen. Fetischisieren heißt, rituell an die Wiederholung der first-encounter-Szene gebunden bleiben, weswegen Fetische durchweg, wie Wilhelm erkennt, "Erinnerung" darstellen, allerdings eine magisch fixierte. Die Auflösung des Fetischs in die Metastruktur des Romans bzw. in die Transformation des Liebenden in den nützlichen Bürger Wilhelm heißt jedoch auch, ein ganzes semantisches Potential, nämlich das "Glück", zu 'vergessen'. Aufklärung zielte, im 18. Jahrhundert, auf die Glückseligkeit der Subjekte. Indem Goethe hier eine fetischistische Fixierung seiner Hauptfigur aufklärt und mithin erzählbar macht, therapiert er Wilhelm ebenso wie er demonstriert, daß Wilhelm in aufgeklärter Gesellschaft des Glückes nicht mehr eingedenk sein wird. Doch wird er Gutes und Nützliches zu tun imstande sein. Die Liquidierung des Fetischismus jedoch auf der zivilisatorisch höheren Stufe der zweckrationalen Gesellschaft amputiert am Wert-Begriff eine wichtige Dimension: Wie am Arzt-Besteck zu sehen ist, hat dies einen Gebrauchswert, einen Tauschwert — beide sind 'nützlich' —, doch es hat keinen magischen Wert mehr. In ähnlicher Weise mußte die poetische Existenz Mignons und des Harfners bereits in den Lehrjahren aus der Turmgesellschaft entfernt werden und wird die symbolische Existenz Makariens exterritorialisiert, nämlich kosmologisch und spirituell erhöht, doch dadurch aus der Welt der Geschichte und der aufgeklärten Zeit des 19. Jahrhunderts ausgeschlossen. Daß der Fetisch, mit den Worten Montans, auf ein "Unbegreifliches deutet", schützt ihn nicht davor, als voraufgeklärte, archaische Form in die Vorgeschichte der Zivilisation eingeordnet zu werden. Am Paradigma des fetischisierten Arzt-Bestecks und der idolisierten Amazone demonstriert Goethe Gewinn und Verlust dieses Fortschreitens der Zeit.

 

Übergang und Definitionen

Goethe hat nicht theoretisch, aber in der literarischen Gestaltung beider Konzepte, ein genaues Verständnis von idolatrischer und fetischistischer Praxis entwickelt, aber auch — besonders in den Wahlverwandtschaften — vom Reliquienkult. Die Erklärung ist naheliegend: als Ästhetiker hat Goethe eine differenzierte Theorie des Symbolischen entworfen. Er weiß, daß das Symbolische nicht nur als figürliche Rede in der Rhetorik sowie in der zeitgenössischen Ästhetik seine Ausarbeitung fand, sondern daß kulturelle Praktiken des Symbolgebrauchs in traditionalen wie in aufgeklärten Gesellschaften zu finden sind — wozu Fetischismus, Idolatrie und Bilderkult, Reliquienverehrung, aber auch Formen der alltäglichen Memorialkultur, des Amulett-/Talisman- und (erotischen) Souvenir-Verhaltens hinzuzuzählen sind. Die Faust-Dichtung enthält, neben der Entfaltung eines thematischen Programms, auch eine Meta-Ebene, auf der es nicht nur um die szenische Erzeugung von Bedeutung, sondern um die Erkundung der Konditionen und Funktionen der Bedeutungserzeugung geht. Schon in Faust I finden wir, daß Goethe in den figürlichen Redeformen deren genetische Konstitutionsmechanismen, durch welche epochale Denk- und Vorstellungsformen sich bildeten, kritisch reflektiert. Faust I ist auch, in literarischer Gestalt selbst, eine poetische Erkundung der symbolischen Formen.

In diesem Sinn wird an einigen Passagen des Faust II demonstriert, daß Goethe dem symbolischen Universum, das figürliche Reden und kulturelle Praktiken umfaßt, das Idolatrische und Fetischistische als Subformen des Symbolischen einfügt — um sie kritisch zu bestimmen. Dabei unterscheiden sich Idol, Fetisch und Symbol gerade in ihrer Temporalität. Sie stellen jeweils besondere Typen von Verzeitlichung dar. Das Idol ist eine überblendete Individualität, die ihre Raum-Zeit-Bindung verliert und damit auch ihr Individuelles, dafür aber eine hohe Verdichtung und Anschlußfähigkeit libidinöser Besetzungen gewinnt. Das Idol ist zeitlos nicht etwa nunc stans, in ewig erhabener Glorie; sondern es ist zeitlich nicht markiert, ohne Index, ein unidentisches Bild, das sich gerade darum in allen Zeiten und Räumen immer neu inkorporiert, also verdinglicht, und dennoch einen Namen trägt, als sei es Indiviuum in der Zeit mit eigenem Leben und eigener Geschichte. Das Große an der Goetheschen Helena-Figur, die sich selbst als Idol erkennt, besteht darin, daß er ihr einen Schmerz einbildet, der die Tatsache, daß sie sich ins kulturelle Gedächtnis gegraben hat und immer neu medial figuriert wird — das macht ihr Untotes aus —, als Opfer erkennen läßt. Durch alle Zeiten hin ist sie das Double des erotischen Begehrens. Das ist der Preis dafür, ein Idol zu sein. Noch Gretchen wird von dieser Logik erfaßt. Der Fetisch wird in der Faust-Dichtung verstanden als ganz ins Dingliche versenkte Erinnerung. Sie könnte aus ihm befreit und also temporalisiert werden, wenn Faust, dem schon im Ersten Teil die fetischhaften Kleidungsstücke Gretchens nichts als narzißtische Objekte seines sexuellen Wunsches sind, nicht im Fortgang der Tragödie der hinterbliebenen Memorial-Fetische Helenas uneingedenk bliebe: als Feldherr und Meerkolonisator taucht er in die Dynamik fortschreitender, akquirierender Zeitlichkeit und hat nicht nur die Sorge, sondern das in Helena inkorporierte Weibliche überhaupt vergessen. Das Symbol hingegen ist weder dinglich noch zeitlos, sondern die im glücklichen Augenblick gebildete, ebenso abstrakte wie konkrete Anschauungsform, die offen und mithin dynamisch bleibt für immer neue Sinnzuweisungen und Auslegungen. In diesem Sinn ist es 'fruchtbar', eine quasilebendige mentale Form. Das Symbol ist die aus dem Fetisch oder dem Idol freigesetzte temporale Dynamik einer Anschauung, die sich, identisch bleibend, dennoch historisch entfaltet. In dem Maße, wie Faust des glücklichen Augenblickes niemals inne wird (oder nur im Schein), wird er des Symbolischen als der höchsten und allgemeinsten Form von Anschauungsgestalten nicht teilhaftig.

 

Idol und Fetisch im Helena-Akt des Faust II

Zu Beginn des 3. Aktes erhält Helena, die im 1. Akt nur als stimmloses Eidolon und Projektion, als Trugbild und Schemen, von Faust der Hofgesellschaft vorgegaukelt wurde, Personalität, Stimme und Geschichte. Sie wird vorgestellt (und präsentiert sich selbst sogleich als Figur umlaufender 'Erzählungen') im Augenblick ihrer Rückkehr von Troja, als sie mit ihren Begleiterinnen (dem Chor) vor dem Palaste des Spartanerkönigs Menelas steht. Im Palaste, in dessen schweigende Leere sie unbegleitet tritt, begegnet sie einer grausen Frau, die ihr "dem Schoß der alten Nacht" (V. 8649) entsprungen deucht. Es ist Mephisto in der Gestalt einer archaischen Dämonin, Tochter des Hesiodschen Chaos, von Erobos und Nyx, der "Mutter Nacht" (V. 8812) — so wie Mephisto sich als Teil "der Mutter Nacht" (V. 1356) bezeichnet hatte und wie er als "des Chaos wunderlicher Sohn" (V. 1384) angesprochen wurde. Helena, die sich von den Göttern als "zweideutig" (V. 8532) bestimmt ansah und ihre Situation — ob Gefangene, ob Gattin, ob Königin — nicht zu deuten wußte (V. 8527-32), fühlt sich durch Phorkyas aufgewühlt und ihrer selbst nicht mehr gewiß.

Ist's wohl Gedächtnis? war es Wahn, der mich ergreift?

War ich das alles? Bin ich's? Werd ich's künftig sein,

Das Traum- und Schreckbild jener Städteverwüstenden? (V. 8838-40)

Diese zugespitzte Identitätsdiffusion, welche die Modi der Zeit, die Modalitäten von Wahn und Wirklichkeit, Gedächtnis und Gegenwart, Traum und Wachen, Gewalt und Liebe verwirrt, verstärkt sich im Zwiegespräch mit Phorkyas, die Helena ihre Geschichte vor Augen führt: von Mann zu Mann gereicht. Und als sie davon hört, daß sie, die längst schon Tote, zur Geliebten des toten Achill wurde, für bedingte Zeit zum Leben reanimiert, da blitzt aus ihr jenes Wort, mit welchem sie sich jenseits der Geschichte sozialer Handlungen positioniert: "Ich als Idol, ihm dem Idol verband ich mich. Es war ein Traum, so sagen ja die Worte selbst. Ich schwinde hin und werde selbst mir ein Idol. Sinkt dem Halbchor in die Arme." (V. 8878-81)

Helena wird mit dem Bewußtsein geschlagen, daß sie kein realer Mensch, sondern dem Modus nach ein Eidolon ist. Was ihr widerfährt, gehorcht der Logik des Traums. Sie ist sprachfähige persona, ohne doch der Raum-/Zeitbindung von Körpern zu unterliegen — ein Effekt symbolischer Translationen. Sie ist damit aus der Zeit der Geschichte und der Zeit des Lebenslaufes herausgeschnitten.

Man muß dies im Zusammenhang mit Vers 8872 f. sehen, wo Phorkyas zu ihr sagt: "Doch sagt man, du erschienst ein doppelhaft Gebild/ In Ilios gesehen und in Ägypten auch." Goethe referiert hier auf Euripides' Drama Helena, wonach die Göttermutter Hera von Helena ein Schattenbild, ein Phantom schuf, das Paris, unwissend und getäuscht, mit nach Troja nahm, während die echte Helena in Ägypten lebte (vgl. HA III, 592). Das Hier-und-da-Zugleichsein ist die Existenzform von Geistern und Schemen, von Göttern — und Idolen, nicht von Menschen. Die Helena in Faust II ist kein Mensch. Und teilt mit diesem doch Sprache, Empfindung, Liebe, Einsicht und Scham, Schmerz, Reue und Zorn. Sie ist ein Medium, durch das die erotischen Energien aller Zeiten zirkulieren. Und eben das sind: Idole.

Ihre Liebe zu Achill zitiert eine Überlieferung, nach der Achill auf Bitten seiner Mutter Thetis eine Zeitlang aus der Unterwelt entlassen wurde, doch nur in Pherä bleiben durfte. Dort traf er mit Helena zusammen, die er liebte, seit er sie auf den Zinnen Trojas gesehen hatte (so Pausanias III, 19, 11ff.). Auch sie kommt aus dem Hades herauf und beide heiraten. Dieser Bericht wird zuerst in 7435 ff. erwähnt. Faust trifft hier Chiron, der ihm Auskunft über den Verbleib Helenas geben soll. Chiron sagt, daß Faust durch die Philologen betrogen sei, während die Dichter die Existenzform Helenas richtiger dargestellt hätten, nämlich als zeitlos, denn: "Ganz eigen ist's mit mythologischer Frau" (V. 7428). Der Mythos, wiewohl er narrativ und damit temporal organisiert ist, ist historisch gesehen eine anachrone Form, worin ehemals Sterbliche die Existenzform des Zeitlosen erreichen. Das ist im fetischistischen Ahnenkult und in der Idolbildung nicht anders. Die Poesie, kraft ihrer anachronen Animationsmacht, ist hingegen die heute angemessene Form der Präsenz im Zeitlosen. Das greift Faust begierig auf, indem er antwortet: "So sei auch sie durch keine Zeit gebunden!/ Hat doch Achill auf Pherä sie gefunden,/ Selbst außer aller Zeit" (V. 7434-36). Hier erkennt Faust, daß die Verbindung Achill-Helena eine poetisch-mythologische Kombination ist, die ihre Lizenz aus der Einsicht gewinnt, daß die Logik von Poesie und Mythos "außer aller Zeit" liegt: Darauf gründet er seinen Anspruch, mit Helena verbunden zu werden. Dies ist keine friedliche Operation, sondern: "Und sollt' ich nicht, sehnsüchtigster Gewalt,/ Ins Leben ziehn die einzigste Gestalt?" (V. 7438f) Es ist dieses Oxymoron von superlativer Sehnsucht und Gewalt, welches den erotischen Mythos ewig präsent hält. Dies macht die Struktur des Idols aus, das beide, Achill und Helena, darstellen. "Gewalt" aber ist, dasjenige, was seiner inneren Form nach Vorstellung, Bild, Kunstwerk, Zeichen oder eben "Sehnsucht" ist, "ins Leben ziehn" zu wollen. Diese "Gewalt", bei der kein Blut fließt, sondern nur (?) den Zeichen Gewalt angetan wird, nennt Goethe seit den 90er Jahren ästhetischen Dilettantismus.

In den Versen, in denen Helena sich und Achill als Idole identifiziert, drückt sich aus, daß eine symbolische Figur gespalten wird, wenn sie Bewußtsein von sich selbst erlangt, wie hier Helena, die als empfindende Person auf die Bühne tritt. Sie ist "doppelhaft Gebild" — in dem Sinn, daß ein Idol, das durch jemanden personhaft dargestellt wird, ein gespaltenes Bewußtsein haben muß. Rhetorisch gesehen ist Helena hier eine Prosopopöie ihrer selbst: sie verleiht einer Toten Stimme und Gesicht.

In der Ungewißtheit über die Form ihrer Existenz verweist Helena indirekt darauf, was die 'Form' von Faust II überhaupt ist: ein anachrones Spiel mit Mustern, die in sich gespalten sind, d.h. gesetzt und zugleich reflektiert. Das unterscheidet ein Idol, das nicht ein totes Gebild, Statue oder Projektion ist, sondern von Menschen figuriert wird, vom Fetisch: Ein Idol kann grundsätzlich Bewußtsein von sich selbst haben, wird aber niemals zur Einheit des Bewußtseins gelangen, zur Identität der Person, zum Gefühl eines Selbst — sondern es ist immer gespalten. Dies ist der Preis für die Transformation ins Zeitlose und Symbolische. Diesen Preis muß Helena zahlen. Es trifft sie als Schlag, der sie ohnmächtig werden läßt. Dies ist die komplementäre Seite zu der "Gewalt", die Faust als Dilettant ihr zufügt, wenn er sie "ins Leben ziehn" will.

Trunz erinnert treffend an Goethes Aufsatz Polygnots Gemälde (HA III, 588/92), worin dieser, in Anspielung auf das "Andenken" Helenas davon schreibt, daß ausgezeichnete Menschen "als große Naturerscheinungen" "immer heilig" gehalten werden vom Volk: deswegen müsse man Euripides Dank sagen, daß er Helena 'unschuldig' machte, indem er sie nach Ägypten versetzte. Man beachte, daß das Idol als Naturerscheinung angesprochen wird: wegen seines unräumlichen und anachronen Charakters. Das Idol ist zweitens eine Memorialform ("Andenken"), dies zeigt seine 'andere' Stellung in der Zeit; es ist drittens eine Erhöhungsform, die Sakaralisierung eines Subjekts, das dadurch als menschliches Subjekt gelöscht wird.

Dies widerfährt Helena, die im Bewußtsein, leibhaft aus Troja zurückzukehren, von Phorkyas erfahren muß, daß sie zugleich diejenige ist, die aus der Unterwelt heraufsteigend mit Achill zusammengelebt habe. Helena ist auf mehreren Zeit-Matrizen eingetragen und das schockiert und spaltet sie. Nur "Traum" zu sein, trifft sie wie ein Trauma und sie sinkt ohnmächtig hin: das ist ein kleiner Tod, ihrer selbst nämlich als leibhafter Person ("Ich schwinde hin", V. 8881), die sie nicht ist, wie sie einsehen muß. Das Erwachen des Bewußtseins, eine multiple persona und mithin ein polysemes Idol zu sein, läßt sie in Ohnmacht fallen. Idol zu sein, heißt bloßes "Andenken" zu sein; während lebendig-reale Person zu sein heißt, auch der Gnade des Vergessens teilhaftig zu werden. Als Phorkyas mit unnachsichtigen Reden Helena zum Bewußtsein ihrer selbst zwingt, beschimpft der Chor sie, daß sie "schweigen" solle, d.h. nicht erinnern: Statt des "Letheschenkenden, holdmildesten Worts/ regst du auf Vergangenheit" (V. 8896 f.). Phorkyas agiert mithin in der Rolle einer gnadenlosen Mnemosyne: Sie zwingt Helena zur Erinnerung. Erinnerung ist die Hölle, der Helena nicht entkommt: Sie muß ihr gespaltenes Bewußtsein annehmen und sich als Idol erkennen. Es "verdüstert" ihr Bewußtsein, wie der Chor sagt, wenn Phorkyas aufgrund ihres gnadenlosen Erinnerns "mit dem Glanz der Gegenwart/ auch der Zukunft/ Mild aufschimmerndes Hoffnungslicht" verdunkelte (V. 8895-8901). Darum ist Helena nicht glücklich. Über die Schönste aller Frauen ist eine unaustreibbare Melancholie gebreitet. So sagt sie jenen Wahrspruch über sich, für den Goethe zehn weitere Fassungen erwog: "Ein altes Wort bewährt sich leider auch an mir: Daß Glück und Schönheit dauerhaft sich nicht vereint." (V. 9939/40; vgl. HA III, 601). Helena ist — als Phantom, Idol, Fetisch des Begehrens durch alle Zeiten und Räume hin — die Figur des unglücklichen Bewußtseins überhaupt.

Nach ihrem Erwachen wird ihr und dem Chor von Phorkyas bedeutet, daß sie zum Opfer vorgesehen sind (dies ist Euripides-Tradition). Ihr Entsetzen kontert Phorkyas damit, daß sie alle "Gespenster" seien — nicht anders als "die Menschen", die freilich auch nicht willig stürben (V. 8930 ff.). Mit diesem zynischen Trost wird Helena auf eine Transformation in Raum und Zeit vorbereitet, in der Form des Opfers nämlich, das seiner Logik nach eine Transformation von Materie in Zeichen, von Fleisch in Bedeutung, von Profanem ins Heilige enthält. Unglückliches Bewußtsein zu sein, heißt schließlich, sich als Opfer innezuwerden. Helena wird es, indem sie zum Idol gemacht wurde — und der man, als Idol, Opfer brachte: einen ganzen Krieg. So ist sie vorbereitet für ihre Versetzung ins nordische Mittelalter — das ist translatio symbolorum, der Wanderweg der Symbole, der geprägten Formen, der Pathosformeln, von denen Aby Warburg spricht: von Osten nach Westen, von Süden nach Norden. Helena fusioniert mit Faust: das ist eine dieser synkretistischen Bewegungen, die Warburg zu studieren nicht müde wurde. Genauer gesagt: Goethe richtet es so ein, daß Faust in seiner Zeit, Helena in ihrem Raum bleibt. Das ist die Kompromißfigur, die der Synkretismus des Helena-Aktes eingeht.

Helena wird immer wieder animiert, getötet, transformiert. Sie unterliegt vollständig einem symbolischen Prozeß. Sie ist in den Mythos übergetreten, ins Idolatrische, in die Poesie, — oder in die Erinnerung, die ihr immer wieder neue Form gibt, sie immer neu anschließt — jetzt an Faust. Das Treibende dieses Symbolischen ist das Begehren, seine Gewalt und Sehnsucht. Es unterhält die Immer-wieder-neuen-Anschlüsse des Idols an andere: Theseus, Patroklos, Menelaos, Paris, Achill, Faust... Hierbei spielen Realitätsmodi keine Rolle. Als Idol funktioniert Helena wie ein Relais, das Vergangenheit/Zukunft, Oberwelt/Unterwelt, Leben/Tod, Traum/Realität, Hier/Dort zusammenschaltet, vertauscht, umkehrt, synchronisiert. Durch Helena hindurch zirkulieren Wünsche, Projektionen, Begehren, deren Phantom sie darstellt. Dadurch schaltet sie all die Männer in Serie. Denn alles findet in einer Trans-Realität statt, im Medium oder im "Traum", wie Helena sagt (V. 8880). Das ist die Logik der Idole, der Kultbilder, der Fetische.

Das verdeutlicht ein Hinweis, den Trunz hier einflicht (HA III, 588): ein Zitat aus Goethes Winckelmann-Studie, wo er über die Logik des Schönen spricht. Das Schöne ist "das letzte Produkt der sich immer steigernden Natur", das in dieser nur selten vorkommt, aber oft durch die Steigerungsverfahren der Kunst hervorgebracht wird, welche den schönen Menschen — Helena — als Inbegriff von Kunst und Natur hervorbringt. So steht in den Worten des Winckelmann-Aufsatzes Helena als "ideale Wirklichkeit vor der Welt", d.i. als sakralisiertes Kultbild. Sie ist unveränderlich in zeit- und raumloser Sphäre, doch gerade dadurch mobil und zirkulierend, ein Schibboleth des Begehrens, das immer neu das Schöne rekombiniert. So wird Helena "vergöttert [...] für die Gegenwart, in der das Vergangene und Künftige begriffen ist" (HA XII,103). Die symbolontische Wanderung mit Helena wird denn auch, nachdem sie und der Chor ihre Opferung überstanden haben, indem sie im Mittelalter reanimiert werden, kommentiert: "Hinter uns Tod" (V. 9080).

Darum hat Helena eine untergründige Beziehung zu Persephone, der Göttin des Hades: Sie kann ihre erotische Funktion als Idol nur entfalten, indem sie immer wieder durch den Tod hindurchgeht. Die Nähe der Idole zum Tod gilt bis in unsere Tage.

Helena wird von Faust apostrophiert als "höchste Frau" (V. 9196), "erhabene Herrscherin" (V. 9198), "hoher Gast" (V. 9209). Goethe macht überdeutlich, daß der Stoff, aus dem Helena gewebt ist, nicht Fleisch und Blut, sondern das Semiotische ist, das auch Idole und Fetische hervorbringt, besonders dann, wenn es sich mit dem "Heiligen Eros" (G. Bataille) verbindet. Insofern ist der Helena-Akt auch eine Meta-Studie zur Form des Symbolischen.

In den Versen 9250 ff. formuliert Helena ihr Zirkulieren als dämonisches Idol, das von Mann zu Mann geht, eine Blut- und Gewaltspur hinter sich herziehend, Verwirrung und Streit. Auch Faust vergißt sich selbst: "Was bin ich nun?"(V. 9264), fragt er und verzichtet auf seine Herrschaft, indem er vor ihr niederfällt: "Zu deinen Füßen laß mich, frei und treu/ Dich Herrin anerkennen" (V. 9269/70). Faust verfällt in Pathosformeln der Devotion, der Selbstpreisgabe und Ekstase, wie sie dem Verhalten vor Kultbildern und Idolen entsprechen. Es ist dieselbe Verehrungshaltung, in welche Rousseau seinen Pygmalion am Ende fallen läßt — für Goethe ein paradigmatischer Dilettant (HA IX, 489). Indem Helena zum Fetisch gemacht wird, wird sie ineins geopfert und geheiligt: eine klassische Kombination des Religiösen, aber auch ein Code des Weiblichen in patriarchaler Gesellschaft.

Die Verse 9410 ff. schildern das symbolontische Curriculum von Faust und Helena, als das sie zusammengefügt werden. Haben sie sich doch, jeweils einen Halbvers sprechend, zu einem Vers zusammengefügt:

FAUST Die Gegenwart allein —

HELENA ist unser Glück" (V. 9382)

Doch gibt es auch hier kein naives Bewußtsein. Gelungen ist zwar die Reanimation und Translation Helenas, doch geblieben ist ihr gespaltenes Bewußtsein von Präsenz und Absenz. Sie fühlt sich "so fern und doch so nah". Sie ist nicht "da", sondern ruft es sich zu: "Da bin ich! da!". Sie scheint sich "verlebt" und zugleich "neu"; sie fühlt sich "dem Unbekannten treu" und doch in die Gegenwart Faustens "verwebt" (V. 9411 ff.). Im Vergleich zu ihr glaubt Faust naiv an eine Präsenz jenseits von Zeit und Raum. Doch auch bei Faust bringt Goethe Markierungen an, die das Symbolisch-Harmonische auflösen und sein Arbiträres hervorkehren: Wenn Faust, was er als Glück erlebt, einen "Traum" nennt, so zitiert er, ohne es zu ahnen, Helena selbst, gerade in dem Vers, worin sie sich und Achill als "Idol" und als "Traum" bezeichnet, als eidolon und simulacrum. 'Faust und Helena' sind eine allegorische Wiederholung, ein Zitat von 'Achill und Helena', wie diese 'Menelaos und Helena' zitieren undsoweiterundsoweiter. Faust versucht das Künstliche daran — factitius (künstlich gemacht) ist eine etymologische Wurzel von Fetisch — ebenso wie das Reflexive (von Helenas Bewußtsein) zu vertreiben. Doch er tut dies in dem Modus, der gerade das Arbiträre pointiert, im Imperativ: "Durchgrüble nicht das einzige Geschick!" (V. 9417), ruft er Helena zu. Er versucht, das Symbolontische zu erzwingen und markiert es gerade dadurch als Setzung. So kippt die Unmittelbarkeit ins Gegenteil um, wenn Faust das bloße Dasein zur "Pflicht" erklärt: "Dasein ist Pflicht, und wär's ein Augenblick." (V. 9417f). Nirgends wird deutlicher, daß das Idol keine Symbol-Evidenz annimmt, sondern eine allegorische Form ist im Unterreich des Symbolischen. Noch einer muß dies tragisch erfahren, Euphorion, der Sohn Helenas und Fausts. Er performiert die heroische, gewaltförmige Poesie, indem er himmelstürmend das Schicksal des Ikarus erfährt, wenn er mit dem Signifikat in einen erzwungenen, direkten Kontakt sich zu setzen sucht (V. 9991). Das Symbolische, indem es sich setzt, stürzt im Faust II regelmäßig ab.

Das führt zur Trennung auch von Faust und Helena, die zu Persephone zurückkehrt: ins Reich der Toten. Helena ruft die Totengöttin an, auf daß diese Euphorion und sie selbst aufnehme. So erfüllt sie dessen flehende Worte, ihn im Tode nicht alleinzulassen: "Laß mich im düstern Reich,/ Mutter, mich nicht allein!" (V. 9905f) Schönheit und Poesie sind vereint (nur) im Tode. Poesie und Idole sind immer nur ephemere Vergegenwärtigungen des längst schon Toten. Poesie ist der Verkehr mit Toten. Und Idol sein heißt, als Real-Subjekt ausgelöscht zu werden. Es gibt keine Dauer von Schönheit und Glück (V. 9940; vgl. HA III, 601), sondern nur, nach augenblickslangem, doch scheinhaftem Vergegenwärtigen, das Festhalten der Erinnerung.

Das widerfährt Faust, wenn das Idol Helena in einen Fetisch überführt wird: nach letzter Umarmung hält er nicht mehr ihren Leib, sondern nur noch "Kleid und Schleier" "in den Armen" (Regieanweisung nach V. 9944). Es sind die Hüllen, die dem Sterblichen bleiben nach der Berührung des göttlichen Signifikats. Die Dinge sind die Reliquien des Signifikats, das mit ihnen einst in Berührung stand. So verhält sich auch Eduard gegenüber den Dingen, die für ihn mit Ottilie in Kontakt standen (Wahlverwandtschaften) oder der Maler-Ehemann, der nach dem Tod seiner Frau lauter Stilleben von Dingen anfertigt, die sie in ihrem Leben berührt hatte (Der Sammler und die Seinigen): dies sind klassische Formen der Fetisch-Bildung als apotropäischer Mechanismus gegen traumatischen Verlust, als Beschwörung des Todes und des Toten zugleich. So bleiben auch Faust nur "Kleid und Schleier", verdinglichte Signifikanten, die, rhetorisch gesprochen, substituierender pars pro toto sind, sowohl Erinnerungszeichen wie "Energiekonserve" (Warburg) einer Intensität, also Fetisch. Phorkyas kommentiert nicht ohne Ironie:

Halte fest, was dir von allem übrigblieb.

Das Kleid, laß es nicht los. Da zupfen schon

Dämonen an den Zipfeln, möchten gern

Zur Unterwelt es reißen. Halte fest!

Die Göttin ist's nicht mehr, die du verlorst,

Doch göttlich ist's. (V. 9945-50)

Dies ist die Aufforderung von Phorkyas-Mephisto, die Erfahrung der göttlichen Schönheit in Memoria und darin in ein festgehaltenes, festhaltendes Zeichen zu verwandeln, das doch immer nur Zeichen eines Abwesenden ist. Phorkyas fordert ausdrücklich zur Fetischbildung auf: Nur dies schützt vor völligem Vergessen, vor der Totalherrschaft des Todes und den Hegelschen "Furien des Verschwindens", die Goethe hier als "Dämonen" anspricht. Der Fetisch ist die Spur der Götter, ihr materiales Relikt, das 'göttlich' ist, ohne Gott zu sein: Fetische sind substituierende, materiale Zeichen der Erinnerung an eine Begegnung mit der Gottheit. Sie sind darin strukturidentisch mit Reliquien. Was Faust von Helena in Händen hält, sind Objekte eines Erinnerungs- und Totenkultes.

Diese Zeichen — die Gewänder — nehmen Faust wie ein Zauberteppich mit (und setzen ihn später auf dem Hochgebirg ab, Beginn IV. Akt). Zeichen sind nicht fest. Als Schleier und Wolken verschwimmen sie, sie haben keine Formkonstanz, sondern ein metamorphotisches Wesen. Fetische sind immer nur vorübergehende Form. Aber die transformatorische Form erlaubt auch, gegen das Realitätsprinzip, eine Mobilität jenseits von Raum und Zeit, sprich: sie erlaubt den semiotischen Prozeß.

Phorkyas nimmt auch die Reste von Euphorion auf, Kleid, Mantel und Lyra, als "Exuvien". Letztere sind die abgestreifte Haut der Schlangen, ferner: das einem anderen Abgenommene, wie Gewand, Rüstung, auch Totengewand, Siegesbeute. Phorkyas gedenkt, ironisch, die Exuvien später auszuleihen an Nachahmer des poetischen Geistes (z. B. Lord Byron, der in Euphorion mitporträtiert wird). Die mit Helena zusammen reanimierten Choristinnen verwandeln sich, da sie namenlos bleiben, nicht in Fetische der Erinnerung, sondern gehen in den anonymen Tod ein. Für sie — wie für alle Namenlosen — ist der Tod eine Rückkehr in die identitätslose Natur. Da der Tod alle Zeichen löscht (darin ist er die finale Naturmacht), bestehen die Totenkulte aller Kulturen darin, Zeichen gegen diese Auslöschung zu errichten. Wirklich tot ist derjenige, von dem es nicht die geringste Spur, nicht das kleinste Zeichen, nicht das winzigste Mal gibt. Fetische sind von hier aus auch: die symbolische Aufrechterhaltung des Verkehrs mit Toten, die deswegen nicht ganz tot sind.

Goethe beendet diesen Akt, der Helena und Euphorion auslöscht, konsequent mit einem elementaristischen Reigen von dionysischem Festcharakter, worin dessen transpersonaler Charakter, das Mythische, das Semiotische, "die Mysterien" (V. 10031) enthüllt werden. Am Ende laufen alle Züge der klassischen Walpurgisnacht in Dionysien aus: das ist, lange vor Nietzsche, mehr als bemerkenswert. Alles ist ein ekstatisches, rauschaftes, transformierendes, ephemeres Maskenspiel im Medium der Zeichen gewesen, nicht mehr — aber auch nicht weniger.

 

Sammlung, Erinnerung und Fetischismus

Um eine Darstellung von Goethe als Sammler, auch nur um seine Theorie des Sammelns geht es hier nicht. Thema ist nur der Zusammenhang von Sammelobsession und Fetischismus, die beide eine charakteristische Stellung zur Erinnerungskultur einnehmen. In Der Sammler und die Seinigen (1799) führt Goethe im Schema des Dilettantismus eine Reihe von Sammlern ein, die durchweg fetischistischen Mechanismen unterliegen, insbesondere der veristischen Naturtreue. 'Bilder' werden zu fetischistischen Beschwörungen der ins Zeitlose aufgehobenen Präsenz von Personen oder Dingen, dadurch aber allzu oft zu Dokumenten der Vergänglichkeit des Lebens und des Verschwindens der Dinge. Kaprizierte sich der eine auf kleinformatige Wiedergaben von Familie und Freunden, so der andere auf "lebensgroße Bilder", die Personen wie "im Spiegel" zeigen (20). Alle Mitglieder der Familie werden in "unglaublicher Genauigkeit" (22) gemalt, als ginge es darum, von jeder Person eine vera icon ("ein natürliches und wahres Bild", 22) ins Reich der Unvergänglichkeit zu retten. Selbst der gesamte Hausstand wird veristisch festgehalten (25), keine Person ohne die sie charakterisierenden Dingattribute gemalt. Von Gipsabdrücken werden lebensechte Wachsplastiken abgeformt, Perücke und Schlafrock erhöhen den trompe-l'œil-Effekt, so daß man sich einem "Phantom" gegenübersieht (28 f.). Andere sammeln Porträtmedaillons, von deren Praxis um 1800 C. Asman gezeigt hat, daß sie fetischistisch funktionieren, insbesondere wenn sie am Körper getragen werden. Goethe, auf dem Höhepunkt seines mit Schiller beschlossenen "Krieges" gegen den Dilettantismus (an Schiller 25.6.1799), stellt hier eine ganze Typologie von Dilettanten aus. Über den Sammlern liegt eine versteckte Panik vor dem Verfall der Zeit, die alles frißt. Die Sammlungen sind Festungen gegen Konflikte in der Familie, Verträge zwischen den Generationen, Palliative gegen die Vergängnis, magische Substitute des Abwesenden und Fetische gegen den Tod, apotropäische Präparate gegen eine Angst, die mit der Zeit selbst zu wuchern scheint.

Ein markanter Fall soll vorgestellt werden. Als die Schwester des Sammler-Oheims stirbt, malt ihr Mann sie im Sarge liegend. Danach fertigt er Gemälde von ihren Hinterlassenschaften. "Oft stellte er die kleinen Geräthschaften, die ihr angehört hatten und die er sorgfältig bewahrte, in Stillleben zusammen, vollendete die Bilder mit der größten Genauigkeit und verehrte sie den liebsten Freunden" (29). An die Stelle der Trauerarbeit tritt die Rettung der Verstorbenen und aller Dinge, die sie mit Händen berührt hat, ins fetischistische Bild. Wie in vielen afrikanischen Fetisch-Praktiken hat hier der Bild-Fetisch die Funktion, den Verkehr mit den Toten aufrechtzuerhalten. Fetische sind auch Todes-Bewältiger. Schon zu Lebzeiten von Ehefrau und Tochter hatte der Maler diese zweimal jährlich veristisch porträtiert: schon dies eine Art Totenkult von Lebenden. Jetzt werden die Gemälde des Ehemanns vollends totenkultisch. Sie sind in Stilleben verwandelte Memoria, Erinnerung als nature morte, und sollen in ihrer stummen, aber visuellen Präsenz den Schmerz der Trennung vertreiben. Der Maler versammelt auf den Bildern die Dinge seiner Frau wie Reliquien. Er entzieht damit die Aura der Dinge, die sie wie bei Berührungswundern von der Verstorbenen übertragen erhielten, dem täglichen Gebrauch: so können sie aus dem Stand des Profanen in den des Sakralen und Magischen übertreten. So kann er weiterleben und bleibt doch mit der Toten verbunden, existiert jedoch in zwei Matrizes der Zeit: profan und historisch die eine, stillstehend und ritualisiert die andere. "Es schien, als wenn ihn diese Trauer zum Bedeutenden erhübe, da er sonst nur alles Gegenwärtige gemahlt hatte. Den kleinen, stummen Gemählden fehlte es nicht an Zusammenhang und Sprache. Auf dem einen sah man in den Geräthschaften das fromme Gemüth der Besitzerinn, ein Gesangbuch mit rothem Sammt und goldnen Buckeln, einen artigen gestickten Beutel mit Schnüren und Quasten, woraus sie ihre Wohlthaten zu spenden pflegte, den Kelch, woraus sie vor ihrem Tode das Nachtmahl empfing und den er, gegen einen bessern, der Kirche abgetauscht hatte. Auf einem andern Bilde sah man, neben einem Brote, das Messer, womit sie den Kindern gewöhnlich vorzuschneiden, ein Saamenkästchen, woraus sie im Frühjahr zu säen pflegte, einen Kalender, in den sie ihre Ausgaben und kleinen Begebenheiten einschrieb, einen gläsernen Becher, mit eingeschnittnem Namenszug, ein frühes Jugendgeschenk vom Großvater, das sich ungeachtet seiner Zerbrechlichkeit, länger als sie selbst gehalten hatte." (29f.; Hervorhebung von H.B.)

Man erinnert Werther, der das Bild von Charlotte, wie sie den Kindern vorschneidet, fetischisierte, erinnert aus den Wahlverwandtschaften das mit Initialen versehene Glas, das Eduard für das Richtfest herstellen läßt und für ihn zum Fetisch seiner Liebe wird. Wie hier beim Maler stehen auch bei Werther und Eduard die Fetische in einer untergründigen Beziehung zum Tod. "[...] und das letzte Stillleben das er mahlte, bestand aus Geräthschaften die ihm angehörten und die, sonderbar gewählt und zusammengestellt, auf Vergänglichkeit und Trennung, auf Dauer und Vereinigung deuteten" (30). Dies scheint ein vanitas-Stilleben alter Prägung, doch zeigt es das paradoxe Unterfangen, daß der Maler, der ganz auf die Gegenwart der Dinge konzentriert war, diese nur noch in ihrem "Verlust" (30) malen kann: um gerade so, ihre Vergängnis fixierend, sie vor dieser zu retten. Dazu muß jedes Ding, so zufällig und bedeutungslos es sein mag, in einen Fetisch verwandelt werden. Der Fetisch figuriert so die künftige "Vereinigung" von Maler und Ehefrau.

 

Magazinierung der Erinnerung

Das zweite Beispiel für den Zusammenhang von Sammelleidenschaft und Fetischismus ist den Wanderjahren entnommen. Auf Suche von Nachodine passiert Wilhelm einen namenlosen Sammler. Am Ende überläßt Wilhelm dem Sammler auch das "Kästchen", welches er, obwohl besitzloser Wanderer, stets mit sich geführt hatte (HA VIII, 146). Dieses Kästchen, zugleich Reliquiar und Fetisch (am wenigsten Symbol), kursiert durch den Roman als geheimnisvoller Träger des Erotischen. Der Sammler nun ist, wie Trunz bemerkt (647 ff.), der Antipode zum Bund der Wanderer: festhaltend, bewahrend, sammelnd versucht er, ein ausgesuchtes Eigentum durch und über die Zeit zu retten. Hingegen ist Wilhelm (noch) zum Ephemeren, Besitzlosen und Unsteten bestimmt. Doch trifft er immer wieder auf Sammler. Er entstammt dem Haus eines Sammlers, des Großvaters; Sammler sind der Vater der schönen Seele und der Onkel Hersilies. Dieser Sammler ist aber nicht auf der Suche nach Kunstwerken, Antiken oder Gemälden, sondern Alltagsgegenständen, deren Auratisierung er betreibt: "Sie sehen hier, wie lange etwas dauern kann, und man muß doch auch dergleichen sehen, zum Gegengewicht dessen, was in der Welt so schnell wechselt und sich verändert. Dieser Teekessel diente schon meinen Eltern und war Zeuge unserer abendlichen Familienversammlungen; dieser kupferne Kaminschirm schützt mich noch immer vor dem Feuer, das diese alte mächtige Zange anschürt; und so geht es durch alles durch. [...] Eine liebevolle Aufmerksamkeit auf das, was der Mensch besitzt, macht ihn reich, indem er sich einen Schatz der Erinnerung an gleichgültigen Dingen dadurch anhäuft. Ich habe einen jungen Mann gekannt, der eine Stecknadel dem geliebten Mädchen, Abschied nehmend, entwendete, den Busenstreif täglich damit zusteckte und diesen gehegten und gepflegten Schatz von einer großen, mehrjährigen Fahrt wieder zurückbrachte." (HA VIII, 145)

Für das Goethesche Verständnis von Fetischen ist festzuhalten: 1. Zurecht betont der Sammler die Gleichgültigkeit (Wertlosigkeit) von Dingen, die fetischisiert werden. Der Fetisch-Wert ist unabhängig vom Gebrauchs- oder Tauschwert einer Sache. 2. Erst eine magische Bedeutungszuweisung macht Dinge wertvoll, hier einmal für das Traditionsbewußtsein des Sammlers, zum anderen für das erotische Begehren des Liebhabers. 3. Im Winnicottschen Sinne sind Fetische Übergangsobjekte, um Trennungen zu bewältigen, hier einmal, um den 'Übergang' zwischen den Generationen zu bewirken, der durch den Tod der Alten notwendig wird; zum anderen, um die Trennung von der Geliebten zu 'überbrücken'. 4. In beiden Fällen funktionieren die Fetische als Halt gegen das Verfallen in der Zeit: fetischisierte Dinge bilden einen "Schatz der Erinnerung", der nicht im Besitz dieser Dinge besteht, sondern "an" diesen Dingen 'angehäuft' wird. Dieses Anhäufen "an" den Dingen erzeugt ein symbolisches Kapital, das wie ein Hof um die Dinge herum präsent ist: Dies ist ihre 'Bedeutsamkeit' für den Sammler, wodurch er "reich" wird, ohne ein Reicher zu sein. 5. Sammler wie Liebhaber sehen beide recht gut, daß "Erinnerung" um so lebhafter und stetiger ist, je stärker sie sich mit Dingen und kleinen Alltagsritualen verbindet, wie sie für den Fetischisten typisch sind: so das tägliche Feststecken des "Busenstreifs" mit der Nadel der Freundin. Das Gespinst der Erinnerung ist filigran, empfindlich, ephemer, weil die Zeit, als Vergessen, ständig gegen das Erinnern arbeitet. So sind die Dinge, die von anderen stammen, die besten Hilfsmittel, dieser anderer zu gedenken — sofern diese Dinge fetischisiert sind.

Der Sammler wohnt in einem Haus voller Memorialzeichen, einer Insel nicht nur in der Feuersbrunst, welche die Stadt verwüstete, sondern auch im Strom der Zeit. Man möchte an Proteus in Faust II erinnern. Proteus, der Gott sich ewig wandelnder Natur, verhöhnt die Telchinen, welche Götterbilder als ewig-unvergängliche Zeichen zu skulpturieren sich stolz einbilden, während er auf die Gewalt der Zeit in der Natur weist, die alles zerstört. Diesem 'Werden und Vergehen' widersetzt sich der Sammler mit aller Kraft — und das erkennt Wilhelm recht genau, wenn er mit dem Argument des Proteus gegen den Sammler einwendet: "Mit allem dem [...] werden Sie mir gestehen, daß der Mensch der Veränderung nicht widersteht, welche die Zeit hervorbringt." (HA VIII, 145) Feuersbrunst, Erdbeben, Vergehen in der Zeit — dies alles, so räumt der Sammler ein, gibt es als Rahmenbedingungen der Natur. Doch der Sammler ist eine Art Kulturbringer, indem er einen lebenslangen Kampf gegen die Vergängnis und für die Verstetigung des Bestands führt: "'Freilich', sagte der Alte, 'aber doch der am längsten sich erhält, hat auch etwas geleistet." (ebd.)

Die Sammlung ist als "Schatz der Erinnerung" und in der Form des Fetischs eine Kulturpraxis, die der Selbsterhaltung gegen die zerstörerische Zeit der Natur dient. Sammlungen sind so wenig wie Fetische ewig oder garantieren Ewigkeit; doch gibt es durch sie hindurch eine Art 'Generationenvertrag', wodurch über die Grenzen des eigenen Todes hinaus Bestände des Selbst gesichert werden können gegen ihren Ruin: so glaubt der alte Sammler, dieser beharrliche Kämpfer im Meer der Zeit. "Ja sogar über unser Dasein hinaus sind wir fähig, zu erhalten und zu sichern" (ebd. 146). Auch ist diese Sammlung ein Bollwerk gegen den Tod. Durch sorgfältigste Magazinierung der Dinge sichert sie das Kontinuum der Zeit, das der Tod, wie jeder Verlust, gewaltsam zerreißt.

Und so ist Wilhelm recht beraten, bei diesem Sammler das Kästchen aufzubewahren, das selbst zu einem Fetisch geworden ist. Mit umständlichen "Zeremonien" wird denn auch das Kästchen der Sammlung des Hausherrn eingefügt (ebd. 147), ein Kleinod neben all den anderen Kleinodien des Gedächtnisarchivs. Der Leser sowenig wie Wilhelm weiß, was das Kästchen bedeutet und enthält — wovon es die "Semiophore" ist. Doch der Sammler ist sicher, daß "wenn das Kästchen etwas bedeutet, so muß sich gelegentlich der Schlüssel dazu finden" (ebd. 146). Denn eine Sammlung zieht das ihr Fehlende und zu ihr Passende und Gehörige magisch an. Die Sammlung ist nicht nur Erinnerungsmagazin, sondern auch Magnetfeld, das die flottierenden Bedeutungen einfängt und stillstellt, ordnet und sinnfällig präsentiert. Deswegen "mehrt" sich jede Sammlung "auf wunderbare Weise" (ebd. 146).

 

Die Ethik des Sammelns und Erinnerns

Das dritte Beispiel verdeutlicht diesen Zusammenhang von Sammlung und Zeit. Es entstammt Dichtung und Wahrheit — eine grundsätzliche Reflexion, wie Goethe sie in seine Lebensbeschreibung einzuflechten liebt:

"Diesem zu begegnen, gewöhnte ich mich zuvörderst, bei allem, was ich besitze, mich gern zu erinnern, wie ich dazu gelangt, von wem ich es erhalten, es sei durch Geschenk, Tausch oder Kauf, oder auf irgend eine andre Art. Ich habe mich gewöhnt, beim Vorzeigen meiner Sammlungen der Personen zu gedenken, durch deren Vermittelung ich das einzelne erhielt, ja der Gelegenheit, dem Zufall, der entferntesten Veranlassung und Mitwirkung, wodurch mir Dinge geworden, die mir lieb und wert sind, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Das, was uns umgibt, erhält dadurch ein Leben, wir sehen es in geistiger, liebevoller, genetischer Verknüpfung, und durch das Vergegenwärtigen vergangener Zustände wird das augenblickliche Dasein erhöht und bereichert, die Urheber der Gaben steigen wiederholt vor der Einbildungskraft hervor, man verknüpft mit ihrem Bilde eine angenehme Erinnerung, macht sich den Undank unmöglich und ein gelegentliches Erwidern leicht und wünschenswert. Zugleich wird man auf die Betrachtung desjenigen geführt, was nicht sinnlicher Besitz ist, und man rekapituliert gar gern, woher sich unsere höheren Güter schreiben und datieren." (HA IX, 412)

Goethe reflektiert hier, was man den unauffälligen Alltag der Erinnerung nennen kann, wo es nicht um große Ereignisse, aber auch nicht um zufällig durch den Kopf strömende Erinnerungen geht. Vielmehr berichtet Goethe von einer persönlichen Erinnerungskultur, von rituellen Praktiken, durch welche er dasjenige, was in die Vergängnis zu fallen droht, in ein geregeltes Gedenken überführt. Dabei spielen Sammlungen eine wesentliche Rolle.

Sammlungen sind für Goethe Arsenale des Gedächtnisses. Die Dinge, welche der Sammler um sich häuft und in Ordnungen bringt, sind nicht gleichgültig und stumpf, sondern "lieb und wert". Die 'Besetzung' der Dinge ist es, die den Sammler für den teilnahmslosen Blick von außen, für den Nicht-Sammler, oft skurril, zuweilen lächerlich macht. Die Auratisierung und memoriale Imprägnierung der Dinge verwandeln diese von toten Objekten zu lebendigen Trägern der Erinnerung. Die Umgebung, die den Sammler umhüllt wie ein Kleid, "erhält dadurch Leben". Diese Animation erzielt Goethe nicht beiläufig, sondern durch eingeübte Rituale. Er knüpft an die Dinge unsichtbare Spuren ihrer Herkunft, die auf die Menschen und Umstände verweisen, durch welche er in den Besitz der Stücke gelangt ist. Das erzeugt über ihren Sammlungswert hinaus den 'Mehrwert' der Memoria. Das Zusammenspiel von Dingen und Memoria entwickelt die unsichtbar an den Dingen haftende Geschichtlichkeit ihrer selbst, aber auch und vor allem des sozialen Geflechts, in welchem sie standen.

Gewiß sind die Dinge des Sammlers schon wertvoll, indem sie Sammlungsstücke sind. Wie unbedeutend sie sein mögen — als Teile der Sammlung sind sie mehr als sie sind. Sie 'gewinnen' einen Platz in den Reihen und Ketten, Figuren und Verwandtschaften, Konstellationen und Verknüpfungen, in denen sie stehen, wodurch sie nicht länger einzelne Dinge, sondern 'Sammlungsstücke' sind. Bereits dies ist ein Mehrwert, der den Dingen zuströmt, indem sie zu plazierten Elementen eines Ensembles werden (vgl. Die Lehrlinge zu Sais).

Goethe zielt auf ein Ritual, das einen Mehrwert zweiter Stufe erzeugt. Immer wenn er seine Sammlungen 'vorzeigt', wird ihm dies zur "Gelegenheit", sich der Herkunft der Sammlungsstücke zu erinnern. Goethe erinnert sich nicht 'zufällig', sondern das Performative der Erinnerung meint: 'geregelter Zufall', "Gelegenheit", occasio. Das Occasionelle ist alles andere als memory by chance. In die bedachtsame Szene des 'Vorzeigens' der Sammlungen, des Redens, Beschauens, Betastens, Hin- und Herwendens, Austauschens, Erzählens: in diese exoterische Schicht, die von den Umgangsformen der gastfreundlichen Sammlerkultur des 18. Jahrhunderts gebildet wird, lagert Goethe eine esoterische Schicht des Memorierens ein. Die Objekte sind dadurch nicht nur Sammlungsstücke, sondern sie werden zu Medien: sie sind die materialen 'Vermittler' der Erinnerung. Die "Urheber der Gaben steigen wiederholt vor der Einbildungskraft hervor", heißt es. Es sind also Medien des "Vergegenwärtigens". So gewinnen die Dinge, welche 'für sich' tot zu sein scheinen, "ein Leben", wodurch der gegenwärtige Augenblick "erhöht und bereichert" wird.

Dies ist jedoch ein 'Mehrwert', den das Erinnern den Dinge zurückerstattet. Sie selbst, die Mehrwert erzeugen, werden mehr wert. Sie haben sinnlichen und übersinnlichen Wert. Das erklärt vielleicht die merkwürdige Wendung: "Gerechtigkeit widerfahren zu lassen". Sie meint, daß der occasionelle Erinnerungsstil eine ethische Qualität aufweist. Das Gedenken mittels der Dinge erstattet den Personen und Gelegenheiten, durch welche der Sammler in den Besitz seiner Objekte gelangt ist, etwas zurück: das Andenken selbst. Das Andenken steht zum Herkommen in einer Wechselbeziehung, es tariert die Herkunft aus. Das Tariertsein von Herkunft und Andenken nennt Goethe "Gerechtigkeit". Man sollte nicht versäumen, diese besondere Bestimmung von Ethik festzuhalten.

Die Verflechtung von Herkunft und Andenken gleichsam auf dem Rücken der Dinge, die sich für diese zwanglose und doch inszenierte Begegnung anbieten, ist in der Formulierung notiert: "Gerechtigkeit widerfahren zu lassen". Sie drückt aus, daß diese Gerechtigkeit im Erinnern weder ein Aktivum noch ein Passivum, sondern beides zugleich, oder ein Mittleres: ein Medium ist — im aktionsmodalen Sinn der griechischen Sprache; im Sinn der Balance von Herkunft und Andenken, von 'Herstellen' und 'Lassen', von Performanz und Ereignis; und im Sinn der Verflechtung von Vergangenheit und Augenblick im "Vergegenwärtigen". Daß Goethe dieses als Medium denkt, verrät die Formulierung: "die Urheber der Gaben steigen wiederholt vor der Einbildungskraft hervor".

Die Dinge des Sammlers funktionieren wie die Laterna Magica, die der von den Müttern aufgerüstete Faust zum "Vergegenwärtigen" des "Idols" Helenas zum Einsatz bringt. Oder der Spiegel, in welchem Faust das bezaubernde Bildnis des Weiblichen schlechthin sieht (V. 2429 ff.). Oder jenes "Idol", worin er Gretchen zu erkennen glaubt, und von dem Mephisto trocken bemerkt, daß ein jeder darin sein Liebchen erkenne (V. 4184-4812). Medien sind definiert durch den Effekt, durch den das Eingebildete wie von außen, "vor der Einbildungskraft", auftritt. Medien erzeugen objektive Phantasie. In diesem Sinn ist alles Erinnern, das kein Memorieren von Daten, sondern ein "Vergegenwärtigen" ist, ein mediales Ereignis. Genauer: es benötigt ein Medium, durch welches das Erinnerte 'vor' den Erinnernden 'hintritt'. Dies sind hier die Dinge des Sammlers. Darum gilt: Sammlungen sind Erinnerungsmedien.

Indem Goethe solcherart die Sammlung als Medium des aktiv-passiven Erinnerns inszeniert, stellt er "Gerechtigkeit" gegenüber dem Vergangenen her. Er trägt die Schuldigkeit des Augenblicks gegenüber seiner Vergangenheit ab und vermeidet "Undank" — jene bei Sammlern so häufige Eigenart, ihre Objekte einzukapseln, in "sinnlichen Besitz" zu nehmen derart, daß die Dinge nichts mehr zeigen als die Signatur der Sammlung selbst, d.h. den 'Herren' der Sammlung. Die "geistige, liebevolle, genetische Verknüpfung" hingegen, welche das Eingedenken des Vergangen 'gelegentlich' des 'Zeigens' der Schaustücke herstellt, ist Dankbarkeit. Dankbarkeit ist die ethische Verfassung des Erinnerns. Die Dankbarkeit des Sammlers ist das Gegenteil des Geizes, des einkapselnden Hortens, des verbissenen Besetzens, des herrischen Einnehmens der Dinge. So verhält sich der Dilettant des Sammelns.

Nur wenn die Dinge eine doppelte Metamorphose erfahren — vom Einzelding im Gebrauchskontext zum Samlungsstück und vom Sammlungsstück zum Erinnerungsmedium —, erfährt der Sammler seine Rechtfertigung. Die Dinge werden aus dem Stand des "sinnlichen Besitzes" erlöst und zu Zeichen und Medien des (imaginären) Austauschs zwischen Sammler und Geber, wer immer auch 'gegeben' hat, der Zufall, die Gelegenheit oder eine Person. Sammlungen werden erst 'gerecht', wenn an ihnen mit ausgestellt wird, daß sie niemals nur Erwerb, sondern immer auch Gabe sind. Sammlungen enthalten immer zugleich: "Geschenk, Tausch oder Kauf".

Goethe schildert hier sein Ideal, wie die Beziehungen zu den Dingen bestimmt sein sollten: wir stellen eine Art Würde der Dinge her, indem wir sie nicht in Besitz, sondern in Obhut nehmen. Will sagen: wir bieten ihnen eine Szene ihres Aufretens, in welcher sie das Vergangene uns zu vermitteln fähig werden; so, wie sie uns wieder verlassen werden, um anderswo und für andere dieses Netz performativen Erinnerns weiterzuführen. Wir belehnen sie mit einer Aura, die sie uns schenken. Dieser 'Tausch' ist Gerechtigkeit.

Man erkennt an dieser Signatur, die Goethe den Dingen der Sammlung erteilt, den Unterschied zum Fetisch. Auch dieser ist ein Medium, eine Batterie von "Leben", von Kräften, von Unsichtbarem und Vergangenem. Doch das fetischisierte Ding ist nicht das in Obhut genommene, sondern herrisch besetzte und besessene Ding. Es zaubert auch "vor der Einbildungskraft", doch so, daß dabei nichts als diese ihr Bild findet. Der Fetisch spricht nur, indem er das Vergangene zum Verstummen bringt. Es muß schweigen, damit er funktioniere. Der Fetischist darf sich nicht an das erinnern, was als Spur der Herkunft am Fetisch hängt und ihn als solchen erst konstituiert. Der Fetisch "rekapituliert" ein Vergessenes — das Proprium des Begehrens —, doch muß dies dem Fetischisten opak bleiben. Wer sich dessen wirklich erinnert, was der Fetisch nur verborgen darstellt, zerstört ihn.

Der Fetischismus fixiert das Begehren auf eine endlose Kette von Augenblicken, auf die Trophäen der Dinge, die der Sammlung vereinnahmt werden. Diese zeigt das immer eine Gesicht: des Sammlers selbst. Er jagt rastlos den Dingen nach, um sie der nie vollständigen Sammlung einzuverleiben, preisgegeben der Hölle einer Unruhe, welche vom schwarzen Punkt des Vergessens ausgeht. Die Barriere, die beim Fetischisten vor dem Erinnern liegt — und die Goethe öffnet, indem er den Fetisch verzeitlicht —, verschließt die Vergangenheit und treibt den Fetischisten in die Zukunft, in den Dschungel all der Dinge, welche er noch nicht hat, doch haben muß. Dadurch aber werden alle Dinge gleich. Der Fetischist verliert jede Distinktion (darum ist er 'geschmacklos'). Ihm gerinnen alle Fundstücke zur Masse des schon Einverleibten, zur Armee der Trophäen, die er als Merkzeichen seiner triumphalen Passion antreten läßt. Wohingegen der Goethesche Sammler umgekehrt die Dinge individualisiert und physiognomisiert; er macht sie zu Pforten des Erinnerns einer Vergangenheit, welche in die Gegenwart der Dinge einzutreten wünscht.

Diese stumme Beredtheit ist dem Fetischisten verschlossen. Sie brächte seine Leidenschaft zum Erliegen. Er bedarf des Vorwärtsbrausens zu immer neuen Eroberungen, an denen er das zwanghafte Wiederholende nicht bemerkt. Schmetterlinge, Steine, Strumpfbänder, Haarlocken, Porträts, Gemälde, Lederlingerie, Gemmen, hochhackige Schuhe, Scherenschnitte, Federn, Schrumpfköpfe, Inkunabeln, alte Bücher, Postkarten, Büstenhalter — es ist gleichgültig: der Fetischist versammelt endlose Varianten des immer einen Partialobjektes, das ihm, je exzessiver er es besetzt, um so unnachgiebiger jenes Ganze versperrt, auf das die Sammler aus sind. Während Goethe das Sammeln zu einem Medium des "Lebens", der Animation werden läßt, wohl wissend, daß er selber zu Fetischisierungen von Sammlungsstücken neigt, werden die Trophäen des Fetischisten zu "traurigen Tropen", zu toten Zeichen einer niemals begriffenen Leidenschaft. Deswegen haftet am Fetischismus nicht nur etwas Trauriges, sondern auch Nicht-Aufgeklärtes, ein schlechtes Rätsel. Goethe hingegen versucht, mit seinem Ideal des 'erinnernden Sammelns' eine oxymoronale Kunst zu entwicklen: die Kunst der 'aufgeklärten Leidenschaft'. Sie verschafft dem Fetischimus durchaus eine Liberalität und bedarf nicht seiner Pathologisierung. Gerade dadurch vermag sie die mediale und magische Kraft, die dem Fetisch innewohnt, für eine Kultur des Erinnerns zu nutzen. Der Fetisch ist fatal, weil er den ihm verfallenen Fetischisten isoliert und in soziale Einsamkeit einschließt. Der Sammler hingegen entfaltet in der geselligen Form des Zeigens und Erzählens, Austauschens und Berichtens, der 'Betrachtung' und 'Rekapitulation' eine Form, welche der stummen Erscheinung der Dinge eine Szene leiht, so daß durch sie die Erinnerung zur Sprache zu kommen vermag. So arbeitet der ideale Sammler an Gestalten der Zeit.

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