In: Bogdal, Klaus-Michael / Gutjahr, Ortrud / Pfeiffer, Joachim (Hg.): Jugend. Psychologie – Literatur – Geschichte; Würzburg 2001, S. 25-39.

Hartmut Böhme

Das Verewigen und das Veralten der Jugend

Raymond Radiguet starb 1923 an Typhus, gerade zwanzigjährig. Er hinterließ zwei furiose Romane, "Le Diable au corps" und "Le bal du Comte d'Orgel", und ein paar Dutzend Gedichte. Jean Cocteau, selbst jugendverliebt und älter werdend, schreibt später im Nachwort zum ersten Roman: "Radiguet verabscheute die Oscar Wildesche Vorstellung von der Jugend. Er wäre so gern alt geworden. Heute wäre er fünfzig. Doch mit seinen unerbittlichen Händen hat der Tod ihn in der Gestalt eines Zwanzigjährigen festgebannt, ein für allemal." [1]

Der Verweis auf Oscar Wilde ist beziehungsreich. In der Selbstverkultung seiner jugendlichen Schönheit vertauscht Dorian Gray (1890/91) den eigenen Alterungsprozeß mit dem seines Bildes: so wie er jugendlich konserviert sich erhält, so altert an seiner statt das Gemälde, dessen Antlitz unerbittlich die Züge progredienter Verwelkung und moralischer Dekadenz anzeigt. Wilde hat das Verhältnis von Kunst und Leben umgekehrt. Beinahe seit je wurde der Kunst die Fähigkeit zugesprochen, die biologische und soziale Zeit auszuhebeln und eine zeitlose Ewigkeit zu kreieren, die Alterslosigkeit schenkt. Das Kunstwerk ist ewig jugendlich, so sterblich sein Schöpfer sein mag. So soll es sein, wenn Ovid, der am fernen Schwarzen Meer die Tristesse seiner Verbannung erfahren muß, am Ende der "Metamorphosen", nicht ohne Selbstironie, eine der großartigsten Apotheosen der Kunst entwirft. In weiter Zukunft, wenn der im Zenith seiner Göttlichkeit stehende Augustus, der ihn verbannte, ja wenn selbst Jupiter, dessen Strahlglanz der Kaiser in sich zu repräsentieren sucht, vergessen sein wird, würden sein eigener Name und das Gedicht, die "Metamorphosen", Bestand haben (Met. XV, 858-879).

Danach wäre Kunst die erfolgreichste List, die Zeit zu überwinden, und das wahre Medium, sich dessen zu vergewissern, was selbst die Götter nur scheinbar auszeichnet: ewige Jugendlichkeit. Das Sein der Kunst dementiert die Zeit, von der als ihr Vergessenwerden sogar die Caesaren und Götter und ihr steinerner Anspruch, Roma Aeterna, eingeholt werden.

Wenn bei Wilde umgekehrt Dorian Gray nicht altert, sondern sein Bildnis, dann heißt dies, daß Dorian sich vollständig zur Kunst gemacht hat, so daß die Zeit ihrerseits ein Exil im Kunstwerk suchen muß. Denn aufzuheben ist sie nicht: ihr Sichtbarwerden in den Verrunzelungen des Gemäldes gewinnt eine wahrhaft unheimliche Macht über denjenigen, der die Kunst des Alterns nicht gelernt hat, über Dorian Gray also, den ewig Jugendlichen, den der Anblick seines alternden Bildes in Verzweiflung treibt, bis er, als anderer Teufelsbündler, in einem neuerlichen Akt der Bildvertauschung, als rotte Leiche endet, während das Gemälde in ewiger Jugend strahlt. Unerbittlich gerät ins Zeichen des Saturn, des Gottes der Melancholie und der Zeit, wer rückhaltlos ins Zeichen der Schönheit und des Eros, der Jugend also, sich stellt. Von Radiguet sagt Cocteau gerade das Gegenteil: er wollte altern, um zu leben, und wurde durch den frühen Tod zur "Gestalt", zur Kunstfigur, die, weil er starb, nicht mehr altern darf. Der Hinweis Cocteaus auf Dorian Gray heißt nichts anderes, als daß der alterungslose Gray lebend bereits so tot ist, wie umgekehrt sein Bildnis, gerade alternd, lebt. Aus Radiguet hingegen macht der Tod "mit seinen unerbittlichen Händen", wie ein Skulpteur, die effigies des Zwanzigjährigen. Man wird eingestehen, daß wir, die Rezipienten der Kunst, über weite Strecken in der Bannkraft von Ewigkeitsbildern stehen, deren heimliche Koalition mit dem Tod wir gewöhnlich leugnen: eben das hatte Cocteau im Sinn. Die Figur des "Frühvollendeten" ist ein ästhetischer Mechanismus, der das Opfer eines Künstlers voraussetzt, durch das die Nachlebenden am himmlischen Mana der Unsterblichkeit teilhaben dürfen. Doch ist dies nur ein besonders deutlicher Fall des allgemeinen Verhältnisses, durch das der Rezipient sich am Werk vampiristisch am Leben hält.

Gerade noch gehört Raymond Radiguet dem Fin de Siècle an, der diese Transfusionen zwischen Leben und Kunst in aller Klarheit durchbuchstabiert hatte. Darum besteht Cocteaus Hinweis auf Wilde zurecht. Dieser oder Hugo von Hofmannsthal oder Joris-Karl Huysmans hatten am jugendlich vollendeten Ästheten das Todesverfallene und die Melancholie der Lebensferne hervorgekehrt. Die schönen Dinge und pretiosen Stoffe umgaben den in seinen feinen Gesten ermüdeten Jugendlichen bereits wie unerkannte Grabbeigaben. Die frühreifen Verse perlten den Jünglingen aus ihrem tizianesken Mündern wie Abgesänge eines Lebens, das ebenso alterslos schön wie entwicklungslos starr geronnen war. Der Augenblick, in welchem das Schöne entziffert war, fiel mit dem des eigenen Todes zusammen. Im Blühenden des Jugendstils, wo er nicht nur Dekor war, sondern zu Ende durchdacht, ging die Todesblume auf, die Stefan George im artifiziellen, subterranen Reich des jugendlichen Kultkaisers und Künstlers Algabal (1892) zum zentralen Symbold werden läßt: die "dunkle grosse schwarze blume" wächst nicht, sondern wird im lichtlosen und radikal antinatürlichen "unterreich", im zeitlosen "garten" der Kunst "gezeugt". Die utopischen, ja geschichtsphilosophischen Potentiale der Jugend, wie sie in der Romantik entdeckt und entwickelt waren, hatten sich längst verzehrt. Zu Ende ging die uralte Annahme, daß das Schöne ein Remedium des Todes wäre; im Gegenteil gab es in seinem Inneren das Kranke und Todesgezeichnete preis, das in der alterungslosen Jugend und frühen Vollendung der schönen Gestalten unsichtbar gemacht werden sollte.

Im Massensterben des Ersten Weltkriegs zerbrach endgültig die metaphysische Koalition von Schönheit und Jugend. Sie hatte lange gehalten. Zwar kann man sagen, daß im Christentum für Jugendkult kein Platz ist. Nicht zufällig wurde ein Sohn dem Vater zum Opfer gebracht – und dies war die Kernszene, aus welcher die gesamte christliche Moral abgeleitet war. Als Lebensideal galt, was altersmäßig eher dem Greis gut zu Gesichte steht: Kontemplation, Weltabkehr, Dämpfung der Sinne, Askese. Jugendliche fanden Aufnahme in den Kanon der Verehrung nur als Märtyrerinnen oder Märtyrer, mithin als Tote. Auch in weltlichen Zusammenhängen standen die jungen Männer unter den Regularien der Zünfte und Stände, der Alten also und des Althergebrachten. Konsequenter Patriarchalismus verhindert die Ausdifferenzierung von Jugend, wahrscheinlich ubiquitär. Allenfalls im Krieg konnte ein hochgeborener, junger Mann sich früh auszeichnen – doch wurde dies nicht ihm selbst und seinem Alter zugerechnet, sondern seinem Stand und dessen Ethos, insofern er es vorbildlich darstellte, d.h.: dem er also unterworfen war. Für das Weibliche entfiel die Jugend völlig. Höchstens als Verheiratete hatte eine junge Frau Aussicht auf einen eingeschränkten Handlungsraum. Nicht einmal in Ansätzen hatte sich zwischen Kindheit und Frausein ein eigener Lebensabschnitt eingeschoben, den wir Adoleszenz nennen. Obwohl also innerhalb der mittelalterlichen christlichen Kultur das Jugendliche kaum 'eigensinnige' Entfaltungschancen hatte (was auch für die Kindheit gilt), kann man wiederum nicht behaupten, daß erst in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts und mit der Romantik, also mit dem Einsetzen der protoindustriellen Phase, die Jugend 'entdeckt' und als Lebensepoche ausdifferenziert wurde. Dies reflektiert vielmehr längere mentalitäts- und sozialgeschichtliche Prozesse.

Und zu ihnen gehört die angesprochene metaphysische Koalierung von Schönheit und Jugend. Wenn 1500 der junge und meisterhafte Dürer sein berühmtes enface-Selbstporträt im Schema der Christus-Ikonen malt, so ist dies gerade keine vom Himmel gefallene Ikone, ein Acheiropoieton, sondern der historisch signifikante Ausdruck einer neuen biographischen Selbstreflektiertheit und eines neuen epochalen Selbstbewußtseins. "A portrait of the artist as a young man" (1916), möchte man mit James Joyce anachronistisch sagen, wenn nicht weit darüber hinaus Dürer seine eigene jugendliche Schönheit zum Inbegriff einer gottähnlichen Schöpferkraft stilisiert hätte: homo secundus deus. Europaweit wird im Rahmen der Entstehung des Porträts und damit der erstmaligen Bildfähigkeit des profanen Individuums, auch das Bildnis des jungen Mannes und der jungen Frau entdeckt. Für die Codierung der Geschlechterordnung war dies nicht ohne Folgen: die ernsten, kraftvollen, temperierten, klugen und reflektierten Gesichter der jungen Männer der frühen Neuzeit und die schönen, anmutigen, nach Innen genommenen und sensitiven Antlitze der jungen Frauen prägten für lange Zeit die Performanz der Geschlechter – und zwar im Zeichen einer neuen Jugend. Nicht umsonst malte Michelangelo auf seinem gigantischen Weltgericht den triumphierenden Christus als jugendlichen Held, ein schöner Athlet in der Mitte des unvergänglichen Lichts (1569). Das revoltierte die als Martyrium gemalten Christus-Bilder mit den überdehnten Gliedern des Schmerzensmannes und den Zügen des leidenden Sohnes. Und wenn auch zur selben Zeit Christus-Gemälde entstanden wie der unsägliche Leidenssausdruck des gottverlassenen, jungen Jesus am Kreuz bei Mathis Grünewald (1512-24, heute im Unterlinden-Museum Colmar) oder der in seinen Sarg gestreckte, ausgemergelte "Tote Christus" von Hans Holbein d.J., der nichts präsentiert als einen toten Menschen (1521, Kunstmuseum Basel, Amerbach-Kabinett) –, dann sind dies nicht Fortsetzungen gotischer Christus-Darstellungen, sondern epochale Entdeckungen des Leidens und Sterbens eines Einzelnen, die umso schmerzlicher sind, als dieser nichts als ein junger Mensch ist, kein Gott. Daß gar, wie Leo Steinberg zeigte, die Sexualität in die Ikonik Christi Einzug hielt, ist ein weiteres Zeichen der Vermenschlichung des Gottessohnes und damit seiner Jugend, die er zum Opfer brachte . [2]

Gewiß soll hier nicht behauptet werden, die 'Jugend' sei als biographische Phase kulturgeschichtlich um 1500 entstanden. Doch ist sie bildfähig geworden. Und Jugend ist nicht 'Natur', ist nichts biologisch gegebenes, sondern vor allem ein 'Bild', ein augenscheinliches Konstrukt, das eine Epoche sich von Menschen macht, die weder Kinder sind, noch in der erfahrenen Gefaßtheit gezeigt werden, die wiederum aus den Porträts der älteren Männer des sechzehnten Jahrhunderts uns ansieht, die in Amt und Würden stehen, Reichtum und Macht gesammelt haben und sich nun gravitätisch ins Bild setzen lassen. Unübersehbar ist, daß die neue Körperästhetik der Renaissance-Maler an Skulpturen der Antike geschult ist. Und sich zugleich das individuum ineffabile herausprozessiert, das über die Zeit hinaus auf das Werden einer neuen biographischen Epoche weist: die Jugend. Die antiken Körper, die zum Vorbild der neuen Ästhetik werden, sind jugendlich. Sie ziehen auch in klassisch christliche Szenen ein, z.B. bei Luca Signorelli, von dem Michelangelo körperästhetisch viel lernte, wenn jener auf seinem Weltgerichts-Zyklus im Dom von Orvieto (1499-1504) alle auferstandenen Toten, Verdammte wie Erlöste, in prangender Jugend malt, lebensfrisch und kraftvoll, schön und erotisch noch oder gerade dann, wenn sie von den grauen, sichtlich älteren Unholden, den Folterknechten der Hölle, grausam gequält werden. Auf Dutzenden von Höllengemälden nach 1450 können wir die Hölle als eine Szene sehen, auf der in allen Variationen die Schönheit der nackten jugendlichen Leiber durchexperimentiert wird. Selbst bei der Ikone des fromm Weiblichen überhaupt, der Mutter Maria, die ihre Karriere antifeminisitischer Propaganda der Kirche verdankt, bleibt es nicht aus, daß sie immer jünger wird (und Joseph immer älter), so daß aus ihrem Antlitz und Gestus die Zauberkraft der jugendlichen, mal ephebischen mal schwellenden Frau strahlt, die anzusehen kein Liebhaber müde wird. Kein Zweifel, daß ihre schön gefalteten Gewänder und fromm gesenkten Augenlider den Körper der Venus verhüllen – so wie Jesus und mancher Märtyrer, etwa der schöne Sebastian, eine kraftvolle Jugend ausstrahlen, die mal dem schlanken Körperbild des iuvenilen David, mal der athletischen Kraftfülle des Herkules folgt. Kein Zufall auch, daß eben diese beiden (der David des Michelangelo, 1504, und der Herkules von Bandinelli, 1533) als Embleme der Stadt vor dem mittelalterlichen Palazzo Vecchio in Florenz aufgestellt wurden. In den Idolen der Jugend und der Kraft verkultete sich die Stadt. [3]

An keiner Stelle handelt es sich darum, daß Adoleszenz als die krisenhafte Lebensphase der Destabilisierung überkommener Ich-Muster der Kindheit und der Tradition sowie der krisenhaften, noch experimentellen Identitätssuche, verbunden mit psychosexuellen Reifungsschüben und sozialen Lernprozessen, verstanden wurde. Diese Auffassung der Jahre zwischen 12 und 25 wurde erst mit dem modernen Jugend-Begriff seit 1800 gebildet und in unserem Jahrhundert entwicklungspsychologisch ausgearbeitet. Doch gewiß ist auch, daß Traktate wie "Il Libro del Cortegiano" (1508-16; 1528) von Baldesar Castiglione nicht für 40jährige (so alt war Castiglione bei der Abfassung seines Werkes) vonnöten waren, sondern einer in den Oberschichten gewachsenen Einsicht zu verdanken sind, daß kultiviert, also höfisch zu sein, einer jahrelangen komplexen Ausbildung, des Lernens und des Trainings bedarf – Jahre, die in den Lebenszyklus plaziert werden mußten, zwischen die Zeit verständnisloser Kindereien und der Übernahme gesellschaftlicher Pflichten, also in die Zeit einer Jugend, die weit vor der Geschlechtsreife begann und mit zwanzig Jahren abgeschlossen sein mußte.

Man folgt nur einem bürgerlichen Vorurteil, wenn man meint, daß hier 'Jugend' im vollen Sinn noch nicht eingeräumt und konzeptualisiert worden sei, weil die Entwicklungsziele präskriptiv feststanden und damit der Nucleus dieser Phase, nämlich die Adoleszenzkrise, strukturell gar nicht vorgesehen gewesen sei: der junge Mensch sei nur, und sei's über Jahre hin, programmiert worden. Man vergißt dabei, daß in der Epoche, für welche die Entdeckung der 'Jugend' in Anspruch genommen wird, nämlich die bürgerliche, für deren eine Hälfte, nämlich die jungen Frauen, keineswegs eine zehnjährige Experimentierphase vorgesehen war, sondern höchstens, wie Jean Paul sagte, eine "Flatterminute" vor der Verehelichung, die durchweg dem Elternimperativ und nicht dem eigenen, durch adoleszente Krisen gereiften Willen entsprach. Man vergißt ferner, daß die Adoleszenzkrise, die von nachfreudianischen Entwicklungspsychologen als geschlechtsunabhängiges Strukturmerkmal der Jugendzeit behauptet wurde, auch für junge bürgerliche Männer (wir reden gar nicht erst von proletarischen) in der Regel kaum existierte: es lief auf das berühmte Hegelsche Hörnerabstoßen hinaus, das in der Identifikation mit irgendeiner fixen Rollenidentität aus dem Set des patriarchalen Angebots endete (wenn nicht verendete), mit nicht mehr, vielleicht sogar weniger Flexibilität als für einen jungen Nobile zu Zeiten Castigliones.

Gehen wir getrost davon aus, daß Jugend nicht ein erst romantisches Konzept ist, wie man kürzlich sich eine ganze Tagung lang fragte [4] , sondern daß man auch im 16. Jahrhundert 'Bilder' und 'Konzepte' von Jugend hatte. Sie unterscheiden sich nur von denjenigen, in deren historischem Schatten sich unsere Seelen noch immer verknoten. Der Punkt, um den es mir hier zu tun ist, meint die um 1500 nicht-zufällige metaphysische Verknüpfung von Ästhetik und Jugend im Zeichen der wiederentdeckten Antike. Die Kunst leiht der Jugend ihre Ewigkeit und die Jugend stattet die Kunst mit Schönheit und erotischem Begehren aus. Diese Konstellation findet sich im 'bürgerlichen Zeitalter' nach 1750 wieder, sie begründet den Klassizismus. Jugend ist nicht nur ein psychologisches Thema im "Anton Reiser", "Wilhelm Meister" oder "William Lovell", sondern auch eine zentrale ästhetische Kategorie. Gemeint ist nicht nur selbstverständlich Wieland, sondern etwa zwei ästhetisch so antipodische Denker wie Winckelmann und Wilhelm Heinse, die ins Zentrum des Jugendkultes führen, auf den es hier ankommt. Heinse verpflanzt seinen Ardinghello konsequent gleich ins (vermeintlich) goldene Jahrhundert der erotischen Libertinage und der ästhetischen Verkultung des jugendlichen Körpers. Während Winckelmann, melancholischer, historisch strenger und verklemmter, die Blüte der Jugend in ihrer zeitüberdauernder Vorbildhaftigkeit zurückdatierte in die griechische Klassik, die unwiederbringlich verloren ist und dennoch als Morgenröte jedem ästhetischen Formideal vorangeht, das versteckter als bei Heinse auch ein erotisches ist. Ob der renaissancehafte Ardinghello oder der antike Apoll von Belvedere, ob epikureisch oder platonisch – in jedem Fall kreierte der Klassizismus aufs Neue die Doktrin, daß Kunst den glücklichen Augenblick ins nunc stans der zeitlosen Dauer transformiere – und daß dies nur im Bild der ewigen Jugend möglich sei. Daran gehen gut einhundert Jahre später, nach der robusten Durchsetzung des Kapitalismus, der die Jugend in die Fabriken wie der Staat sie ins Militär schickte, die frühreifen Decadents zugrunde. Das Schöne war sterblich geworden, wie schon Schiller ahnte; und die unbotmäßigen Jugendlichen, wie die Romantiker wußten, würden bürgerlich verschlissen oder nach einsamer ästhetischer Revolution zu skurrilen Sonderlingen degradiert, wenn nicht gar sozialer Deklassierung oder einem armseligen Tod ausgesetzt werden. Dies wird zum Schicksal der romantischen Künstler-Jünglinge und ihrer Nachfolger in Décadence und Fin de Siècle.
Gewiß gab es eine andere Linie. Man kann sie vielleicht auf den Sturm und Drang zurückführen, in dem Jugend weniger mit ästhetischen Idealen als mit rebellischem Kraftgestus verbunden wurde, der nicht aufs künstlerische Werk setzte, sondern als Handlung sich entladen wollte. Darin steckt auch ein politisches Potential, das in den Jahren vor und nach der französischen Revolution probiert wurde – doch aus aus den hochfliegenden Hoffnungen wurde nichts. Die Verbindung von Jugend, ästhetischer Orientierung und politischem Handeln bildet bei Wieland vom "Agathon" bis zum "Aristipp" immer neue Konstellationen, die freilich realgeschichtlich so anschlußlos blieben wie Hölderlins "Hyperion". Dieser ist vielleicht der wichtigste epische Versuch, die anspruchsvolle Synthese von republikanischer Freiheit, antikeorientierter Ästhetik und Jugendkult ins Werk zu setzen. Nicht nur in den Dramen und Romanen dieser Zeit scheitern die emphatisch Jugendlichen oder gehen gar zugrunde, sondern auch im Leben: man muß nur an Lenz oder Boehlendorff erinnern, oder an Hölderlin selbst, der zur "Gestalt" ewiger Jugend wurde um den Preis seiner Verabschiedung in den Wahn, der seinerseits ein gleichsam zeitloses Alter schenkte.

Die politische Linie von 'Jugend' findet in Deutschland, auch wenn es sich 'jung' nennt, kaum Nachfolger. Es wäre verfehlt, wenn man die revolutionären Versuche des 19. Jahrhunderts als 'Jugendbewegungen' verstehen würde. Auch die wichtigste Theorie revolutionär verlaufender Geschichte, die von Karl Marx, ist nicht etwa eine ins Geschichtstheoretische erhobene Fassung des vitalen Impulses zur Veränderung, der in der Jugend sein gleichsam natürliches Substrat gefunden hätte, sondern eine von allem 'Lebensepochalen' gereinigte Strukturtheorie. Für die Philosophie des 19. Jahrhunderts hatte Hegel den rigorosen Abschied von jugendlicher Emphase beispielhaft besorgt, und das ehemals jugendlich romantische Genie der Philosophie, Schelling, betrieb nun deren Vergreisung im Zeichen des Uralten, der Religion und des Mythos. Die beiden einzigen Denker, deren philosophischer Gestus die ästhetischen wie vitalen Elemente des Jugendkultes aufnahmen und radikalisierten, Schopenhauer und Nietzsche, blieben Außenseiter und wurden gerade darin zu Stichwortgebern eben jenes Ästhetizismus, in welchem die Jugend ihr Veralten in schwermütigen und schönen Gesten zelebrierte. Nicht die Politik, schon gar nicht die Philosophie, sondern allenfalls die Bohême bildete ein Reservat unangepaßter Jugend, indes einen Rückzugs- oder Flucht-Raum, der aufgrund seiner subkulturellen Einkapselung zu Attitüden endloser Selbstreflexivität Anlaß gab, die artistisch in Szene zu setzen nicht verdecken konnte, daß vor 1914 die 'Jugend' außer in der Form ästhetischer Idolisierung und melancholischer Morbidezza keine kulturelle Repräsentanz hatte. Dies machte den Eros so müde, die Odeurs so betäubend, die Gesten so traurig, die Beziehungen so ausssichtslos, das Hoffen so flügellahm, das Erinnern so schwermütig, das Glück so ephemer, das Schöne so zerbrechlich, die Körper so diaphan, die Leidenschaften so theatral, das Handeln so unglaubwürdig, das Denken so zweifelnd, das Bewußtsein so dunkel, die Arbeit so sinnlos, die Küsse so flüchtig, die Liebe so schattenlos und die Bewegungen so gefangen in ihrem ebenso anmutigen wie tödlichen Tanz.

Dieser Linie einer mit der Kunst eng verschwisterten Jugend wurde mit dem Ersten Weltkrieg endgültig der Terminus gesetzt. "Unterm Rad" waren die sensitiven Jugendlichen der Literatur schon des längeren, ob bei Hermann Hesse oder Robert Musil, Thomas Mann, Emil Strauß, Arthur Schnitzler und anderen. Stefan Zweig hat später in "Die Welt von Gestern" (1942), besonders im Kapitel "Eros Matutinus", bündig zusammengefaßt, was es im Österreich oder Deutschland vor 1914 hieß, jung gewesen sein zu müssen unter Bedingungen des Alten, Abgestandenen, Bigotten und einer verlogenen sexuellen Moral. Unter dem Hochdruck der jugendfeindlichen, autoritären Erziehung zerbrachen die sensitiven, nervösen Intelligenzen oder sie verwelkten, vorgealtert, noch vor ihrer Blüte. An den Rändern der Gesellschaft bildeten sich zwar mit Reformpädagodik und Jugendbewegung unter dem Leitwort eines diffusen élan vital, den man sich der Lebensphilosophie entliehen hatte, schwache Refugien für alternative Adoleszenzverläufe und Lebensformen. Und gewiß trug auch die entstehende Psychoanalyse, die angesichts der durchweg patriarchalen Gesellschaft sich nicht zufällig um den Ödipus-Komplex und damit um das Gesetz des Vaters zentrierte, erheblich dazu bei, die Psychogenese von Kindern und Jugendlichen und die ihnen dabei auferlegten Leiden zu erhellen. Dennoch blieben diese Ansätze, so sehr sie auch das Initial für kulturrevolutionäre Bewegungen in den 20er Jahren bildeten, für die Vorkriegsgesellschafts marginal. Das gilt auch für ästhetische Revolten, die durchweg von jungen Künstlern vorangetrieben wurden, den Expressionismus etwa oder den ganz im Idol der Jugend stilisierten und das Geschichtlich-Alte programmatisch vernichtenden Futurismus. Wenn hier auch in kurzen Jahren die Grundlagen für die ästhetische und kulturelle Moderne gelegt wurden, so fanden sich deren oft noch iuvenile Träger 1914 zwangsvereinigt mit der nationalistischen Jugend wieder in den Schützengräben der Stellungsschlachten des 1. Weltkriegs. Von einer strategisch ganz dem 19. Jahrhundert angehörigen Generalität wurden Millionen junger Menschen in sinnlosen Verschleißschlachten hingeopfert, darunter eine große Zahl derjenigen, welche in Wissenschaft und Kunst zu den Hoffnungsträgern der Modernisierung gehört hatten.

In den Nachkriegsrepubliken hatte die bürgerliche und proletarische, erstmals auch die weibliche Jugend bessere Chancen zu einer kulturellen und politischen Repräsentanz. Insbesondere in Großstädten, vor allem in Berlin, boten die Neuen Medien (Film, Rundfunk), Publizistik, Theater, die bildenden Künste, die Musik, die Mode, das Design, die Architektur und die Literatur, doch auch der florierende Bereich des urbanen, zunehmend internationalisierten Entertainments gleichsam eine Fülle von Experimentallabors, die jungen Menschen neue Partizipationsmöglichkeiten und ökonomisches Auskommen jenseits traditioneller Karriereleitern boten. Die sog. roaring twenties sind, wenn überhaupt, solche nur gewesen in dem Maß, als sie ins Zeichen der Jugend getreten waren. Doch täuscht dieses Bild, das sich der gesamteuropäischen kulturellen Explosion nach 1918 verdankt, die auch in Deutschland einen Kreativitätsschub auslöste, der wohl nur mit dem um 1800 vergleichbar ist. Denn eine Reihe anderer Faktoren verdeutlicht, daß von einer kulturellen oder politischen Regeneration, Reform oder Revolution der Gesellschaft im Zeichen der Jugend keine Rede sein konnte:

Für einen Teil der Nachkriegsjugend, die oft mehr als vier Jahre zerrüttender Fronterfahrung hinter sich hatte, wurde mit dem Ausdruck der "lost generation" ein bis dahin unbekanntes Syndrom belegt: junge, traumatisierte Kriegsheimkehrer, doch keineswegs nur diese, litten an Integrationsschwierigkeiten, Kontaktverlust, Anomie, Angst, Identitätsstörungen, Kollaps von Zukunfts- und Aspirationshorizont, Handlungshemmungen und Depression usw. – alles andere also als das Bild der Jugend, in welchem Schönheit, Hoffnung und Kraft zusammenkommen. Ferner boten die politischen Parteien zwar in ihren Jugendorganisationen dem üblicherweise radikaleren Jungmitgliedern Foren des politischen Engagements, doch blieb die politische Macht fest in der Hand der Alten. Bis in die kommunistische Jugend hinein wurden zudem überkommene kleinbürgerliche Moralen verlängert und doktrinär durchgesetzt, die dem Aufschwung jugendlicher Selbstorganisation gleich wieder die Flügel banden. Neue Parteien, wie die kommunistische oder die nationalsozialistische, waren bei allem Gegensatz ihrer politischen Programmatik gleichermaßen autoritär und unterwarfen ihre Jugendgliederungen strikten Marschrichtungen. Die deutschnationalen Parteien zumal hatten keinerlei Problem, ihre Jugend in eine Rhetorik nationaler Erneuerung einzubinden, die Vorkriegsideologien fortschrieb oder sogar völkisch radikalisierte (z.B. Bismarck-Jugend). "Wilde Cliquen", wie sie als rebellisch-antiautoritäre, schwach organisierte Minderheiten im urban-proletarischen Milieu – zum Schrecken der Eltern und der Parteien – auftauchten, anarchisch-kulturrevolutionäre und libertine Strömungen am Rande der bürgerlichen Jugendbewegung, die kulturrevolutionäre SexPol-Bewegung oder die ganz im Zeichen der Jugend stehende, aus einer eigenartigen Synthese von Linkssozialismus und Psychoanalyse gebildete Pädagogik Siegfried Bernfelds sind im realen Kräftefeld der Weimarer Republik nahezu bedeutungslos. Das gilt, auch wenn ein späterer Blick, nicht zufällig derjenige einer Jugendrebellion, nämlich der Studentenbewegung von 1968, gerade solche Gruppierungen für einen historischen Augenblick erinnerte und idealisierend zu Merkzeichen der Weimarer Kultur stilisierte.

Die enorme Erweiterung des kulturellen Sektors und seiner Dienstleistungen, das eigentlich dynamische Zentrum der Weimarer Gesellschaft also, war zugleich mit einer massiven Kapitalisierung, Machtkonzentration und Monopolisierung zu Großkonzernen verbunden, welche die traditionellen Generationsverhältnisse festschrieben und den Impulsen und Aspirationen der jungen kulturell-künstlerischen Bewegungen deutliche Entfaltungsgrenzen setzten. Die ökonomische und staatliche Macht verblieb, trotz der Einführung des allgemeinen Wahlrechts und des Parlamentarismus, die tendenziell der Jugend (und den Frauen) mehr Einfluß zu bieten versprachen, ohnehin fest im Griff von alten (väterlichen) Herrschaftseliten, die ihre Machtbasis lange vor 1918 gelegt und diese auch über den Epochenwechsel hinweg gerettet hatten. Die neuen Angestelltenschichten, die mehrheitlich aus jungen Männern und Frauen bestanden, waren zwar gegenüber dem traditionellen Proletariat und Handwerk, dem Kulturbürgertum und der ökonomischen Bourgeoisie durch eine Reihe charakteristischer soziologischer Merkmale bestimmt, doch fehlt nahezu völlig das jugendlich Antiautoritäre oder Rebellische, während sich die Umrisse einer politisch anpassungsbereiten, urbanen Konsumentengesellschaft bereits vorbilden, wie sie für die Bundesrepublik prägend wird. Auf seltsame Weise fehlt der ersten Republik in Wahrheit gerade der Wille, der Eigensinn und die Erscheinungsform dessen, was man der Jugend zuschreibt. Die junge Republik war ziemlich alt. Und die Jugend, so sie nicht vor Verdun oder in Flandern gefallen war, stand der Republik weitgehend fremd, wenn nicht feindlich gegenüber.

Doch setzte während der Weimarer Republik auch ein Prozeß ein, der für das kulturelle Funktionieren von Jugend und Jugendlichkeit langfristig wirksam werden sollte. Im Film begann mit dem Starkult die massenmedial wirksame Idolisierung von schöner Jugendlichkeit. Die Illustrierte und die Werbung propapierten Jugend nicht weniger als der Sport, die Mode und die Kosmetik. Jugend wurde zum Erscheinungswert ersten Ranges, so elend es der realen Jugend gehen mochte. Vor 1914 versuchte ein aufstrebender junger Mann auszusehen wie ein mitfünfziger Geheimrat; nun begann, ausgehend von den Medien, in denen die Leitbilder der Selbsterscheinung und des Lebensstils entworfen werden, jener Prozeß, an dessen Ende heute die Diktatur der Jugendlichkeit so weit getrieben ist, daß umgekehrt fünfzigjährige Präsidenten (geschweige denn ihre Frauen) nicht ohne den young-fashion-Appeal aus(zu)kommen (meinen). Vielleicht besteht der eigentliche Effekt des historischen Diskurses über Jugend und Schönheit darin, daß mit dem Entstehen der massenmedialen Kultur die Mode und der Film die Ikone der Jugend radikal von der Jugend selbst und ihren politisch-sozialen Realitäten abtrennte und, in der Gestalt des Stars und der Diva, zum klassen- und sogar kulturübergreifenden Leitbild machte. Jugend ist das Gut an sich und an sich gut, also reiner Schein, der sich als Maske über alles, und noch das Älteste, zu legen beginnt. Damit beginnt das wirkliche Veralten der Jugend.

Gerade weil die mediale Verkultung von Jugend keinerlei Deckung in irgendeiner lebensgeschichtlichen oder sozialen Realität hat, erzeugte sie einen ästhetischen Mehrwert, der mit beliebigen Inhalten zum Zweck der Steigerung des Zustimmungswertes dieser Inhalte kombinierbar war. In diesem Sinn konnte der Fetisch 'Jugend' sogleich politisch instrumentalisiert werden. Nazi-Deutschland wurde im Zeichen der Verjüngung und des Aufbruchs, der Überwindung der morschen Republik und der Wiederherstellung der ebenso uralten wie ewig jungen Rasse der Germanen ideologisch formiert. Glaubt man gemeinhin, daß Jugend mit Differenz, Individualisierung, Eigensinn und Widerspruch verbunden sei, den Elementen also der Kritik des Überkommenen und Uniformen, so brachte, nicht ohne Einsicht in sozialpsychologische Mechanismen des Adoleszenten, die faschistische Propaganda ein anderes Jugendkonzept ins Spiel: rhetorisch verband sich in ihm unbändiger Aufbruchswille mit Gehorsamslust; rituelles Eintauchen in Mythisch-Uraltes wurde als Erneuerung begangen; die Ablehnung des zum Feind stilisierten rassisch oder politisch Anderen war die Kehrseite der Identifikation mit dem (als Aggressor larvierten) Führer; Orientierungssehnsucht wurde mit mächtigen Identifikationsangeboten erfüllt und zugleich mit Reflexionsverbot belegt; Gemeinschaftserlebnisse entlasteten vom Individuierungszwang; heroische Größenphantasien in choreographischen Massenspektakeln kompensierten die eigene Bedeutungslosigkeit; die Angst vor Verfolgung wurde in belohnte Lust auf Verfolgung gewendet; die adoleszente Unruhe und intellektuelle Zweifelhaftigkeit wurde durch essentiell scheinende Sinnordnungen und lebenskultischen Elementarismus überboten. Dementsprechend propagierte die Körperästhetik des Faschismus jugendliche Kraftnaturen – ob auf Propagandaplakaten, in den Plastiken eines Arno Brekers, Josef Thoraks, Ernst Segers [5] oder den anspruchsvolleren Körperchoreographien Leni Riefenstahls. Die gesteigerte Ästhetisierung des Regimes im Schema der Jugend war vollständig proportional der Mobilmachung der realen Jugendlichen als identifizierte Schwungmasse für die mörderischen Zwecke des Nationalsozialismus. Durchaus konnte die Propaganda hier an die Muster der nationalistischen Züge der Jugendbewegung anschließen.

Daß dies keine Eigentümlichkeit des Hitler-Regimes war, sieht man daran, daß sich alle Elemente der ideologische Verkultung von Jugend auch in der Stalin-Ära finden: auch hier wurden die uralten Züge von Schönheit, Heroismus, Ewigkeit und Opferwillen, womit die Jugend ästhetisch idolisiert worden war, zu einem Staats-Kult mit Stalin als allmächtigen, charismatischen Führer an der Spitze synthetisiert. Im Maße, wie 'Jugend' mythische und idolatrische Züge annahm, wurde gerade die Lebensepoche, die wie keine andere von der Wandlungskraft der Zeit bestimmt ist, entzeitlicht und zur Maske des Leviathan stilisiert. Das Unbestimmte und Nicht-Identische des Jugendlichen verkehrte sich ins Gegenteil und gab der totalen Bestimmung und uniformen Identität Raum, in dem sich pseudorevolutionäre Diktaturen entfalten. Je jugendlicher deren Gesicht, umso archaischer ihre Herrschaft; umso grandioser die rhetorische und ikonische Entfaltung von Jugendlichkeit, um so rückstandsloser der reale Einbau der Jugend in den Herrschaftsapparat. Niemals in der Geschichte wurde Jugend so mißbraucht und niemals zuvor hatte die Jugend ihr Recht auf gesellschaftliche Mitgestaltung in der jubilatorische Preisgabe an die Macht so rückstandslos aufgegeben. Niemals war die Jugend älter, verbrauchter und dem Tod näher verschwistert, weil niemals der Staat die verheißenden Züge der Jugend stärker besetzt hatte.

Entsprechend kam die Bundesrepublik ebenso wie die DDR vergreist zur Welt. Trotz aller Aufbau-Rhetorik hier wie dort, die sich immer der Attitüden des Jungen und Frischen bedient, waren beide deutschen Gesellschaften grauenhaft altbacken. Wenn es in der DDR, wie ihre Literatur bezeugt, eine wahrhaft veränderungsmotivierte Jugend gab, so wurde diese, wie die Literatur ebenso belegt, rabiat enttäuscht und in eine armselige und spießige Entwicklung namens 'realer Sozialismus' hineingepreßt, hinter dem sich die dürftigen Lebensbilder uralter Männer, so jung sie sein mochten, verbarg. Das hat tiefe Narben und Bitterkeiten hinterlassen. In der Bundesrepublik der restaurativen Phase war es unmöglich, jung zu sein. Darüber konnten ein paar importierte existenzialistische Gesten und ein wenig rebellischer Rock n' Roll nicht hinwegtäuschen. Es hat 23 Jahre, genau eine Kindheit und eine, unter fortgeschritten industriellen Bedingungen verlängerte Jugend, gebraucht, bis die Bundesrepublik 1968 das erste Mal nicht mehr übersehen konnte, daß es eine Jugend gab. Von ihrer Bewegung, die sich Studentenrevolte nannte, ging, entgegen den Intentionen, nicht viel politisch Wirksames aus, indes als eher unbeabsichtigte Folge eine Art kultureller Jungbrunnen: eine unhintergehbare Internationalisierung der bis dato noch nationalen Kultur auf allen ihren Ebenen und die weniger endgültige Erringung der Jugend als entwicklungspsychologisches, politisches, lebensweltliches, stilistisches und selbst ökonomisches Milieu eigener Ordnung. Davon hat die Bundesrepublik für die Bildung einer längst überfälligen modernisierten Gesellschaft erheblich profitiert, die schließlich überzeugend genug schien, um von jenseits der Mauer aus wünschenswert zu erscheinen. Die Vereinigung hat indes nicht zu einer durchaus möglichen Verjüngung der Gesellschaft geführt, sondern zum Gegenteil.
Es scheint nämlich, daß wir einem neuerlichen Veralten der Jugend beiwohnen. Zwar hat es seit den 60er Jahren so viele, sich ununterbrochen abwechselnde oder nebeneinander bestehende Jugendbewegungen, Jugendrevolten, Jugend(sub)kulturen gegeben wie niemals zuvor in der Geschichte. Unterdessen hat jede dieser kurzfristigen Wellen auch ihr Revival gehabt, in der Mode, im Musikstil, in der Lebensform, den Attitüden. Musikgruppen aus den 60er Jahren, aus damals Zwanzigjährigen gebildet, begehen als Fünfzigjährige ihre Wiederauferstehung und werden von Kids und ihren Großeltern gefeiert. Andererseits machen 15jährige als Sängerinnen, Schauspieler, Sportstars, Models Weltkarriere. Das fitness-Studio und die Disco sind die Kathedralen der Gegenwart, in denen ums Heil gerungen wird, auch wenn es nur um ein paar Stunden Präsentation der schön plastizierten Körper geht, die den tristen Alltag vergessen lassen sollen. Die Pop-Kultur, die Mode und der Film haben Jugendlichkeit unaufhaltsam globalisiert, wiederum aber auch ein ganzes Set von Jugend-Typen ausdifferenziert: von der in die Charts hochgemendelten Girlie-Band bis zur ewig jungen, vielfach gelifteten und runderneuerten Hollywood-Actrice, vom anarchisch wüsten Punk-Rocker bis zum 60jährigen Latin Lover in der chemischen Blüte seiner Kraft. So viel Jugend war nie. "For ever young" ist nicht nur ein Hit, sondern die Inscriptio für das Emblem der Epoche. Ob in der Computerwelt oder der Galerieszene – zweiundzwanzigjährige Unternehmer werden in Lifestyle-Magazinen porträtiert. In gewissen Fernsehsendern ist man so gnadenlos jung wie in der Werbebranche die Designer und art-directors, oder umgekehrt. Anderthalbmillionen schöne junge Menschen tanzen auf der Love-Parade – und angesichts einer viertel Milliarde D-Mark Umsatz, die sie in die Stadt bringen, wagt niemand mehr, den ekstatischen Stumpfsinn zu kritisieren, den wirklich zu begreifen die Wunden der Gesellschaft freilegen würde. Auch die Revers dieser Gesichter der Jugend werden vermarktet: die Arbeitslosen ohne Ausbildung, die Gewalt ausbrüten, die dreizehnjährigen Mörder und die halbwüchsigen Bürgerkriegskämpfer mit der Maschinenpistole im Arm – Medienkicks. So viel Jugend war nie.
Aber auch noch niemals wurde jede Attitüde, jede neue oder pseudoneue Regung, Expressivität oder Tonlage in irgendeiner jugendlichen Subkultur, beinahe noch in statu nascendi, vom weltweiten Netz des Scouts aufgespürt, von Verwertungsexperten kalkuliert und von Trendmachern medial aufbereitet. Jugend wird rückstandslos professionalisiert, in Zirkulation gebracht, verbraucht, recycelt, vermüllt. Je schneller der mediale Zugriff auf einen versprechenden Trend in einem ausgestorbenen Industrierevier von Detroit, um so schneller müssen Jugendliche, auf der Suche nach ihrer Form, anderswo einen neuen Ausdruck, ein neues Lebensgefühl kreieren, so daß wiederum sie um so schneller entdeckt und zum event gemacht werden müssen. Und so weiter. Jugend (und seit gut fünfzehn Jahre auch: Kindheit) heißt, als Markt entdeckt und als Promotionfaktor in allen anderen Marktsegmenten implementiert worden zu sein.
Jugendliche wissen dies längst. Und sie reagieren mit einiger Konsequenz darauf, indem sie auf die einzige Konstante in diesem Spiel setzen: das Geld. Wer keines hat, sieht ganz alt aus. Im Maße wie Jugend im glänzend schönen Wohlstand zur universalen Erfolgsattitüde geworden ist, wird die gewaltige, immer wachsende Armee der armen und chancenlosen Jugendlichen zum alten Eisen. Ohne Aussicht auf eigenständige Selbstreproduktion werden sie, Abhängige, die sie sind und bleiben, zugleich infantilisiert wie vergreist. Die neue Generation der Erfolgreichen spricht dagegen von einer ungerechten Belastung durch steigende Sozialleistungen und die Kosten für die Alten, die immer länger leben (wollen) und mithin dem jungen Four-Wheels-Driver auf der Tasche liegen. Der universale Aufstieg von Jugendlichkeit geht einher mit der Bildung der Drittel-Gesellschaft und der ihr strukturell innewohnenden Mitleidlosigkeit. Eine Gesellschaft, der die kulturellen Inhalte und sinnhaften Ziele fehlen, generalisiert mit der schöne Jugend eine leere Form, die von narzißtischen performances und egoistischen Ellbogen-Verhalten ausgefüllt wird. Die Hochglanz-Jugendlichkeit vernichtet alle anderen Alter. Sie anästhetsiert mit den fun-Ampullen, die sie verabreicht, jedes Mitgefühl für die, die nicht in sondern out sind, und jede Mitverantwortlichkeit an der Aufteilung der Welt nicht nach kulturellen Differenzen, sondern in die Internationale der Reichen und der Armen. Die Ikone der schöne Jugend, die einmal eine Gabe war, ist das Siegel des Erfolgs geworden. Dieser ist der Jungbrunnen der Gesellschaft. Im Verhältnis dazu ist jeder, der noch immer in den Adoleszenzkrisen herumdümpelt, welche die Psychologen einmal analysiert haben, hoffnungslos veraltet. Er lebt in der Geschichte seines Werdens, statt in der prolongierten Gegenwart seiner fitness. Die Jugend ist, indem sie universalisiert wurde, gnadenlos enteignet worden. Ihre Verewigung als Bild fällt mit ihrem Veralten als Lebenszeit zusammen.



[1] Jean Cocteau: Nachwort; in: Radiguet, Raymond: Der Teufel im Leib; Frankfurt/M. 1959, S. 158.

[2] Steinberg, Leo: The Sexuality of Christ in Renaissance Art and in Modern Oblivion; 2nd.Ed. Chicago 1996.

[3] Versteht sich, da§ sowohl David wie Herkules als Allegorien der staatsdienenden Tugend gedeutet wurden: da§ es aber um jugendliche Kraft, ja Gewalt geht, das zeigt unmi§verständlich die sog. Sala dei Cinquecento im Inneren des Palazzo Vecchio, in welchem sämtliche, rings an den Wänden aufgestellte Statuen geradezu eine Verherrlichung brutaler Gewalthandlungen und die monumentalen Schlachtengemälde Giorgio Vasaris einen Exzess von Gewalt darstellen. Natürlich hat der körperlich entspannte David von Michelanagelo seinen Mord schon hinter sich.

[4]   Oesterle, Günter (Hg.): Jugend – ein romantisches Konzept?; Würzburg 1997

[5] Vgl. Wolbert, Klaus: Die Nackten und die Toten des "Dritten reiches". Folgen einer politischen Geschichte des Körpers in der Plastik des deutschen Faschismus; Giessen 1982.