In: Rehabilitierung des Subjektiven. Festschrift Hermann Schmitz 65. Geburtstag. Hg. v. Michael Großheim u. Hans-Joachim Waschkies; Bonn 1993, S. 413–439.

Hartmut Böhme

Welt aus Atomen und Körper im Fluss.
Gefühl und Leiblichkeit bei Lukrez

1. Vorbemerkungen

Gefühle haben ihr Wetter. Das ist die Weise ihrer Präsenz und ihres Sich-Mitteilens. Um ihr Machtvolles und Umfangendes zu betonen, sollte man deutlicher sagen: Gefühle 'wettern und wittern'. Daran ist die Doppelheit festgehalten, daß Gefühle eine mal mehr konstante (klimatische), mal mehr rasch wechselnde (wettrige) Atmosphäre mit sich führen, wie auch, daß sie gespürt, nämlich ähnlich wie verströmende Gerüche 'gewittert' werden und als solche uns aufgehen. Gefühle sind Atmosphären. Diese sind Mächte, die, umgebungsräumlich, uns umgreifen und, richtungsräumlich, die einzelnen Gefühle, wie Heiterkeit oder Kummer, charakterisieren.

Hermann Schmitz hat innerhalb seines Werkes "System der Philosophie" im Band "Der Gefühlsraum" die durchwirkende Mächtigkeit und die Raumformen der Gefühle sowie im Band "Der Leib" das eigenleibliche Spüren einer umfassenden phänomenologischen Analyse unterzogen. In den philosophiehistorischen Partien dieser Bände zeigt Hermann Schmitz, daß ein angemessenes Verständnis von Leiblichkeit und Gefühlen im Zuge der ersten griechischen Aufklärung - die 'platonische Wende' -, dann auch in der christlichen Tradition und vor allem in den neuzeitlichen und modernen Subjekt-Theorien nachhaltig verdeckt und verdrängt wurde. Vereinfacht gesprochen: in der Philosophie- und Theoriegeschichte spiegelt sich ein zivilisatorischer Prozeß, in welchem die - interkulturell überraschend ähnlichen - Erfahrungen der andrängenden Macht der Gefühle und des Leibes gebrochen werden zugunsten der Auszeichnung, praktischen Behauptung und Selbstermächtigung eines 'Subjekts': dessen Leistungsstärke ist funktional darauf abgestellt, eben das Andrängende und Durchwehende gefühlshafter und leiblicher Dynamiken zu 'introjizieren', d.h vor allem, sie als endogene bzw. autonome Regungen zu verinnerlichen. Nur unter dieser Voraussetzung der 'intrapsychischen' Deutung können wir von einem Seeleninnenraum sprechen, der das Leibliche wie das Atmosphärische absorbiert.

Die Seele, so kann in Anlehnung an H. Schmitz gesagt werden, ist die Erfindung und zivilisatorische Durchsetzung einer absoluträumlichen Instanz im Dienst der Selbstermächtigung. Die Seele ist von Leib und Gefühlen abgezweigte Energie sowie vom Geist geborgte Form. Derart ist sie ein 'Medium, das die Botschaft ist': Herr im eigenen Hause zu sein; und sie ist das Paradoxon raumloser Räumlichkeit und leibloser Macht. Das ist nicht kulturkritisch zu beklagen, schon deswegen nicht, weil wir die zivilisatorischen Effekte der Introjektion und Subjektermächtigung nicht abschütteln können und wohl auch kaum auf ihre Leistungen verzichten wollen: sich abschirmen, sich distanzieren und wenigstens ein stückweit sich frei machen zu können von der durchwirkenden Macht der Gefühle und des Leibes, die wir nicht haben sondern sind.

Freilich sieht man an der heute gängigen "Emotionspsychologie", daß darin fundamentale Fehlinterpretationen von Leib und Gefühlen und damit des menschlichen Daseins herrschend geworden sind. Dies hängt durchaus mit dem progressivem Verlust einer Kultur der Gefühle und des Leibes zusammen. Eben darum ist historische Spurenlese angeraten: Erinnerung an (philosophische) Deutungen und (literarische) Kulturformen des leiblichen und emotiven Daseins, welche - im Freudschen Sinn - Verschüttetes wieder freizulegen imstande ist, ältere Schichten wiederholend rekonstruiert und einer Durcharbeitung der gegenwärtig fehlverstandenen Leiblichkeit und Emotionalität zuführt. Es versteht sich, daß ein solches Projekt nicht eine umstandslose, 'romantische' Rückkehr zu einer irgendwie immer schon vorhandenen und in ihrer Authentizität zurückzurufenden Ursprünglichkeit zum Ziel hat. Eine 'Natur' der Gefühle und des Leibes liegt hinter uns wie das Paradies: als Imaginäres und Verschlossenes, als Erinnerung an etwas, was es nie gab. Die untergegangenen oder verdrängten Deutungen und Kulturen des Leibes sind nicht Spuren einer Unmittelbarkeit, die entziffern zu können uns diese zugleich wiederschenkt. Das kulturelle Gedächtnis ist kein objektives Archiv, in welchem an irgendeiner Stelle die Wahrheit aufbewahrt liegt und auf seine Entdeckung wartet. Es ist vielmehr selbst geschichtlich, d.h. es wird immer wieder umgeschrieben und erhält seine illuminierende Kraft aus der Gegenwart, zumeist aus deren Nöten und Sehnsüchten. Für unsere Tage bedeutet dies, daß im Blick auf die immer radikalere Mediatisierung und Artifizierung des Daseins und der Lebenswelt und zumal im Blick auf die herrschende Front neurobiologischer und kognitionswissenschaftlicher Monopolansprüche im Feld auch des leiblichen und emotionalen Geschehens -, daß mithin eine Art kontrafaktischer (nicht etwa: kontraphobischer) Erinnerungsarbeit zu leisten ist, welche historische Kultur- und Theorieformen als unabgegoltene Möglichkeiten unseres Selbstverständnisses zur Geltung bringt.

Dies kann im folgenden weder vollständig noch theoretisch angemessen geschehen, vor allem nicht hinsichtlich der revisionierenden Kraft, die im Geschichtlichen nach wie vor zu entfalten ist. Vielmehr möchte ich die theoretisch grundlegenden und historisch von den Vorsokratikern bis zur Gegenwart geführten Rekonstruktionen von Hermann Schmitz um einen kleinen Baustein ergänzen - eben die poetische Philosophie des Lukrez. Sein Lehrgedicht eignet sich für diese Absicht, weil Lukrez erfahrungsnah, aber sprachlich fein differenziert denkt, ein relativ ausgearbeitetes Konzept von Leiblichkeit, Emotionalität und Wahrnehmung entwickelt sowie, verglichen mit fast allen Philosophen der Antike, strikt nicht-metaphysisch, also radikal immanent argumentiert.

Naturphilosopische Grundlagen

Der römische Dichterphilosoph Lukrez (ca.98/7 - 55 v.Chr.) hat in seinem Lehrgedicht 'De rerum natura', das Cicero postum herausgab, den geschlossensten Entwurf der epikureischen Philosophie hinterlassen, während der Hauptteil der Schriften Epikurs nicht erhalten ist. Cicero diskutiert in 'De natura deorum' die epikureische Philosophie zwar ausführlich, jedoch unter konkurrierenden stoischen Gesichtspunkten. Diogenes Laertius in seinem Kompendium "Leben und Meinungen berühmter Philosophen" (ca. 220 n.Chr) widmet Epikur ein ganzes Buch, dem wir die wesentliche Teile der überlieferten Philosophie Epikurs verdanken. Vermutlich ist es allein der Korrepetitur-Mentalität des Diogenes Laertius, der polemisch geschliffenen Eleganz Ciceros und der poetischen Kraft des Lukrez zu danken, daß die epikureische Philosophie nicht überhaupt untergegangen ist. Schon im griechisch-römischen Kulturraum haftet dem Epikureismus der Geruch zu zensurierender Häresie an. Für das Christentum bricht Laktanz, auf Cicero fußend, über Epikur und Lukrez den Stab. Dennoch hat Lukrez eine außerordentliche Wirkungsgeschichte gehabt, die kaum ansatzweise aufgearbeitet ist. So ist, beispielsweise, entgegen der gängigen Vorstellung, wonach die Renaissance-Philosophie vor allem neoplatonisch inspiriert sei, der Einfluß von Epikur und Lukrez im 16. Jahrhundert gar nicht zu überschätzen. Deutlich tritt er wieder hervor bei der Erneuerung des Atomismus im 17. Jahrhundert (Pierre Gassendi, der Lukrez neu herausgab), im französischen Materialismus des 18.Jahrhunderts und bei Goethe (dessen Freund Knebel Lukrez übersetzte), in der Deszendenztheorie zwischen Lamarck und Darwin, bei den Atomisten des 19. Jahrhunderts (z.B. bei John Dalton und besonders bei Karl Marx) und in unserem Jahrhundert schließlich bei Ernst Bloch. Wann immer, nach den Vorsokratikern, die Naturphilosophie Konjunktur hatte, spielte die epikureische Lehre und dabei zumeist das Gedicht des Lukrez eine bedeutende, wenn auch oft verborgene Rolle.

Lukrez knüpft, außer bei Epikur, hinsichtlich der Naturphilosophie bei den Vorsokratikern an, besonders bei Empedokles, und bei den antiken Atomisten (Leukipp, Demokrit). Wie Epikur geht Lukrez aus von zwei Grundpinzipien (duplex natura, I, 503): dem Vakuum (das Inane, das mit dem apeiron Leukipps und Demokrits übereinkommt) und den Atomen, den unsichtbaren, homogenen, undurchdringlichen, kleinsten Bausteinen der Welt (die Lukrez zumeist primordia rerum nennt). Vakuum und Atome bilden die subliminale, unveränderliche, mit sich identische und unendliche Sphäre dessen, woraus alles wird: die natura per se (I,506). Ohne daß dieser Begriff erscheint, kommt natura per se dem Hesiodschen Chaos nahe (Lukrez spricht auch vom wimmelnden Haufen, einem prästrukturellen Mischungszustand, I, 775f u.ö.). In einem planlosen Spiel emergieren aus den gepeitschten, gewirbelten, wimmelnden, durchzuckten, durchpulsten, gequälten Urkörpern (ex infinito vexantur percita plagis, I,1025) die abgegrenzten Elemente und schließlich die Ordnung der Dinge der sinnlichen Welt:


    Denn gewiß haben nicht durch Vernunft die Atome sich
    aus sich selbst mit scharfsinnigem Geist in Ordnung plaziert,
    wahrlich auch nicht vereinbart, welche Bewegung sie machten,
    sondern weil auf vielfache Art viele Samen der Dinge
    seit endloser Zeit schon, gestoßen von Schlägen
    und durch eigenes Gewicht bewegt, zu eilen gewohnt
    und sich auf alle Art zu einen und alles zu prüfen,
    was sie zu schaffen unter sich sie wären vereinigt,
    darum geschieht es, daß, die mächtige Zeit hindurch sich verbreitend,
    jeder Art Verbindungen sie und Bewegung erproben
    und am Ende so die sie vereinen, die plötzlich geschleucdert,
    häufig zum Anfang werden sodann gewaltiger Dinge,
    dieser Erde, des Meeres und des Himmels, des Stamms der Belebten.

    (V, 416-431; I, 1021-1030 u.ö.)

Schärfer kann der Gegensatz zum platonischen Demiurgen, zum fabricator mundi, der die Elemente und Dinge der Natur nach Gesetzen planender Vernunft und Schönheit einrichtet, nicht betont werden. Kein größerer Gegensatz auch ist denkbar zur stoischen Teleologie mit ihrer anthropozentrischen Überhebung: mundus propter nos conditus. Radikal grenzt Lukrez sich davon ab: nequaquam nobis divinitus esse paratam/ naturam rerum, V,198/9; vgl.V,156ff). Aus den chaotischen Gewalten des Zufalls werden nach endlosen Versuchen die Dinge gefügt in eine, qualitativ veränderte, konveniente Bewegungsform, welche eine langwellige, aus dem unendlichen Werden und Vergehen dennoch nur vorübergehend auftauchende Welt entläßt. Statt der pythagoräischen Mathematik Platons, der die Urkörper nach harmonischen Verhältnissen konstruiert, erscheint hier vage und noch nicht sagbar die Idee einer Mathematik, wonach aus einem dynamischen Chaos bei hinreichend langer Zeit und Versuchen (experiundo, sagt Lukrez, oder: omnia pertemptare, V,190) sich nach Gesetzen der Wahrscheinlichkeit relativ stabile Strukturen bilden. Solchermaßen profan bildet sich die unseren Sinnen schöne und wohlgeordnete Welt. Wenn ein Gott wäre, müßte er bei Lukrez ein Spieler sein, ein Chaos-Mathematiker.

Dem entspricht die absolute Souveränität der Natur, die im unendlichen Raum in unendlicher Zeit unendliche viele Welten, von sich aus und spontan (per se sponte), emergieren läßt, befreit von den mythischen Herren, den Göttern, die ohnmächtig in ihrem narzißtischen Glanz und beschämt von der maßlosen Kraft der Natur dastehen wie überflüssige und selbst ephemere Arabesken der natura libera (II,1090ff).

Die Natur der Dinge ist mitnichten ein apriorisches Sein, sondern beherrscht vom Stirb und Werde, dem ewigen Werden und Vergehen. Sein ist Diastase, ist ephemer, eine kontingente Verkörperung von Gestalten, eine 'Unterbrechung' im gepeitschten Strom der Materie. Nicht der Mensch, gerade noch das Tier steht in Rapport zu seiner Umwelt. Den Menschen aber schleudert die Natur aus der Mutter Schoß in eine Welt, die er mit traurigem Schreien begrüßt (V,223ff; so zuerst Empedokles: Diels/Kranz 31 B 118). Eine Welt, die sofortigen Tod bedeutete, wenn gegen dessen Umschlingung es dem Menschen nicht durch Selbsterhaltungsarbeit gelänge, sich sein flüchtiges Dasein zu erstreiten (V,200ff). Davon nimmt die 'tragische Weltauffassung' des Lukrez ihren Ausgang, das Denken im Angesicht des Todes. Dieser ist für die epikureische Naturphilosophie grundlegend, weil er das absolute Ende des Individuums herbeiführt, die definitive Auflösung im Grab der Natur, das zugleich der Schoß neuen Werdens ist. Der empedokleische Kreislauf der Geburten ist Epikur wie Lukrez als hilfreicher Trost versagt, aber auch als Strafe erspart. Vielmehr ist der Härte standzuhalten, daß in dieser Natur jedes, indem es ist, sogleich der Tod von dem (ist), was früher gewesen (I,793). Wir sind der Tod des anderen und unser Tod ist die Nahrung für fremdes Sein. Natur derart wahrnehmend, muß Ethik physiozentrisch werden, weil kein Orientungsdatum Bestand hat, das nicht aus einer Selbstplazierung des Menschen im überpersönlichen Kreislauf der Elemente hervorgeht. Um nichts kann es gehen als darum, in der von göttlicher Substanz entblößten Natur ein Selbstbewußtsein zu kreieren, das dem Bann der Todesfurcht nicht erliegt und dadurch erst den Raum sinnlicher Freude, den unser Leib beschließt, lebbar macht - auf einer Erde, welche esse videtur/ omniparens eadem rerum commune sepulcrum, V,258/9). Dieses Doppelantlitz der Natur, dem keine Philosophie sich so rückhaltlos aussetzt wie die epikureische, ist folgt unausweichlich einer Kosmogonie, der kein Schöpfungsplan, keine ethische oder ästhetische Ordnung zugrundeliegt, sondern welche alles Sein ein ephemeres Spiel der Materie sein läßt. Doch in dieser Konstruktion erhält das individuelle Leben einen ungeahnten Freiheitsspielraum. Das Blinde und Stumme des Zufalls läßt die Stimme des Individuums in ihrer unaustauschbaren Besonderung erscheinen. Gerade, wo kein apriorischer Sinn den Sinn des Individuums terminiert, wird das flüchtige Dasein zur Freiheitschance des Subjekts, das sich als "geschleuderte" Konfiguration des namenlosen Zufalls bewußt wird.

Das Allgemeinste ist die Atomstruktur der Dinge; weil es subliminal ist, gehört es zur "Heimlichkeit der Natur". Mit Schelling zu sprechen, sind die atomistischen Annahmen spekulative, nicht empirische Physik, naturphilosophische Prinzipien, die den Gesetzen der Natur zugrundeliegen. Letztere, die foedera naturae (I,586; II,302; V,924) formieren zwar die Ordnung des gegenwärtigen Kosmos und des Lebens, dennoch aber sind sie nicht ewige, sondern leges aevi: Gesetze für die Dauer der Dinge in diesem Äon, innerhalb dessen jedoch unverbrüchlich, ja, heilig. Gleichwohl gilt, daß die festen Atomkonfigurationen durch Konvenienz zustandekommen (II,712; wie bei Lukrez auch jede Gesellschaft 'durch Konvention' zwischen isolierten Individuen entsteht). Die moenia mundi (Mauern der Welt) sind nicht ewig, sondern werden im Atomsturm altern und zusammenbrechen, die Welt untergehen. Das Allgemeinste der Welt ist ihre Gebrechlichkeit (II,1112-1174: Weltuntergang; V,91-98: Zusammenbruch der machina mundi; V,351-375: Einsturz der moenia mundi).

Zugleich gehört es zur rerum natura, ist es also eine Naturtatsache, daß die Natur der Dinge aus sich heraustritt und sich zeigt: quippe suam quicque in coetu variantis acervi/ naturam ostendet mixtusque videbitur aer/ cum terra simul atque ardor cum rore manere (I,775-8). Dinge sind die aus Atomstrukturen heraustretende Konfiguration von Elementen. Diesem Allgemeinen emergiert das Individuelle, das in einem endlichen Rahmen mit sich identisch ist, vom Kleinstlebewesen über den Menschen bis zum Weltall und den Göttern; doch allen gemeinsam ist ihr Vergehen. Das Individuelle ist bei Lukrez die interimistische Unterbrechung des Stroms der immer sich metamorphisierenden Atom-Texturen (ein Gedanke, der bei Giordano Bruno, Goethe, Nietzsche und George Bataille wiederkehrt). Das Individuelle ist der Aufschub des Todes, der das Einzelne in das Allgemeine der Natur, den sub- und transpersonalen Strom der Materie zurückbettet. Für den Menschen bedeutet dies, daß der Tod zur absoluten Tatsache wird, die ihn als Individuum erst konstituiert. Das heißt: wir sind mit dem, was wir pränatal waren oder postum werden, nicht durch Erinnerung verbunden (das ist die Wende gegen Metempsychose und Anamnesis-Lehre; III,830ff). Gerade darum soll der Tod uns nichts angehen. Eine Kohärenz über Geburt und Tod hinaus gibt es zwar als kulturelles Gedächtnis, nicht aber als Erinnern der Seele an irgendeine Heimat im Reich der Ideen. Die Seele ist unbefiedert; als materialer Lebenshauch löst sie sich auf wie ein Körper, zerstiebend in der Gischt fremden Werdens. Erfordert ist ein doppeltes: die rückhaltlose Anerkennung der Sterblichkeit der Seele, die, im ganzen Körper verteilt, mit diesem untergeht (quare, corpus ubi interiit, periisse necessest confiteare animan distractam in corpore toto, III,798/9) - und zugleich die strikte Nicht-Beachtung des Todes, da dieser zu keinem Ereignis 'für uns' werden kann (nil igitur mors est ad nos atque pertinet hilum, III,830).

Daraus leitet sich die Ethik des guten Lebens ab. Dieses ist gut, wenn es naturgemäß ist. Die Hedoné ist physei arete, physikalistisch interpretiert: der Mensch lebt angemessen, wenn er sich im Flüchtigen seines Leibes so orientiert, daß dabei das Atomgefüge unversehrt gehalten wird (d.i. im wesentlichen: Abwesenheit von Schmerz, die ataraxía des Epikur). Man versteht, daß die Epikureer mit dem Rücken zur öffentlichen Politik leben (Lebe im Verborgenen: Epikur) und einen ethischen Wert auch nicht darin erblicken, wie die Stoiker eine Konvenienz mit der teleologischen Ordnung des kosmischen Ganzen herzustellen; ebenso abwegig ist es für Epikur und Lukrez, etwa wie die Platoniker am göttlichen Sein der Vernunft zu partizipieren oder ein vernünftiges Naturrecht in der Gesellschaft etablieren zu wollen.

Die Welt des Lukrez ist Naturgeschichte, worin die Kultur eingeschlossen ist, ohne Richtung und Ziel. Die Funktion dieser radikalen Aufklärung heißt nicht nur, dem Bann der Götter und der Macht der Mächtigen sich zu entziehen, sondern vor allem auch, der Ananke der Natur zu entkommen. Denn das universale Spiel des Zufalls läßt prinzipiell Zonen des Indeterminierten offen, worin spontan die Bildung neuer Konfigurationen möglich ist. Im Menschlichen heißt dies: in der Seele sind "Anstöße" zu neuen Bewegungen möglich; sie nutzt der Epikureer zur Optimierung des Grenzerhalts gegen die auflösenden Kräfte, die Boten des Todes sind. Und schließlich gehört es zu den indeterminierten Zonen der Natur selbst, daß in ihr die Möglichkeit der Selbsttötung offensteht. Daß nichts dem Menschen zu leben vorschreibt, eröffnet die ultimative Freiheit, das Absolute des Todes in eigene Verfügung zu bringen; Natur derart zu affirmieren (ihre Tendenz zur Auflösung der Form), ist das Opfer, das in eigenartiger Umkehrung eine Art Selbstschöpfung des Opfers im Moment seines Untergangs ist. Eine Freiheit, die Lukrez sich - vielleicht -genommen hat?

 

Leib - Seele - Gefühle

Fluxus und Tactus

Der Kosmos, die Dinge und die Leiber, so fest sie sein mögen, sind bei Lukrez fluidal und taktil aufgefaßt. Wenn später Kant die Kompaktheit der Körper durch eine vis inpenetrabilitatis charakterisiert sieht, so sind die texturae rerum bei Lukrez porös, durchdringbar, offen, nämlich rarus/rarafactus (locker, undicht, dünn, zerstreut, weit) und mollis (weich, geschmeidig, elastisch, lind, mild, zart). Dies ist eine Konsequenz der atomistischen Elementen-Lehre. Dinge sind Mischgewebe (textura mixta) der Elemente und deswegen zeigen sie eine poröse Struktur. ... nil esse, in promptu quorum natura videtur,/ quod genere ex uno consistat principiorum, nec quicquam quod non permixto semine constet (II, 583-585). Auch wenn Lukrez hakige, eckige, fest miteinander verwobene, struppige, verfilzte, kernige, dichte und harte Atomballungen (II, 408ff) kennt, so ist die Welt insgesamt wie jeder einzelne Körper, selbst härtestes Gestein, gleichsam wasserhaft. Mollis aquae natura ist die metaphorische Formel für die Natur der Dinge überhaupt. Denn so wie die Wasseratome rund und flüchtig sind und Wasser sich wie eine Masse runder Kugeln verhält, so ist auch der Kosmos und sind die Dinge strukturiert. Strömend, wallend, pulsierend, verfließend, wie ein Wirbel oder eine Welle zu interimistischer Gestalt sich formend und wieder auflösend, in immerwährendes Spiel der Form begriffen - fluidal eben ist das All. Ohne daß, wie bei Thales, die Welt aus dem Wasser entstanden wäre, ist das Wasser doch die analogia entis für alle Bildungen der Natur.

Und das All und die Dinge sind "taktil" oder besser: kontagiös. So ruft Lukrez aus: tactus enim, tactus, pro divum numina sancta,/ corporis est sensus, vel cum res extera sese/ insinuat, vel cum laedit quae in corpore natast/ aut invat egrediens genitalis per Veneris res. (II, 434-437). Die leiblich-sexuellen Konnotationen sind nicht zufällig. Der Lukrezsche Kosmos, bei dem alles durch Berührung sich vermittelt, durchdringt, sich bildet und auflöst, ist der erotischen Form des Wasserhaften nachgebildet (davon zehrt das endlose Feld der Wasser-Symboliken für das Erotische). Jeder Körper ist aus dem Gewoge der Atome und Elemente gebildet - aber die Atome selbst sind nach der Art des erotischen Fluidums gedacht - als mal zarte, mal harte Berührung. Die fluidale Phänomenalität des Wassers und der Berührungssinn bilden die sinnliche Form der Lukrezschen Welt. Nicht das Auge, sondern das Tasten, Berühren, Spüren im erotischen Schema des Liquiden bilden den Leitsinn des mundus sensibilis. Sind in der realen Welt nur einige Körper wirklich wässrig - corpora fluvida -, so bildet die Atomstruktur insgesamt doch einen Fluxus, einen flüssigen 'kosmischen Leib'.

Seele und Leib

In einem betonten Sinn ist bei Lukrez von der Elementarität leib-seelischer Bewegungen zu sprechen. Gefühle und Empfindungen sind die Weise, wie Natur im bzw. am Menschen hervortritt. Und die Natur der Gefühle ist nicht grundsätzlich anders als die natura rerum, nicht wesentlich verschieden davon, wie die Elemente sich zeigen oder wie es für die Tiere 'charakteristisch' ist. Dies ist für die heutige Gefühls- und Körperauffassung in der Tradition des Subjektivismus befremdlich. Wir haben uns der Lukrezschen Auffassung anzunähern wie einer fremden Kultur, worin dasjenige, worin wir heute unser Selbstsein am unmittelbarsten empfinden, gerade die Weise ist, wie Natur in uns präsent wird, eine Natur, die wir mit den Lebewesen ohnehin, aber auch mit den Elementen teilen. Das bestimmt die Sprache von Lukrez. Denn von Gefühlen oder Körpern sprechend, artikuliert er die Spuren (vestigia) der Natur im Menschen. Seine Sprache trägt dem commercium zwischen Psyche und Soma Rechnung, doch vor allem auch dem commercium zwischen Leibseele und Welt, welche durch die Haut zwar getrennt, durch die vielfachen Poren (per caulas corporis omnis, III,255) jedoch in ständigem Kontakt und Austausch stehen. Das ist wörtlich und metaphorisch gemeint. Das indessen, was uns als metaphorische Rede gilt, wenn etwa Gefühle und Empfindungen in naturförmigen Wendungen beschrieben werden, ist bei Lukrez gerade nicht metaphorisch, sondern 'der Natur der Gefühle gemäß'.

Poren sind nicht allein solche der Haut, durch welche Ausflüsse bzw. Imprägnierungen geschehen; sondern diese Poren sind das Modell dafür, daß der Körper insgesamt porös ist - ein feines und zartes Gewebe (textura rara et tenera), das von seinen Umgebungen auf vielfache Weise durchdrungen wird. Derart werden die zarte Natur des Geistes (tenvem animi naturam) geweckt und die Empfindungen (sensus) erregt (IV, 730).

So teilen wir mit Körper, Seele und Geist die basale Struktur des atomaren Kosmos, der Erde, aus der alles geboren wird, die alles nährt (terra eius nutrix est) und die allem das Grab ist (V,260; vgl. V,805ff; II,991-1006): omnia migrant, omnia commutat natura et vertere cogit (V,830/1). Eine solche Auffassung liegt auch den gewaltigen "Metamorphosen" des Ovid zugrunde.

Das Gesetz des Fluidalen und Metamorphotischen heißt indessen, daß dasjenige, was geändert aus seiner Form hervorgeht, den Tod dessen bedeutet, was früher war (II, 755/6). Zum Leben der Natur wird Stoff benötigt. Nichts steht jenseits des nutritiven Kreislaufes, der nährt und verschlingt. Im Reich der Natur gibt es keinen privilegierten Besitz an Leben, sondern das Leben ist da zum Gebrauch aller Lebewesen (vitaque mancipio nulli datur, omnibus usu, III, 971). Der Tod unterhält die metamorphotische Kraft des Lebens über die Unterbrechungen hinweg, welche durch die Diastasen der individuellen Körper gebildet werden. Der Grundatz: mors omnia aequat ist der Grund für die egalitäre Auffassung des Lebens.

Für den Menschen heißt dies: im Tod des Körpers werden Geist und Seele aus ihrem Verband mit dem Leib entknotet. Sie entweichen wie Hauchatome durch alle Poren und verstreuen sich im differenzlosen Meer der Atome, aus dessen Unendlichkeit immer neue Gestalten sich konfigurieren.

Während das wachsende Leben sich davon erhält, daß der Zufluß formerhaltender Materie größer ist als deren Abfluß, so ist das Altern eine Art Lockerwerden, Abschmelzen, Ausströmen der vis vitalis. Und das natürliche Grab des Menschen ist seine Verstreuung in die vier Elemente. Tod ist wie das Verfliegen eines Duftes im Wind (III, 455ff, 576ff). Doch ein solches Bild ist nicht schöner, natürlicher oder angemessener als das Verfaulen, Gefressenwerden, Verbrennen, Zerstückeln (darum polemisiert Lukrez gegen Begräbniskult und die Sorge um den Leichnam, III,830-930). Im Tod werden wir zum Stoff des allgemeinen Lebens. Ventus vitalis (Lebenshauch) und calor vitalis (Lebenswärme), welche die Kraft zum Grenzerhalt individueller Körper darstellen (III, 128), sind nicht Besitztitel des Menschen, nicht Medien seiner Autonomie oder Souveränität, sondern Belehnung durch die kommune Lebenskraft der Natur. Mors omnia praestat vitalem praeter sensum calidumque vaporem (III,214/5) -: d.h. jenseits ihrer gibt es weder für Seele noch Geist ein Weiterleben.

So sind die Lebenswunden (vulnera vitae) und das Todesgrausen (formido mortis, III,64/5), die nach Lukrez das Motiv zu so viel falschen Tröstungsphilosophien abgeben, nur durch Naturphilosophie (naturae species ratioque, III,93, I,148) angemessen zu denken. Der Wunsch nach Unsterblichkeit ist ein unerfüllbares Begehren, durch welches versäumt wird, das Hier und Jetzt des Lebens zu genießen und mithin lebenssatt zu sterben. Dies ist der Kernpunkt der epikureischen Lebenslehre - und Lukrez läßt sie durch die personifizierte Natur, in somit autorisierter Rede, verkünden:


    Weg mit den Tränen, du Schlund, und bezähme das Heulen!
    Alles, was köstlich im Leben, hast du gehabt und verwelkst nun.
    Aber weil stets du begehrst, was nicht da, was da ist, mißachtest,
    ist unvollendet dir und unhold das Leben entronnen,
    und es stellte dir wider Erwarten der Tod sich zu Häupten,
    ehe du satt und erfüllt von den Dingen zu scheiden vermöchtest.

    (III, 954ff)

Hier finden wir das Motiv für die retreatistische Lebensklugheits-Lehre der Epikureer. Ruhm, Ehrgeiz, Größe - das Sich-Verzehren nach Überleben sind Verkennnungen, wodurch der Leib, der wir in einem aboluten Sinne sind, nicht anerkannt wird. Dies ist ein Hauptpunkt der Philosophie Epikurs. Indem man dem Fleisch, mit dem zusammen die Seele und der Geist werden, wachsen, altern und sterben, entfliehen will, um jenseits davon sich einer Transzendenz zu versichern, wird gerade das verdorben, was unsere Lebendigkeit ist. Lukrez weiß, daß eine zwanghafte Gier nach Leben uns eben dieses Leben wahrzunehmen hindert (quae mala nos subigit vitai tanta cupido?, III,1077). Diese cupido vitai ist Effekt der Todesangst und des anankastischen Wunsches, den Tod zu überleben - also in uns selbst etwas auszumachen, was unsterblich sei. Darauf das Leben zu setzen, ist vabanque ohne Aussicht, ein Versäumen des Möglichen, das im Ephemeren des Existenz liegt. Und deswegen weckt das Gedankenexperiment des Freitods das Bewußtsein der wirklichen Bestände des Lebens und befreit von dem quälenden Durst nach einem imaginären Leben (III, 1080-84). Die Mauer, an der das Denken sich die Stirn blutig schlägt, wird von der Einsicht gebildet: quare, corpus ubi interiit, periisse necessest/ confiteare animam distractam in corpore toto (III,798/9). So kommt es darauf an, von der platonischen Idee der unsterblichen Seele Abschied zu nehmen. Unsinn ist, daß die Seele im Körper eingekerkert sei, um nach dem Tod daraus befreit zu werden. Die psychosomatische Einheit lehrt uns, daß die Seele mit dem Leib entstanden ist, mit ihm verwoben lebt und so auch mit ihm stirbt (III, 510-712). Davon nahm Epikurs Konzept der Eudaimonía (Glückseligkeit) seinen Ausgang. Es nimmt nicht wunder, daß darin das Christentum die Stimme der Ketzerei vernahm.

 

Anima und Animus

Lukrez unterscheidet animus und anima. Die Natur beider (natura animi atque animae) ist körperlich (III,161/2). Sie bilden untereinander (inter se) und mit den Organen einen Verbund (coniunctio, III,136): unam nuturam, die eine Natur des Menschen. Das Zusammenspiel des Seelischen ist nicht möglich sine tactu (III,165). Daß die Seele sehr fein und aus überaus kleinen Körperchen (persubtilem atque minutis perquam corporibus factum, III,179/80) gebildet ist, erklärt die fluidale Form aller seelischen Prozesse. Anima, Animus und Leib sind kopräsent (ein immerwährendes consentire, III, 169); sie stehen im Verhältnis der Wechselwirkung, der Mitbewegung und influenzierten Sensibilität. Die poetischen Gleichnisse für die feinteiligen Seelenbewegungen verdeutlichen dies: namque movetur aqua et tantillo momime flutat/ quippe volubilibus parvisque creata figuris (III,189/90). Oder: namque papaveris aura potest suspensa levisque/ cogere ut ab summo tibi diffluat altus acervus (III,196/7). Nichts, will Lukrez sagen, ist sensibler als die subtilen Wechselwirkungen von Leib und Seele. 'Mitbewegung' heißt: noch so geringe Erregungen des animus empfindet der ganze Leib mit; umgekehrt ziehen körperliche Sensationen die Seele in Mitleidenschaft (Vgl.III,157ff).

Sehr schön macht Lukrez dies am Schmerz deutlich. Er durchbohrt uns, eine Leibenge entsteht, eine Raumnot - so daß locus vitae atque animae fehlt (III,254); darum will die Seele aus den Poren entfliehen (was den Tod bedeutete), wenn nicht die Haut (die Leibgrenze) die Fluchtbewegung der Seele aufhalten würde und den Lebenshauch interior binden. Durch dieses "gehinderte Weg!" (Hermann Schmitz) wird der gesamte Leibseelenraum mit Schmerz erfüllt. Derartige Beispiele phänomenologisch genau erfaßter Empfindungen finden sich bei Lukrez zuhauf - durchweg in einer Sprache, welche die Leibform der Seele und den materialen, naturförmigen Charakter der Gefühle erfasst (vgl. z.B. die eindrucksvolle Schilderung von Trunkenheit, Krankheit und Geistesverwirrung, III,476-509).

Die leibseelische Empfindungseinheit ist aus so feinteiligen Atomen gewebt, daß sie sogar durch imagines und simulacra bewegt wird. Diese würden freilich wie feiner Rauch zerstieben, wenn sie nicht im Leibraum ein Medium und einen Speicher fänden. Im ganzen Körper, so spüren wir nach Lukrez, währt die - freilich nicht gleichmäßig verteilte - Empfindung der Seele (anima); und umgekehrt ist der ganze Körper beseelt (et quoniam toto sentimus corpore inesse/ vitalem sensum et totum esse animale videmus...III, 634/5). Auf nichts legt Lukrez größeren Wert als darauf, daß animus, anima und corpus in wechselseitig aufeinander angewiesenen Kommunität bestehen und sie nur um den Preis des Todes auseinandergerissen werden können:


    Denn sie hängen unter sich in gemeinsamen Wurzeln zusammen
    und lassen sich offensichtlich nicht ohne Vernichtung zerreißen.
    Genauso wie es unmöglich ist, den Duft aus den Weihrauchklümpchen
    zu reißen, ohne daß er <=der Weihrauch> unterginge,
    ist es auch unmöglich, die 'Natur' von Animus und Anima
    aus dem Körperganzen zu ziehen, ohne daß alle vernichtet würden.

    (III,325-330)

Wie nun ist dieser Verbund ab origine prima, diese unam naturam hominis, genauer qualifiziert? - Um dies verständlich zu machen, bemüht Lukrez eine elementenförmige Fassung der Empfindungen. Er unterscheidet vier Naturen der Seelenbewegung: windähnliche, wärmeähnliche, luftähnliche - und eine vierte, namenlose Natur (east omnino nominis expers, III,241): sie ist das Zarteste und Rascheste und schafft durch die Glieder hindurch Sinnesbewegung. Im Verborgenen, auf der tiefsten Ebene des Fleisches ist die vierte Natur also dessen Bewegbarkeit (vis mobilis). Um ihren fundamentalen Charakter zu betonen, nennt Lukrez sie auch anima animae. So wie in Gliedern und Leib vis animi und potestas animae vermittelt sind, so ist die vierte Natur Seele der ganzen Seele und herrscht im Ganzen des Leibes:


    So wie gewöhnlich in jedem Fleische der Tiere sich finden
    Farbe, Duft und Geschmack, und dennoch zusammen aus allen
    diesen bewirkt ist ein einziger vollendeter Umfang des Leibes,
    so schaffen Wärme und Luft und des Windes verborgene Macht auch
    eine Natur, vermischt, im Vereine mit jener geschwinden Kraft,
    die der Regung Beginn aus sich den anderen zuteilt,
    woher zuerst im Fleisch entsteht die Sinnenbewegung.
    Denn diese Natur ist ganz tief verborgen und im Grunde,
    nichts liegt tiefer als sie im Innern unseres Leibes,
    und sie selber ist ihrerseits wieder die Seele der Seele.
    Ebenso wie in unseren Gliedern und ganzem Leib versteckt
    vermischt sind der Seele Kraft und des Lebens Macht, (...)
    so auch ist die Kraft, bei der dir der Name mangelt, hergestellt
    aus kleinen Körperchen, verborgen, und doch ist sie gleichsam
    die Seele der ganzen Seele und herrscht im ganzen Körper.

    (III, 266-281)

Will man dies abstrakter, doch nahe bei Lukrez, ausdrücken, so ist anima animae das Prinzip der Empfindlichkeit (sensibilité), die Einheit, Integration und Kohärenz des eigenleiblichen Spürens, der Körpergefühle, der Sinneseindrücke, der seelischen Empfindungen und der Phantasien. Die vierte Natur ist der Grund des Selbstbewußtseins, sofern dieses anders denn als leibliches Bewußtsein nicht gedacht werden kann (H. Schmitz).

Die multae vis der Empfindungen treten zur Einheit des Leibes zusammen (multae vis unius corporis, III,265) durch die vermittelnde Kontaktkraft zwischen Sinnenleib (anima) und Gefühlszentrum (animus). Die drei Arten von Gefühlen, die Lukrez terminologisch unterscheidet, sind die 'schaudernden Gefühlswallungen' (sie sind windförmig), die leidenschaftlichen Ausbrüche (sie sind feuerförmig) und die friedlichen Stimmungen (sie sind luftförmig). Zwischen den 'Arten' existieren vielerlei Mischungen.


    In ähnlicher Weise sind notwendig Wind, Luft und Wärme
    in den Gliedern untereinander gemischt und wirken zusammen,
    und das eine tritt mehr vor andern zurück oder auch hervor,
    damit aus allen ein wahrhaft Einiges zur Erscheinung kommt,
    so daß Wärme und Wind nicht abgesondert sind und abseits davon die Macht
    der Luft die Empfindung zerstören und entzweigerissen auflösen.
    Auch hat die Seele Glut, die sie aufnimmt, wenn sie im Zorn
    aufwallt und wilderes Feuer aus den Augen sprüht.
    Ebenso hat sie viele kalte Winde, Begleiter des Grauens,
    der im Körper das Schaudern erregt und aufschüttelt die Glieder.
    Ferner ist noch in ihr der befriedete Zustand der Luft,
    der bei ruhigem Herzen herrscht und heiterem Ausdruck.
    Glühendes haben indes mehr die, deren grimmige Herzen
    und stürmischer Sinn leicht zornig in Wallung geraten:
    von deren Art vor allem ist die reißende Kraft der Löwen,
    die meist, brüllend, die Brust fast sprengen mit donnernder Stimme
    und die Fluten des Zorns nicht fassen können im Herzen;
    windhaft dagegen ist mehr das kühle Gemüt der Hirsche
    und rascher regen sich über den Leib hin frostige Hauche auf,
    die in den Gliedern einen zitternden Aufruhr bewirken.
    Die Natur der Rinder wiederum ist mehr nach der friedlichen Luft
    und nie regt sie zu sehr des Zornes qualmige Fackel auf,
    tief entzündet, den Schatten blinder Finsternis verströmend,
    noch läßt sie das Geschoß des kalten Entsetzens erstarren;
    zwischen beiden ist sie: den Hirschen und den grimmigen Löwen.
    So auch ist das Geschlecht der Menschen ...

    (III,282-307)

Die Archetypen der Leibgefühle zeigen nicht nur die Charaktere elementarer Natur (Wind, Feuer, Luft), sondern auch solche der Tiere. So nah steht Lukrez noch der Natur und den Tieren, daß er die Gefühle des Menschen nicht an seinesgleichen (als humanes Privileg und im Zusammenhang sozialer Interaktion) entwickelt, sondern gerade an dem, was der Mensch nicht ist: an Wetter, Elementen, Tieren lernt der Mensch, was er fühlt. Oder auch: sich so oder so fühlend, zeigt der Mensch den 'Charakter' eines Hirsches oder die Weise feuriger Eruption. Leibgefühle tragen die Physiognomien von Naturerscheinungen und gehen dem Menschen an diesen erst auf. Keineswegs ist dies bei Lukrez 'metaphorisch' gemeint: so als projiziere der Mensch seine Gefühle auf Natur oder als zwänge ihn der sprachlose Charakter des Leibes und der Empfindungen, im Prozeß ihrer Versprachlichung, zu Natur-Metaphern. Vielmehr sind, weil Tier- wie Menschenseele elementaristisch gedacht sind, beider Gefühlsnaturen notwendig von der Weise der Elemente.

So wie Lukrezin seiner Lehre der Porösität die Geschlossenheit der Dinge auflöst, um zur Geltung zu bringen, daß die Dinge immer schon über sich hinaus sind - (in ihrem Sich-Zeigen sind sie, was sie sind, als dem Wahrnehmen sich Darbietende) -: so auch öffnet Lukrez den 'Seeleninnenraum', der in der platonischen Anthropologie im Zuge der Selbstermächtigung der Personalität (H.Schmitz) konzeptualisiert worden war. Lukrez legt deswegen bei seinen Schilderungen großen Wert darauf, Gefühle immer so zu versprachlichen, daß sie als vestigia naturae erscheinen. Denn als fühlende sind wir persona im alten Sinn: darstellendes Medium der elementaren Dynamiken, die durch uns hindurchziehen und in den Gefühlen vorübergehende Physiognomien annehmen.

Hier kann die weitreichende Perspektive nur angedeutet werden, die von diesem Konzept des Elementen- und Wettercharakters der Gefühle ausgeht. In seinen 'Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit' (1784-87) erinnert Herder an den Mangel an Kenntnissen, der daran hindert, eine Klimatologie aller menschlichen Denk- und Empfindungskräfte zu entwickeln. Durchaus auf der Linie von Lukrez (Herder selbst verweist in diesem Zusammenhang zurecht auf Hippokrates) führt er aus:

    Und da der Mensch keine unabhängige Substanz ist, sondern mit allen Elementen der Natur in Verbindung stehet; er lebt vom Hauch der Luft, wie von den verschiedensten Kindern der Erde, den Speisen und Getränken: er verarbeitet Feuer, wie er das Licht einsaugt und die Luft verpestet: wachend und schlafend in Ruhe und in Bewegung trägt er zur Veränderung des Universums bei und sollte er von demselben nicht verändert werden? Es ist viel zu wenig, wenn man ihn dem saugenden Schwamm, dem glimmenden Zunder vergleicht; eine zahllose Harmonie, ein lebendiges Selbst ist er, auf welches die Harmonie aller ihn umgebenden Kräfte wirket.

Dieser Ansatz beim Wettercharakter der Gefühle - und im Wetter haben wir das Phänomen, worin alle vier Elemente in ständigem Wechselspiel stehen und synästhetisch auf den Menschen wirken - wird heute z.B. von Hubert Tellenbach oder Hermann Schmitz vertreten. Aus dem "Elementarkontakt" mit den Atmosphären entwickelt Tellenbach eine Phänomenologie der Sinne. H. Schmitz entdeckt im eigenleiblichen Spüren den Wettercharakter der Gefühle: sie selbst haben atmosphärischen Charakter. In der Klima-Medizin wird dem, in engen kausalgenetischer Grenzen, dadurch Rechnung getragen, daß man anthropotrope von metereotrope Effekte des Wetters unterscheidet: einmal die Wirkungen des Klimas auf den Menschen, zum anderen die Reaktion des Menschen auf das Klima. Immerhin, soweit dies vom Wetterförmigkeit des Gefühle entfernt ist - sie gilt der Emotionspsychologie durchweg als Projektion -: daß Wetter und Klima - die Elemente - für Gefühlsleben und Gesundheit, ja für die Kulturentwicklung plastische Kraft haben, ist unbestritten. Eine historische Semantik der Gefühle könnte jedoch eröffnen, was für Lukrez grundlegend war: Gefühlsqualitäten erschließen sich wesentlich über die Elementenförmigkeit, die sie in der Sprache erhalten. Dies ist ein Wink für eine Kulturgeschichte des Wettercharakters der den Gefühle selbst.

Das bedarf wenigstens andeutender Erläuterungen. Zunächst ist zu beobachten, daß die Sprache der Gefühlsausdrücke zwischen elementaristischen bzw. physiologischen und emotiven bzw. physiognomischen Terms scheinbar beliebig wechselt. Das Verb ferveo (kochen, sieden, glühen, hin- und herwogen, aufwallen) charakterisiert den Aktionsaspekt von Zorn in einer dem Überkochen entsprechenden Dynamik. 'Aus Zornesaugen sprühendes Feuer' zeigt den Zornigen in der eruptive Abfuhr suchenden Überhitze, während der vom Zornesblick Getroffene sich verbrannt fühlt. Sehr schön erschließt der als Schauder über den Leib hingehende kalte Wind die Erscheinungsweise des Grausens, welches das Gefüge des Leibes (artus bezeichnet die 'zusammengefügten' Glieder) erzittern läßt. Der Zorn des Löwen akzentuiert, daß Zorn etwas Sprengendes hat, über die Grenzen des Körpers Hinwegstürmendes; raptischer Zorn reißt den Körper über sich und aus sich heraus, als sei der Leib zu 'klein', um die auf- und überwallende Flut des Affekts noch begrenzen, absorbieren und interiorisieren zu können: Zorn ist Feuersturm und Vulkanausbruch. Interessant ist, daß ardor sowohl 'Feuer' wie auch 'Leidenschaft' oder 'Liebesglut' bezeichnet: Elementenqualität und Befindlichkeit haben denselben Term. So ist auch formido zugleich Seelenbewegung (Schreck/Furcht) wie leibliches (Er-)Schauern, aber auch das 'Schreckbild', das - sympathetisch/apotropäisch - Schauer und Schreck evoziert. Präzise erfaßt Lukrez auch, daß das Feuer des wilden Zornes nicht hell macht, sondern rußt und schwärzt, den Zornigen in doppeltes Dunkel schlagend: er wird blind vor Wut und sieht nichts in den schwarzen Schatten, in die alles gehüllt ist. Denn dies Dunkel ist im Raum - der Zornige strömt es aus wie eine Atmosphäre (wobei Lukrez mit suffundens absichtsvoll einen medizinischen terminus technicus benutzt). Zutreffend ist, daß Entsetzen und Schrecken kalt erstarren lassen, erfrierend wie Eis oder starr wie Stein (in welche der Schreck verwandelt - s. den versteinernden Medusen-Blick). Scham wird als glühend machender, übergießender Schwall gedeutet. Auch die Plötzlichkeit des Schrecks, wie ein Geschoß einschlagend, 'festnagelnd' und fixierend, ist gut erfaßt. Die Beipsiele ließen sich beliebig fortsetzen.

Neben Feuer und Luft, so erkennt man, kommen Wasser und Erde sowie die aristotelischen Elementenqualitäten in der Sprache der Gefühle bei Lukrez selbstverständlich vor. Festzuhalten ist ferner, daß Lukrez hinsichtlich der Elementarität der Empfindungen ausdrücklich davon spricht, daß die Elemente in der Regel "untereinander gemischt" und "zusammenwirkend" sind. Die Seele (anima) ist Feuer, Wasser, Erde und Luft zugleich; die absolute Dominanz eines Elements indiziert eher einen, medizinisch gesehen, pathologischen Zustand.

Die Wasserförmigkeit von Seelenbewegungen ist nicht eigens zu betonen, wenn Lukrez die fluidale Struktur als für alle Körper geltend behauptet hat. Erdig ist der Mensch ohnehin als terrigenus (V,791), als Erdgeborener. In Erde wurzelt und vergeht der Mensch, ist also ihr Teil und, seiner Natur nach, darum ihrer Art: chthonisches Wesen. Die Lebendigkeit des Körpers jedoch besteht in Feuchte und Wärme. Die Textur des Leibes ist ständig durchströmt von Zu- und Abflüssen, ein nutritiver Kreislauf auf allen Ebenen des Lebens vom Essen bis zum Zeugen, von den Wahrnehmungen bis zu den Simulakren. Das "Weiche" ist bei Lukrez das Medium des Lebens (eine Philosophie des Weichen wird es bis zu C.G. Carus nicht wieder geben). Je feinteiliger jedoch der Stoffwechsel der Atome, umso sensibler die Lebensregungen: von den Trieben zu den Empfindungen, zu Wahrnehmungen, Gefühlen, Wünschen bis zu Bildern (phantásmata); umso ähnlicher werden sie den Elementen Feuer und Luft, ihren Bewegungsarten und Qualitäten. Alle Lebensbewegungen zeigen dabei die Räumlichkeit und Dynamik von Witterungen.

Wahrnehmung und Bildfluss

Lukrez' Wahrnehmungslehre geht auf die Vorsokratiker (Empedokles, Demokrit) sowie auf seinen Lehrer Epikur zurück. Aus den Elementen schuf Aphrodite unsere "unermüdlichen Augen", lehrte Empedokles (Diels/Kranz 31 B 86). Aristoteles berichtet, daß die alten Philosophen, namentlich Empedokles, Denken und Wahrnehmung für dasselbe gehalten hätten - und jede Wahrnehmung komme danach durch Berührung zustande: "etwas höchst Seltsames", wundert sich Aristoteles. In der Tat: Empedokles, Demokrit, Epikur denken die Wahrnehmung so, daß von der Oberfläche der Dinge ein ununterbrochener Strom feiner Abdrücke abfließt und durch das poröse Auge sich in uns überträgt. Dieser selbständige Bilderstrom macht das Sehen zu einer Kontaktwahrnehmung (was Aristoteles denn auch moniert: als seien alle Sinne Derivate des Tastsinns). Die Bilder machen sich selbst, lösen sich von den Dingen, aber auch von den seelischen Bewegungen ab, und füllen den Menschen im Wachen wie Schlafen mit Vorstellungen (z.B. Empedokles: Diels/Kranz 31 B 89, A 87). Lukrez belegt diese Bilder - je nach Herkunft - mit den Ausdrücken: simulacra - effigei - figurae - imagines - texturae/textus.

Nach Empedokles sind wir aus Elementen gemischt wie die Dinge. Und so nehmen wir die Dinge wahr in dem Maß, wie sie auf Verwandtes in uns treffen. Im Innern des Auges ist das Feuer, umgeben von Wasser, Erde und Luft. Aus dem Auge wird das Feuer als Sehstrahl auf die Dinge entsandt und so entsteht das Sehen. Umgekehrt fließen von den Dingen feine Abdrücke ab: wenn sie auf die Poren der Sinnesorgane passen, so werden sie wahrgenommen; passen sie nicht, wird nichts wahrgenommen. So fließt zwischen Leib und Dingen nach der Passung der Poren ein ständiger Strom des Gleichen zum Gleichen. Denn mit der Erde (in uns) sehen wir die Erde, mit dem Wasser das Wasser, mit der Luft die göttliche Luft, aber mit dem Feuer das vernichtende Feuer, mit der Liebe die Liebe, den Streit mit dem traurigen Streite.

Bei Empedokles ist alles wahrhaft durchlässig. Seine mediale Sinnesphysiologie ist Modell alles Lebendigen. Wenn derart sich alles durchdringt, sich nach Verwandtschaft verkoppelt, Gleiches an Gleiches sich anschließt, die Energie der Verkörperungen noch über die Grenze des Todes hinwegschwappt, ständig ein Gleiten des Einen ins Andere geschieht, bis der Kosmos ein pulsierender Strom von Metamorphosen wird -: dann sind wir gewiß weit entfernt von dem, was den Kern abendländischer Rationalität ausmacht. In der vorsokratischen Welt sind die Dinge und die Wahrnehmungen eine Art von Vermischung und Durchdringung, ein stoffliches Durchnässen, wässrige Benetzung und Imprägnierung.

Auch in diesem Punkt liefert Lukrez die geschlossenste Theorie der Wahrnehmung auf der vorsokratischen Linie zwischen Empedokles und Epikur - in Kenntnis von Platon und Aristoteles, die im Mißtrauen gegen die Sinne eine von diesen unabhängige Theorie des Erkennens entwickelt hatten.


    ...es gibt das, was wir die Phantome (simulacra) der Dinge nennen;
    wie Häutchen (membranae), die sich ganz von den Körperdingen losgerissen haben,
    fliegen sie hierhin und dorthin im Luftraum (per auras).

    (IV,30-33)

Vom äußersten Rand der Dinge werden die Bilder und feinen Gestalten (rerum effigias tenuisque figuras,IV,42) abgehoben; sie erfüllen umherschweifend den Raum in alle Richtungen, die Luft als Transmitter ihrer ultraschnellen Bewegung nutzend. So ist die ganze Welt erfüllt von panoramatisch entströmenden zarten Bildern, die Lukrez, ausdrucksuchend, als eine Art Membran oder Rinde oder Rauch oder Hitze faßt (IV,51/55/56: membrana, cortex, vapor, fumus). Von Natur her entäußern sich die Dinge in Bildern, sichere Spuren ihrer Formen (formarum vestigia certa, IV,87) aussendend, den zarten Abhub der Dinge. Alle Körper sind in der Weise eines ständig sich um sie herum Mitteilens - die simulacra, figurae, imagines sind die Ekstasen der Dinge. Alles ist, und ist zugleich das Medium seiner Darstellung. Die Welt ist auf Wahrnehmung hin geordnet (aistheton): darum das Urvertrauen Epikurs und Lukrez' in die Sinne (IV,495ff).

Die fluidal-korpuskulare Ausstrahlung bildet eine Sphäre der Berührung und zarten Durchdringung. Auch die Wahrnehmungswelt des Lukrez ist taktil. In der Wahrnehmung begegnen sich Wahrgenommenes und Wahrnehmendes in der sinnlichen Konkretheit allerzartester Berührungsreize, in dennoch größter Vielfalt und mitunter intensiver Heftigkeit. Der Verb-Bestand macht dies deutlich: Bilder ergießen sich, schweifen umher, werden ent- und ausgesendet, verströmen, fließen ab, werden geschleudert, geschüttet, verstrahlt, ausgestrahlt, entströmen, heben sich ab, verschwimmen, werden ausgehaucht, gleiten, wogen, zerstieben, stoßen, schlagen, treiben. Die Simulakren bewegen sich in maximaler Geschwindigkeit, sie sind instantiell, in einem Nu (in puncto temporis, IV,164,214) mit den Dingen selbst kopräsent. Dies ist in der Lukrezschen Welt die absolute Geschwindigkeit. Die Bilder sind von solcher Lockerheit und Zartheit, daß sie - so schnell wie das Licht der Sonne durch den Äther hinstürzt (IV,185-215) - die Sphäre um die Dinge durcheilen und von den Sinnen aufgenommen werden bzw. diese durchdringen: wie Glas oder Stoffbahnen vom Licht oder Mauern von Schall durchdrungen werden oder wie im Spiegel instantiell mit dem Gegenstand sein Bild gegenwärtig ist (IV,75ff,123ff,150ff). So nimmt es Lukrez als wahren Beweis (specimen verum, IV,209): perpetuo fluere ut nascas es corpore summo/ texturas rerum tenuis tenuisque fuguras (IV,157/8). Das ist die erste Medien-Theorie der Geschichte.

Was Lukrez vor allem an optischen und akustischen Phänomenen verdeutlicht, gilt für alle Sinne - ja, in gewisser Hinsicht ist das Duften und Riechen in der dringenden Weise, räumliche Atmosphären zu bilden und zu spüren, geradezu das Modell der Lukrez'schen Welt. Im Geruch ist beides zusammengeschlossen. So wie der scharfe Geruch eines Heilkrauts die Einheit ist des auratischen Ausdünstens und des davon Durchdrungenseins im Riechen, so bilden die Simulakren die umfassende Einheit von Dingen und ihrer Wahrnehmung.


    Ununterbrochen fließen von den untrüglichen Dingen die Düfte ab;
    und wie Kälte vom Fluß, von der Sonne die Hitze, von Meereswogen
    der Schaum - Fresser der Mauern - am Ufersaum ringsum,
    und wie auch nicht der Stimmen Gewirr durch die Lüfte zu schwärmen zögert,
    so kommt oft in den Mund die salzig schmeckende Feuchte,
    wenn wir uns nahe am Meer aufhalten; wenn wir dagegen gelösten Wermut
    mischen, faßt uns bitter Geschmack an.
    So zumal eilt von allen Dingen jedes im Flusse fort
    und wird überall nach allen Seiten gesendet
    und in all dem Fließen wird nicht Rast noch Ruhe gewährt,
    da wir ohne Unterlaß alles spüren und alles immer
    zu sehen, zu riechen und tönen zu hören uns gegeben ist.

    (IV,218-229)

Solcherart in Bildern, die bei Lukrez erkenntnisstiftende Metaphern sind, faßt er zusammen, daß die Natur ein fortwährendes Sich-Zeigen ist. Die Dinge und die wahrnehmenden Wesen (Pflanzen, Tiere, Menschen) treten zusammen in den "Medien" der Abströmungen, in den Texturen der raumerfüllenden Bilder.

Wie körperlich diese Wahrnehmungswelt zu denken ist, verdeutlicht Lukrez dabei immer wieder an Beispielen - wie etwa am heftigen Brennen der Augen, wenn sie vom gleißenden Licht der Sonne durchbohrt werden, deren Feueratome spitzig und sengend sind.

Wahrnehmung ist selber die Naturkraft der miteinander in Korrespondenz stehenden Dinge, die sich nicht 'gegenüber' stehen und 'gerichtet' Beziehung aufnehmen, sondern 'eingetaucht' sind in die Medien und Sphären der Simulakren. Wie jedes sich spezifisch mitteilt, so hat jedes auch eine Weise, wahrzunehmen. Die Wahrnehmungsweise des Menschen wird durch seine Sinne gebildet, durch die er mit der Natur der Dinge verbunden ist. In und durch die Sinne realisiert der Mensch seine Natur und die Natur, zu der er gehört. Das Denken ist in den Sinnen fundiert. Darum soll der Mensch Vertrauen (fides) in die leiblich-sinnliche Wahrnehmungswelt setzen. Denn in ihr findet er die "Elementarkontakte", die ihn nach der Ordnung der Natur leben lassen. Die philosophische Unterminierung der Wahrnehmungswelt (wie sie Epikur und Lukrez durch Platon angerichtet sehen) reiße die Fundamente ein und untergrabe das Leben und die Gesundheit (vita salusque, IV,495ff).

Die Lehre vom Bilderstrom, der alle Sinne erfüllt, gehört zu den Wurzeln einer elementaristischen Naturästhetik, weil darin die immer schon mediale Seinsform der Dinge realisiert wird. Die Natur ist immer schon manifestiert; den Sinnen verborgen sind allein die subliminalen Bewegungen der Minima (auf die bezieht sich die 'Theorie' des Atome, die 'Physik' noch nicht sein kann). Die Dinge aber sind; und sie sind dies so, wie sie ihre Präsenz mitteilen; gegenwärtig seiend, sind sie immer schon über sich hinaus - in ihrer Sphäre; und derart sind sie beim anderen, insofern dieser in ihre Sphäre 'eingetaucht' ist. Die Simulakren sind die Ekstasen, die Doubles der Dinge, durch die sie wahrnehmbar werden bzw. durch welche sie in die Wahrnehmung treten: nicht als sie selbst, sondern in ihrer Ausstrahlung, ihrer Atmosphäre, in welcher sie die figura, textura, textus, imago ihrer selbst transmittieren.

Atmosphärische Welt

Dinge, Körper, Animus und Anima haben bei Epikur und Lukrez einen gemeinsamen Grund: das ist ihre atomistische Struktur. Von einem Konsortium des Seins zu sprechen, hat daran seinen ersten Halt. Daß, zweitens, alles aus Elementen gemischt ist, auch die Seele und der Geist, bildet in der philosophischen Tradition zwischen den Vorsokratikern (Empedokles, Demokrit) und den Epikureern eine weitere Schicht der Konvenienz von Dingen und Lebewesen. Die Wahrnehmungslehre schließlich bestimmt die Welt, insofern sie in die Sinne fällt, derart, daß alle Mitteilung in einem Medium stattfindet, welches jede Wahrnehmung taktil bzw. kontagiös sein läßt. Eben dies hatte Aristoteles verblüfft, denn wenn sich das so verhält, ist klar, daß auch jeder der übrigen Sinne eine Abart des Tastsinns ist. Nach der Lehre von der Wahrnehmung als Bildfluss, wie sie Lukrez auf der Grundlage von Empedokles, Demokrit und Epikur weiterentwickelt, muß dies jetzt korrigiert werden. Denn die Weise, wie Dinge sich in der Emanation von Bildern präsentieren, scheint weniger den Tastsinn, als vielmehr den Geruchs- und Geschmackssinn zum Vorbild zu haben. Bei Lukrez sind die Dinge wahrnehmbar in der Weise, wie sie sich dem Riechen präsentieren. Es ist eine olfaktorische Welt. Der Geruchssinn aber ist dem Geschmack engstens verschwistert. Die natura rerum charakterisiert die elementare Natur mithin in der Form und Qualität von Geruch und Geschmack. Darüber mag man sich noch mehr als Aristoteles verwundern, dem die sinnliche Welt nach dem Modell des Tastens erstaunlich genug war.

Gleichwohl ist insbesondere die Raum- und Zeitform der Lukrezschen Welt dadurch besser verständlich. Der Raum ist bei Lukrez nicht metrisch-physikalisch, die Zeit weder eigentlich zyklisch noch vektoral. Die Raum ist vielmehr atmosphärisch und die Zeit präsentisch. Das entspricht den Qualitäten, die H. Tellenbach für Zeit- und Räumlichkeit des Geruchsinns (und Oralsinns) ausgemacht hat. Es ist kein Zufall, wenn Lukrez sich die sinnliche Welt erschließt in Bildern des Duftens, des Hauches, des Rauches, eines luftigen Erfüllens und Verströmens. Die Dinge fließen und fliegen nach allen Richtungen über sich hinaus - die Simulakren sind ein Emanat in der Form räumlichen, richtungsunbestimmten Ergießens. Dem entspricht die intransitiv-emanative Seite des Duftens. Doch "immer geht das im Riechen Vernommene ins Subjekt ein als ein Strom der im Riechen sich präsentierenden Welt". Darin ist die eigentümliche Verschmelzung von transitiver und instransitiver Seite des Olfaktorischen erfaßt. Sie entspricht präzise der Lukrez'schen Phänomenologie. Denn die sinnliche Welt ist bei ihm so gefaßt, daß darin das Wahrgenommene und das Wahrnehmen sich im Medium der Wahrnehmung zusammenschließen - derart, daß der Bildfluss ein Eintauchen und Imprägnieren des Wahrnehmenden in und von der atmosphärischen Präsenz der Dinge heißt. Das Wind- und Wetterhafte der sinnlichen Welt bei Lukrez ist seiner Form nach eine Art Wettern und Wittern der Dinge. Weit diesseits der Reflexionsdisposition des Augensinns erschließt Lukrez die Welt elementar und präreflexiv dadurch, daß Wahrnehmen ein Durchstimmen des Wahrnehmenden ist. Dinge, Medium (Simulakrenstrom) und Sinnenleib bilden nicht eine (dem Augensinn analoge) Konfiguration von Lage- und Abstandsbeziehungen, sondern - wie Tellenbach sagt - ein atmosphärisches Integral, das der umgreifenden Raumform und gestimmten Gegenwärtigkeit duftförmiger Sinnlichkeit entspricht. So hält Lukrez die wahrgenommenen Dinge, so weit sie sein mögen, in verweilender Nähe. Dies ist die qualitative Nähe, die das Medium erzeugt, das Dinge und Subjekt umgreift und verschmilzt. Die Analogie zum Duft- und Geschmackssinn erklärt, daß Lukrez alle Wahrnehmung wie eine Inkorporierung versteht. In der Wahrnehmung schmecken und riechen (vorkosten) wir die Dinge. Das geht nur durch Einverleibung. Also muß Wahrnehmen als aktiv-passives Durchdringen gedeutet werden. Die Theorie des Bildflusses schließt ein, daß die Simulakren uns nicht nur imprägnieren, sondern von uns gleichsam verzehrt werden. Wahrnehmen ist ein Mahl. Auch das Auge, das Ohr, die Haut riecht und ißt. So kommt es, daß die Wahrnehmung bei Lukrez weniger auf Formbestimmtheit aus ist, sondern eher auf Substanzen und ihre Aura. Zumindest geben diese das Modell für Wahrnehmung ab. So daß die epikureische Naturphilosophie die sinnliche Welt auch nicht durch Physik, sondern durch Ästhetik erschließt: auf der elementaren Ebene von Geruch und Geschmack. So geht es auch nicht um das Ansich-Sein (das nur gedacht werden kann), sondern darum, in der sinnlichen Welt Ursprünge von Wertschätzungen zu verankern, wie sie Geschmack und Geruch elementar vermitteln. Eine ihnen analog konstruierte Wahrnehmungswelt begründet eine Ästhetik als Form des guten Lebens. Denn was gut und schlecht ist, erschließt sich von den Distinktionen her, die in den anziehenden oder abstoßenden Qualitäten der Atmosphären, der auratisch verstrahlten Simulakren begründet liegen. Alles Geistige und Ethische der epikureischen Welt basiert darum auf den elementaren Distinktionen der Sinne, die ein Erschnuppern der Bekömmlichkeit der Dinge sind. So führt ein direkter Weg vom Medium der Wahrnehmung zur Ethik der Ataraxia und Eudaimonia.



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