In: Großheim, Michael (Hg.): Leib und Gefühl. Berlin 1995, S. 129-140.

Hartmut Böhme

MATERIALISMUS ODER KONSTRUKTIVISMUS IN DER NATURÄSTHETIK:

Eine falsche Alternative - aus der Sicht der Goethezeit.

Im folgenden geht es um einen gegenwärtig strittigen Punkt in der Debatte um Naturästhetik. Ich nenne es den Streit zwischen Konstruktivismus und Naturalismus, zwischen Historisierung und Ontologisierung der Natur. Ich möchte zeigen, daß dieser Streit müßig ist. Er dient akademischen Abgrenzungsritualen, aber nicht der Sache.

Es gibt gute Gründe, mit Goethe zu behaupten: "... das bloße Anblicken einer Sache kann uns nicht fördern." Und er fährt fort: „Jedes Ansehen geht über in ein Betrachten, jedes Betrachten in ein Sinnen, jedes Sinnen in ein Verknüpfen, und so kann man sagen, daß wir schon bei jedem aufmerksamen Blick in die Welt theoretisieren." (HA XIII, 317) Mit diesem Satz zeigt sich Goethe, der heute eher dem naiven erkenntnistheoretischen Realismus zugerechnet würde, beinahe wie ein Konstruktivist. Ich bezeichne damit jene Auffassungen, die argumentieren, daß die Vermögen, durch welche wir uns auf Anderes beziehen, also Wahrnehmung, Erkenntnis und Handeln, immer schon - transzendental, historisch, sprachlich oder kulturell - konstituiert sind. Entsprechend präsentieren sich uns die Dinge und Lebenwesen gemäß der transzendentalen, historischen, sprachlichen und kulturellen Formen, die wir entwickelt haben. Heute ist man versucht, eine Art mediales Apriori hinzuzufügen und zu sagen: wir sehen die Dinge, wie die Medien sie zu sehen uns gelehrt haben. Auf die Spitze getrieben heißt es, daß die Realität der Wahrnehmung und die Realität der Dinge systematisch entkoppelt seien: dann sind wir schnell bei der Ästhetik der virtual reality. Sie ist Konsequenz des extremen Artifizierungsdrucks, dem wir heute kulturell und in der Folge auch erkenntnistheoretisch ausgesetzt sind.

Demgegenüber wird ein sog. naturalistischer Fehlschluß überall dort vermutet, wo Philosophen oder noch unbedarftere Zeitgenossen meinen, daß in den Wahrnehmungsakten, objektbezogenen Handlungsvollzügen, kulturellen Aneignungsformen irgend etwas anderes als wir selbst sich artikuliere, also etwa die Natur oder die Dinge. Die Geschichte der Naturwissenschaften insgesamt belege schlagend, daß unser Verhältnis zu den Dingen ein anderes als konstruktives nicht sein könne. Das ist insofern richtig, als die modernen Naturwissenschaften tatsächlich mit Natur nichts mehr zu tun haben - jedenfalls nichts mit dem, was bis etwa 1800 als Natur galt.

Ich möchte, andererseits, dem aber hinzufügen, daß zwischen Goethe und Brigitte Kronauer, um ein hochrangiges Beispiel von heutiger Naturästhetik zu nennen (Berittener Bogenschütze, 1986; Die Frau in den Kissen, 1990), auch niemand ernstlich behauptet hat oder argumentieren würde, daß dasjenige, was wir sehen oder denken, gleichsam die unverschleierten, die in ihrem Wesen sich präsentierenden Dinge seien. Entschieden insistiert Goethe mit jenem zitierten Satz darauf, daß es ein Paradies der Unmittelbarkeit zu den Dingen nicht gibt und geben kann. In seinen naturwissenschaftlichen Schriften und vor allem in seinen Romanen (schon im "Werther") demonstriert er hingegen immer wieder jene Fallen, in die man sich verstrickt, wenn man die Inhalte seines Wahrnehmens oder Denkens mit dem Sein oder Wesen der Dinge verwechselt, ja auch nur für objektive Sachverhalte nimmt. In seiner Faust-Studie hat unlängst Peter Matussek gezeigt, daß Goethe die Historisierung von Naturbildern wie kein anderer Zeitgenosse durchdacht und auf die Stadien seines eigenen Naturdenkens reflexiv gewendet hat. Das will sagen: mit jedem Satz, den wir über Natur sagen, stehen wir mitten in der Geschichte der Naturbildungen und mitten in der Geschichte der Wortbildungen, die über die Natur entwickelt wurden.

Brigitte Kronauer ihrerseits ist ein zeitgenössisches Beispiel dafür, daß die Topoi und gestanzten Formen der Wahrnehmung von Natur nirgends radikaler als in der Literatur dekonstruiert werden. Beide aber, Goethe wie Kronauer, treiben ihr Programm der kritischen Destruktion der naiven Wahrnehmung, die immer wieder sich als Fallen der Verwechslung erweisen, so scharf und unverführbar voran, um in der poetischen Sprache einen Erwartungsraum für jene Augenblicke einer fremdartigen Geselligkeit von Natur und Subjekt auszuspannen. Die Wahrnehmung von Natur ist hiernach selbst eine Kunst, sprich: ein kulturell gebildetes Vermögen. Ich möchte dies das poetische Exerzitium einer Geduld nennen, die des treffenden Ausdrucks harrt. Was aber soll im Wort getroffen werden? Ich möchte mich dem über Umwege annähern.

Wenn Walter Benjamin von der "Stummheit" als einer "Traurigkeit der Natur" (Ges. Schr.II/1,S.155) spricht, so scheint dies einer überwundenen Metaphysik der 'Natur als Subjekt' anzugehören. Man wird nicht sagen wollen, die Natur als ganze, oder der Berg, diese Landschaft oder jener Baum trauerten. Nicht so sicher dürfen wir indes beim Tier sein. Doch auf naturwissenschaftliche Grenzziehungen zwischen Lebewesen, denen wir etwas Ähnliches wie Trauer zubilligen, und anderen Lebewesen oder Naturdingen, die nach unserer Auffassung keine Empfindungsfähigkeit haben, kommt es hier gar nicht an. Im Gegenteil führt eine solche Überlegung in die falsche Richtung und in jedem Fall an Benjamin vorbei. Was es hier zu diskutieren gilt, ist vielmehr folgende Auffassung: Natur - oder ein Teil von ihr - kann in unsere Wahrnehmung fallen, derart, daß sie dabei in uns, als selbst ihr zugehörige Lebewesen, inne wird in einer Trauer, die wir nicht als unsere, sondern als ihre spüren. Benjamin geht sogar noch weiter, wenn er die "Traurigkeit der Natur" zum Grund ihres Verstummens macht: ihr Sprachloses sei ein Effekt des sprachmetaphysischen Sündenfalls.

Dies ist gewiß eine problematische Rede. Sie ist unserer nachmetaphysischen Nüchternheit noch weit befremdlicher als diejenige, welche den Satz sagt: "Gelassen stieg die Nacht ans Land/ lehnt träumend an der Berge Wand"; oder den Satz: "Aber den schimmernden Quader aus Licht/ habe ich selbst noch gesehen, / mit eigenen Augen, zauberhaft/ mühelos in die Höhe geworfen.../". Es sind, dies zur Beruhigung des philosophischen Ordnungssinns, nur Verse, von Mörike und Enzensberger. Daß der Poesie die Freiheit der Metapher von allen Lagern zugestanden wird, entlastet indes nicht vom Problem der Geltungskraft solcher Rede. Um sie soll es aber gehen, d.h. um den Punkt, ob es sich hierbei nur um Metaphern handelt (das wäre die Narren-Freiheit der aus dem Wahrheitsdiskurs ausgeschlossenen Poeten); oder ob in den Metaphern eine hinsichtlich der Phänomene ebenso zutreffende wie angemessene Sprechweise vorliegen kann.

In dieser Frage sollte man nicht auf dem hohen Roß eines erkenntnistheoretischen Vorsprungs der Philosophie vor der Literatur sitzen. Man könnte herunterfallen. Historisch nämlich ist es so, daß die projektiven Übertragungen in Naturbildern von so unterschiedlichen Literaten wie Goethe, Schiller, Hölderlin, Jean Paul, aber auch von Novalis oder Tieck nicht nur durchdacht, sondern in ihren Werken aufs feinste gestaltet worden sind. Sie sind sich der Antinomie von Subjektivismus und Objektivismus in der Natursprache vollständig bewußt und bedürfen nicht einer "Kritik der Urteilskraft", welche innerhalb der Geschichte der Naturästhetik gemeinhin als Wendemarke zu einer autoreflexiven Sprechweise jenseits des Sprachessentialismus angesehen wird. Dies ist beinahe allen Autoren der Goethe-Zeit eine Selbstverständlichkeit und ein Effekt der unvermeidlich gesteigerten Sprachreflexion nach dem Ende verbindlicher rhetorischer Systeme. Die subjektive oder kulturelle Konstitution naturästhetischer Wahrnehmungsmodi und Sprechakte kann seither kein Streitpunkt mehr sein. Doch, wie gesagt, ist damit das Problem nicht erledigt. In der Naturästhetik wird es nicht allein darum gehen können, in welcher Weise das Subjekt sich im Medium des anderen seiner selbst artikuliert. Was wir, sprechend oder bildend, mit den Dingen tun, entspricht nämlich unvermeidlich der Frage, was die Dinge mit uns tun, auch wenn und indem wir es sind, die von ihnen sprechen.

Ich setze im folgenden voraus, daß unsere Empfindungsfähigkeit nicht allein ein kulturelles Erzeugnis darstellt. Es scheint nicht richtig zu sein, daß Empfindungen immer nur spiegeln, was der Code des Kulturellen vorgibt oder daß gar die Empfindungen nichts als ein Effekt von Texten seien (wie es uns der Dekonstruktivismus einredet). Sondern, so meine These, das Empfindungsvermögen selbst und seine Form der Kultivierung ist als die Weise zu verstehen, in der wir uns - eben auch als Natur realisieren. Das hieße, einen anderen Kulturbegriff entwickeln zu müssen. Darüber später. Und es hieße auch, den topischen Gegensatz von Natur und Kultur aufzugeben. Dies hat nicht zwangsläufig zur Folge, der Natur unsere Form von Subjektivität, Reflexion und Empfindungsvermögen zuzuschreiben. Was Benjamin in der Formel von der "Traurigkeit der Natur" anzudeuten scheint, ist vielmehr, daß es eine Art von objektiven Gefühlen gibt.

Dem können wir uns annähern, wenn wir uns klarmachen, daß in der Wahrnehmung von Trauer wir sehr wohl unterscheiden können, ob die Trauer, die wir empfinden, unsere ist oder die an uns selbst gespürte Trauer eines Gegenübers. Das ist der Unterschied zwischen der eigenen Trauer und der empathisch mitvollzogenen Trauer des anderen, die seine bleibt, auch wenn wir sie, mit ihm, gleichwohl bei uns empfinden. Dieses schöne Vermögen zu einer Art Stoffwechsels der Gefühle beruht auf der prinzipiellen, wenn auch nicht immer aktuellen und oft auch gestörten und schwierigen Gemeinsamkeit von Ich und Anderem als empfindenden Lebewesen. Diese können wir ohne weiteres auf manche Tiere ausdehnen - aber auch, das ist die Frage, auf Pflanzen, Steine, Berge, Landschaft, Himmel und Meer? Wohl kaum und keinesfalls ohne weiteres.

Was freilich ohne Umstände vorgestellt werden kann, ist dagegen die Tatsache, daß wir unsere Trauer etwa in Landschaften proji-zieren. Das mag soweit gehen, daß wir unserer Stimmung erst wirklich gewahrwerden im Spiegel der Natur. Martin Seel (In: Eine Ästhetik der Natur, 1991,89ff) nennt dies das korresponsive Verhältnis zur Natur. An der Natur erscheint uns, was unsere Stimmung in einer Situation oder unser Sinn ist in einer Lebenslage. Ein solcher projektiver Narzißmus - ich meine das ganz unpsychologisch - beruht auf einer Art ästhetischer Konsumtion der Dinge im Dienst des Selbst. Er ist weit verbreitet und findet sich nicht nur der Natur gegenüber, sondern ebenso im Verhältnis zu artifiziellen Dingen oder in interaktiven Kontexten. Neben mancherlei positiven Funktionen ist hier ein doppeltes Defizit zu beobachten: so zeigt z.B. die Kulturgeschichte des Erhabenen, daß jede Ästhetik im Dienst des Narzißmus sich kulturell rasch verschleißt. Kaum ist das Hochgebirge als Medium erhabener Selbstaffirmation entdeckt, wird es touristisch normiert und ist dahin. Nicht selten zerstört eine solche Ästhetik das Objekt, auf das es aus ist. Daher erklärt sich in der Geschichte des Natur-Tourismus der fast anankastische Zug zu immer neuen Zielen, welche die Enttäuschung stillzustellen haben, daß die projektiv-ästhetischen Mechanismen das Subjekt immer nur mit sich selbst zusammenschließen - und so seine begierige, wahrlich objektlose Einsamkeit prolongieren. So gilt auch in der Naturästhetik, daß der projektive Narzißmus proportional mit Objektverlust steigt. Nicht der projektive Narzißmus, sondern die Fähigkeit zu Objektbeziehungen aber ist die notwendige Voraussetzung für Naturästhetik. Das möchte ich betonen.

Freilich liegt schon in jeder Projektion mehr und anderes als bloße Ich-Spiegelung. Keineswegs korrespondiert unserer Trauer jedes Naturding oder jede Landschaft, sondern es handelt sich um ein nicht-intendiertes Zusammentreffen dieser Stimmung mit dieser bestimmten Natur hier und jetzt. Seien wir aufmerksam: Kaum wird ein üppiges, glutendes, kraftvolles Sonnenblumenfeld meiner Trauer korrespondieren -; sondern entweder werde ich meiner Trauer inne gerade dadurch, daß das Sonnenblumenfeld einen Kontrast zu meinen Gefühlen bildet, oder es wird eine andere, immer aber eine bestimmte Natur sein müssen, der die Fähigkeit (darf man das sagen?) zur Korrespondenz mit meiner Trauer eignet: seien es Weiden an einem trägen Bach; sei es die eigenartig müde, fast tödliche Stille von Pans Stunde an einem glühend heißen Mittag im Süden oder die trüben, tiefhängenden Wolken über der Leere einer norddeutschen Novemberlandschaft mit ein paar verlorenen Gehöften und geduckten Knicks.

An diesen Beispielen wird deutlich, daß die Mannigfaltigkeit von Natursituationen, die meiner Trauer korrespondieren können, einer fast unbegrenzten Mannigfaltigkeit von Abstufungen der Trauer in uns entspricht. Aber eben: entspricht. Meine Frage ist: Können wir, ohne dem Irrtum des Subjektzentrismus zu erliegen, jetzt noch davon sprechen, daß jene reiche Fülle, mit der die Natur unseren Gefühlen entgegenkommt, sich nur und allein der Kraft und Fülle unserer Projektionen verdankt?

Oder ist es vielleicht so: auch hier, wo es bislang nur um unsere Gefühle geht, heißt Korrespondenz, daß die Natur abweisend, differenzierend, übereinkommend - und dies in feinen Schattierun-gen - einen Beitrag zur Gewahrung des Besonderen unseres Gefühls leistet: und zwar durch die Gegenwart ihrer hier und jetzt ein-maligen Formation, Gestalt, Figur - durchs Ensemble der Dinge, das die Situation der Wahrnehmung unserer Trauer bildet.

Dies möchte eine eine Art ästhetische Liberalität der Natur nennen. Sie kennt und bracht keine Verfassung, keine Würde, kein Recht, keine Sicherheitsgarantie, überhaupt nichts Verbrieftes, erst recht keine fixen Korrelationen zwischen Dingen und Bedeutungen, schon gar nicht eine gewisse Aussicht auf Sinn.

Die Natur, so dürfen wir jetzt sagen, kommt der Artikulation unserer Gefühle mannigfach entgegen. Indessen ist sie nicht die Artikulation der Gefühle. Die Natur ist nicht das objektive Alphabet der Emotionen, aus ihr herauszulesen wie aus einem Buch, wie es die librum-naturae-Tradition nahelegte. Vielmehr scheint es so zu sein, daß die Artikulation der Gefühle uns auch, wenn nicht besonders deswegen gelungen ist, weil die unbegrenzte Vielheit der Naturkorrespondenzen uns zur sukzessiven, also historischen Differenzierung und Versprachlichung unserer Gefühle verholfen hat. Das heißt: im geschichtlichen Prozeß der Vermannigfaltigung von Naturkorrespondenzen erkennen wir zugleich den Prozeß der kulturellen Ausdifferenzierung der Gefühle, Stimmungen, Atmosphären, Befindlichkeiten.

In dieser Weise kann man davon sprechen, daß auf dieser Erde, unterschieden nicht nur nach den Kulturen, sondern auch nach Dingformationen, Landstrichen, Klimata, ein unsichtbares Netz von Korrespondenzen zwischen Gefühlen und Natur entwickelt worden ist. Darin ist eine ganz andere Einsicht in die "Natur unserer Gefühle" aufbewahrt, als die anthropozentrische Seelen-Psychologie sich träumen läßt. Wenn Meyer-Abich von der Kultur als menschlichem Beitrag zur Naturgeschichte spricht, so darf man hier wohl umgekehrt sagen, daß die Natur immer schon, kraft der Korrespondenzen, die ihr eignen, einen unschätzbaren Beitrag zur Kulturgeschichte, hier zur Differenzierung der Gefühle geleistet hat. Doch, wohlbemerkt: dies ist so, ohne daß die Natur ein Subjekt sein müßte, welches "beiträgt" oder "etwas leistet" -: es sei denn durch nichts als durch die stummen Korrespondenzen, die sie dem Menschen - nicht bietet, sondern sein kann. Dieses Sein-Können korresponsiver Natur wird kulturgeschichtlich freigelegt - doch nicht ohne Rückkoppelung und Voraussetzung eines fundamentum in re.

Fragen wir danach, wie das möglich ist, so ist die Antwort einfach - man hat sie gleichsam nur vergessen. Der Mensch ist Lebewesen aus und in der Natur. Er hat sich nicht aus sich selbst. Der Mensch zeugt, nach Aristoteles, den Menschen - und so gewiß dies wahr ist, so auch, daß er dies nur kann, weil er darin sich als Lebewesen (als Natur) realisiert und Natur sich durch ihn vermittelt. Der Mensch verdankt sich nicht der Reflexion, die ihn zweifellos im Kreis der Natur einzigartig macht. Sondern die Reflexion ist die Sphäre, an welchem der Mensch sich gewahr wird als Wesen, das sich anderen und anderem verdankt - gerade auch in seinem Selbstsein. Was die Kraft der dialogischen Kommunikation in der sozialen Genese des Menschen bedeutet, das ist die Kraft der Korrespondenzen in seinem naturgeschichtlichen Werden. Dieses fundiert und begleitet die Soziogenese bis heute, so gewaltig auch die Verschiebungen sein mögen, die hinsichtlich der Relevanz-Hierachien zwischen natürlichen und sozialen (artifiziellen) Objekten zu beobachten sind.

Die Möglichkeit der Naturästhetik hängt mithin an einer anthropologischen Struktur, die Robert Spaemann die "Indirektheit des Selbstverhältnisses" nennt. Ohne die Anerkennung der Subjektstellung der Anderen vermögen wir nicht unserer selbst gewahr zu werden. Dies ist für die kommunikative Genese des Subjekts ohne weiteres einsichtig. Hier jedoch kommt es darauf an zu verstehen, daß ohne die Anerkennung der anderen Andersheit der Natur und ihrer Dinge wir niemals über das Spiegelgefängnis
des Narzißmus hinauskämen; wir müßten mithin am Erfordernis der Indirektheit unseres Selbstverhältnisses scheitern. Wie dies klassisch Ovid an seinem Narziß geschildert hat.

Ich komme auf das Ausgangsbeispiel zurück. Wenn wir unsere Trauer artikulieren und differenzieren lernen auch kraft der nicht-intendierten, mitspielenden Korrespondenzen der Natur, dann handelt es sich um mehr als bloße Projektion, die nur durch Introjektion zurückzunehmen wäre, um den Gefühlen ihren 'eigent-liches Seinsort' anzuweisen, das Innerseelische nämlich. Wenn dies zuträfe, dann wären im Verhältnis zur Seele alle Gefühlskorrespondenzen der Natur unaufgeklärte, im magischen Animismus wurzelnde Metaphern -: uneigentliches Sprechen also. Zwar finden Gefühle, in ihrer außersprachlichen Inkommensurabilität, zur Sprache und damit zur Kommensurabilität - wenigstens in der Form der intersubjektiv-allgemeinen Symbole. Gefühle finden aber zur Sprache auch und gerade dadurch, daß die reichen, nuancierten Naturkorrespondenzen in der Sprache (der Literatur) zu individualisierenden, mithin doch wieder inkommensurablen Artikulationen werden. Dies ist ein ebenso sprachgeschichtliches wie anthropologisches Faktum. Mit ihm werden nicht die Abstände geleugnet, die zwischen Gefühlen und Sprache einerseits und Gefühlen und Natur andererseits bleibend herrschen.

Immer noch nicht ist damit geklärt, ob mit Benjamin von einer "Traurigkeit der Natur" zu sprechen erlaubt ist. Aber einem Verständnis dieser Formel ist vorgearbeitet, wenn wenigstens eingesehen ist, daß für die Selbstwahrnehmung der Gefühle wie für deren sprachlicher Artikulation auf die Mitproduktivität der Natur durch ihre Korrespondenzen schlechterdings nicht verzichtet werden kann - nicht jedenfalls, solange wir unserer Herkunftsgeschichte aus Natur eingedenk bleiben wollen.

Dennoch - unsere Trauer, der die Natur korrespondiert, ist etwas anderes als die Trauer der Natur, der umgekehrt wir, fühlend und sprechend, korrespondieren. Gibt es diese Umkehrung von Korre-spondenz: nicht die Natur als unser Echo, sondern wir als das ihre? Daß die Literatur davon voll ist, mag zwar ein kulturelles Indiz sein; es kann aber nicht als Beweis dafür gelten, daß diese Redeweise auch philosophisch begründet ist. Um diese zweite Korrespondenz soll es gehen.

Zunächst ist festzustellen, daß die beiden Korrespondenzen nicht symmetrisch sein müssen. Tatsächlich handelt es sich um verschiedene Formen von Korrespondenzen. Die Weise, wie wir der Natur korrespondieren, muß eine andere sein als die, in der Natur uns korrespondiert: nicht nur wegen der umgekehrten Richtung, der entgegengesetzten Focussierung der Aufmerksamkeit, sondern vor allem wegen der Differenz der Gefühlslage.

Diese Asymmetrie begegnet freilich schon in der ersten Korre-spondenz: Natur "antwortet" unserem Gefühl. Denn dies kann heißen - ich bleibe beim Beispiel der Traurigkeit -: die Wahr-nehmung von Natur hat zur Folge, daß meine Trauer sich modifiziert - gleichsam einen anderen Ton erhält, je nach dem, ob ihr die Trauerweide oder das müde Mittagslicht des Südens korrespondiert. Oder meine Traurigkeit findet sich - und das wäre inmitten dieses Gefühls, ein Moment des Glücks - in vollkommener Übereinstimmung mit der Umgebung: es ist genau dieses leise Geräusch langsam fallenden Regens auf den Blättern, was zu meiner Trauer hier jetzt paßt; darin scheint sich alles andere, Laute, Farben und Regungen, aufgelöst zu haben; dies spürt man ebenso wie bewußt ist, daß dies ein Schein ist. Diese seltene Koinzidenz aber ist ebenso ein Sonderfall der Korrespondenz wie es ihr Grenzfall ist, wenn in der Natur ein radikal Anderes sich zeigt, als es meinem Gefühl entspräche. Diese negative Korrespondenz aber vermag meiner Trauer ebenso Profil und Bewußtsein zu vermitteln wie die posi-tive oder modifizierende Korrespondenz. So wenn meine Traurig-keit sich aufs deutlichste abhebt von einem Frühling, der aus allen Schoten und Knospen platzt.

Asymmetrisch wird folglich erst recht die Korrespondenz der Natur im Menschen sein. Auf keinen Fall wird die "Traurigkeit der Natur" heißen können, daß sie sich durch Empathie in einem personalen Sinn erschließt. Nicht zeigt uns Mutter Natur ihre Trauer - auch wenn in der Literatur und der naturmystischen Tradition diese freundliche Redeweise immer wieder begegnet. Die Trauer der Natur kann nicht eine individuelle Trauer sein. Sie ist vielmehr eine allgemeine und abstrakte, gleichsam subjektlose Trauer. Es ist auch keine Trauer, die der Natur an sich zukäme - jenseits und außer ihres Wahrgenommenwerdens. Gleichwohl ist die Trauer objektiv - sie soll der Natur, nicht uns zukommen.

Was aber kann dies für ein Gefühl sein, das wir wohl selbst empfinden, von dem gleichwohl wir behaupten, es sei nicht das unsere - ohne wiederum einer anderen Person zuzukommen. Das also wäre die Trauer, welche die Natur zeigt.

Von einer Natur zu sprechen, die nicht auch ein Sich-Zeigen ist, ist spätestens in der Epoche sinnlos geworden, in der empfindendes Leben in sie eingezogen ist. Seither ist Natur von der Art, daß es zur Natur der Dinge gehört, aus sich herauszugehen, sich zu manifestieren (oder sich zu verbergen). Seit Wahrnehmung in der Welt ist, ist es mithin sinnlos geworden, von einer Natur zu sprechen jenseits ihres Wahrgenommenwerdens. Natur ist also aistheton, Wahrnehmbares (was nicht heißt, daß alles an ihr manifest wäre). Auf Wahrnehmung hin zu sein, heißt, daß die Natur sich gleichsam selbst wahrnimmt, insofern die Wahrnehmenden selbst nicht weniger, wenn auch anders Natur sind wie diese im Ganzen.

Nun bietet die Natur Szenarien, in welchen uns eine Art über-subjektive Trauer wahrnehmbar wird - ebenso übrigens wie eine allgemeine Gleichgültigkeit oder indifferente Freude jenseits jeder einzelnen Freude oder Gleichgültigkeit irgendeines Lebewesens. Wir betreten hier das Gebiet einer Art Metaphysik - eben das Reich der objektiven Gefühle - und fragen danach, ob davon zu reden im nachmetaphy-sischen Zeitalter möglich ist, ohne sich auf Autoritäten wie Benjamin oder Schelling, der von der allgemeinen Schwermut der Natur sprach, zu berufen oder sich von der Schönheit lyrischer Sprechweisen verführen zu lassen, wenn beispielsweise Nikolaus Lenau oder Johannes Bobrowski eine Trauer der Natur Sprache werden lassen. Es geht dabei nicht darum, daß selbstverständlich die Kunst oder die mythische Rede weiterhin das ungeschmälerte Recht eingeräumt erhalten sollen, von einer objektiven Trauer oder Freude der Natur zu sprechen, auch wenn sich erweisen sollte, daß dies nur in einem eingeschränkten Sinn möglich ist, dergestalt, daß darin imaginativ eine poetische, mythische oder metaphysische Einbildungskraft ein bloß subjektiv Gegebenes gleichsam ontologisch generalisiert. Noch aber ist nach der Möglichkeit objektiver Trauer zu fragen.

Trauer ist das Gefühl erlittener Trennung; und zwar jeder Form dieses Erleidens von Trennung. Deren radikalster Schnitt ist der Tod. Die Trauer, um die es hier geht und die ihre Korrespondenz und Artikulation im Menschen findet, bezieht sich mithin auf die Entzweiung, das erlittene Getrenntsein und auf den Tod in der Natur. Die Natur ist nicht eins und nicht eine. Sie ist ein Auseinan-dergetretensein, das nicht nur den Reichtum der Differenzierung, sondern darin auch den Schmerz der Trennung, die bis zur Vernichtung reicht, enthält. Das Vergehen, in welches alles einzelne wie die Natur als ganze sich auflöst, dieses Vergehen eignet nicht zuerst, aber vor allem dem empfindenden Sein, das lebendig ist dadurch, daß es sich selbst verzehrendes Leben ist. Die Trennung, die in der Natur ist, hebt sich à la longue nur auf, indem alles in der Einheit des Todes resümiert wird. Die Energie, die naturgeschichtlich in die Gestalten des Lebendigen geflossen ist, verwandelt sich im Menschen zum Bewußtsein des entropischen Grundgesetzes der Natur, ihrer Entstaltung also. Das entropische Grundgesetz findet seine Korrespondenz in der Trauer, die niemandem gilt und nichts meint als dieses Allge-meinste der Natur selbst. Das ist ein ganz und gar abstraktes Gefühl, aber dennoch Gefühl. In ihm korrespondiert Natur nicht unseren Lebensinteressen in zuvorkommender oder abweisender Form, sondern vielmehr korrespondieren wir in der denkbar wei-testen und gleichsam objektlos gewordenen, leeren Schwermut mit einer Natur vor und jenseits aller Wahrnehmung, vor und jenseits auch aller Sprache. Denn was hier in uns korrespondiert, ist absolute Sprachlosigkeit (auch wenn wir über sie sprechen), eine Sprachlosigkeit, die nicht nur der Natur, die wir nicht sind, zukommt, sondern schließlich uns selbst, insofern wir Natur doch sind: das Sprachlose in unserem Sprechen ist dem Stummen gezollt, in dem alles erstarrt.

Dem kommt nahe, was Adorno, in Anlehnung an Benjamin, die "Mimesis ans Tote" genannt hat. Über das naturgeschichtlich Tote hinaus, das zum Zeichen des Todes nicht nur in der Natur, sondern auch der Natur wird, schließt diese Formel das Tote ein, welches als Ruinenfeld der Geschichte diese in ihrem Zurücksinken auf Natur zeigt. So gewiß ist, daß im ganzen Kreis der Natur nur der Mensch in dieser Weise das Todesverfallene ins Denkbild zu heben vermag, so gewiß ist auch, daß darin mehr und auch anderes als die Trauer um das Vergehen des vielen Einzelnen erfahren wird. Dieses kann allenfalls Anlaß und Gelegenheit der ins Allgemeine geweiteten Trauer sein, die nicht mehr den Menschen allein zum Mittelpunkt hat, sondern umgekehrt gerade aus diesem Zentrum herausgerückt ist. Jene Zeit, die als das gleichförmige Leichentuch sich über alle Geschichten und Geschichte legt, bildet den dunklen Hintergrund des "Aorgischen" Hölderlins oder des Todestriebes Freuds, der im Rückgang aufs Anorganische seine Erfüllung findet. Derartiges als zu sich selbst und zur Natur gehörig zu empfinden, weist das Alltagsbewußtsein strikt von sich ab -; findet es doch in sich vor allem und scheinbar nichts anderes vor als das Gegenteil dieses Zugs zum Verlöschen der Lebensflamme. Der naturgeschichtlich Denkende aber blickt nicht nur ins lebendige Feuer, sondern steht ebenso im Bann der Asche, die von ihr bleibt. Aus ihr wird dem Denken die Trauer geweckt, deren Gestalt die erkaltete Erde und das blicklose All ist. Gewiß ist dies eine Trauer, die nicht unmittelbar als Echo wahrgenommener Natur zu verstehen ist. Es ist Trauer jenseits der Sinne, nicht aber jenseits der Naturvorstellung. Sie entspringt Denkbildern, Emblemen, Allegorien der Naturgeschichte. Doch darin reflektiert sich nicht einfach der sentimentale Schmerz, wie traurig die Natur nach Abzug des Menschen wäre - gleichsam die totalisierte Vorstellung davon, daß Kinder sich gelegentlich als tot phantasieren und die übriggebliebene Welt in Tränen über diesen Verlust vergeht. Pascals Unendlichkeitsschauder, Diderots Vorstellung von der menschenlosen Erde, Benjamins Allegoriker des Barocks und der Moderne, die die Geschichte unterm Zeichen einer überwältigenden Natur entziffern -: das sind im Menschen Reflexe des Menschenlosen, des schlechthin Ahumanen - Empfindung gewordener Gedanke der Zeit von Natur, die nicht unsere ist. Gerade als nachmetaphysischer Gedanke, als Denken im saeculum der Humangeschichte, ist dies ein Einfall der Naturgeschichte, der noch und unmittelbar als Idee die Gestalt von Trauer annimmt. Sie korrespondiert keinem Sinn und keinem Lebensentwurf: sondern jenseits davon entspricht sie der objektiven Disproportion des Menschen und der makrokosmischen Prozesse. Noch in 500 000 Jahren die Fußabdrücke Armstrongs im Staubgrund des Mondes, das blinde Strahlen der Sonnen, die leeren Revolutionen der Systeme.

Davon erhalten schließlich auch die Allegorien der Geschichte ihre formlose Form, worin das Hervorgebrachte im Halbwesen der Ruine erscheint: Geschichtliches im Übergang zur Natur. Was darin spricht, ist das schließliche Stummwerden dessen, was im Glanz der Bedeutung erstrahlte. Wieder hat das Stumme der Natur in der Trauer des Menschen seine Korrespondenz.

Kant hat darauf aufmerksam gemacht, daß die Erfahrung des Erhabenen nicht naturwüchsig sei, wenn sie sich auch privilegiert an Natur herstellt. Damit will er sagen: Erfahrungen von Natur sind an einen gewissen Stand der Kultivierung unserer Vermögen gebunden. Tatsächlich wäre es töricht, auch nur ein einziges Naturbild unabhängig von der historischen Spezifität der Autorintention zu sehen. Es darf nun angesichts seiner Systeminteressen nicht verwundern, wenn Kant eine Kulturgeschichte der Erfahrung des Schönen und Erhabenen nicht geschrieben hat. Schiller kommt dem bereits näher. Doch schon die "Kritik der Urteilskraft" enthält deutliche Winke, daß zwischen Kultivierung und Naturentwicklung eine positive Korrelation besteht. Die Goethe-Zeit darf in der Geschichte des Naturdenkens mit Fug als jene Epoche, in der die werkimmanente Selbstreflexion der konstruktiven Bedingungen von Naturbildern unhintergehbar wird. "Ist es der Gegenstand oder bist du es, der sich hier ausspricht?" (Cotta-Ausgabe, Bd. XX,478), fragt Goethe 1825 rückblickend auf seine eigene und die Geschichte der Naturwissenschaften. Er versteht dies nicht nur als Frage kritischer Selbstreflexion, sondern auch als Leitlinie historischer Rekonstruktion. "Kommt man tiefer in die Sache", resümiert er 1820, "so sieht man, wie eigentlich das Subjektive auch in den Wissenschaften waltet, und man prosperiert nicht eher, als bis man anfängt, sich selbst und seinen Charakter kennenzulernen." (Cotta XX, 731) Es kann hiernach kein Zweifel sein, daß die historische Selbstkenntnis zu einem bedingenden Prinzip von Naturforschung und von Naturästhetik werden muß. Bereits 1807 heißt es, es gäbe weniger sinnlosen Streit in den Wissenschaften, "wenn jeder vor allen Dingen sich selbst kennte und wüßte, zu welcher Partei er gehöre, was für ein Denkweise seiner Natur am angemessensten sei" (XX, 245). Immer gelte es zu bedenken, "daß sie [= die Naturkundigen] doch immer dem Objekt als Subjekt, als Individuum entgegenstehen und trotz ihrer Gegenwart nur mit ihren eigenen Augen und nicht mit dem allgemeinen menschlichen Blick die Gegenstände sowohl als den besonderen Zustand beschauen" (XX, 660). Schließt eine solche kritische Wende aufs Subjekt nun die Folge ein, daß Selbstreflexion in der Naturästhetik notwendig in der Einsicht terminiert, derzufolge wir in allem nur uns selbst und niemals die Gegenstände ausprächen? - Dies ist bei Goethe nicht so. Die Doppelfrage, ob man selbst oder der Gegenstand es sei, der sich ausspäche, zeigt, daß es von hier aus keinen Weg zum radikalen Konstruktivismus oder Dekonstruktivismus gibt.

Von diesen aber, möchte ich hinzusetzen, führt auch kein Weg zur Naturästhetik, sondern bestensfalls zur Erkenntniskritik der subjektiven, mithin historischen Konstitutionsbedingungen von Bildern, Symbolen, Aneignungsformen der Natur. Das ist viel, aber nicht hinreichend. "Was ihr den Geist der Zeiten heißt/ Das ist im Grund der Herren eigner Geist,/ In dem die Zeiten sich bespiegeln.", so kontert Faust ironisch den Wunsch Wagners, über bloßes Textstudium zur Wahrheit der Dinge vorszudringen (Faust, v.577-9): dies ist für Faust Scholastik. Der späte Goethe ist hier vorsichtiger: "Die Natur", so kommentiert er konstruktivistisch-texttheoretische Ansätze avant la lettre, "die Natur, wenn wir sie recht zu fassen verstehen, spiegelt sich überall analog unserm Geiste; und wenn sie nur Tropen und Gleichnisse weckt, so ist schon viel gewonnen." (Brief an Joseph Stanislaus Zauper 10.9.1823). 'Schon viel', aber nicht genug und vor allem nicht: alles. Wären die evozierten Gleichnisse und Tropen nichts als Effekte des historischen Systems ästhetischer Sprechweisen, und würde historische Forschung zur Naturästhetik in dieser nichts Texte und Rhetoriken identifizieren, so würde damit zwar der subjektive und objektive Geist von Naturbildern wiedererkannt, doch zugleich auch jede Referenzebene und jeder Inhalt getilgt. Naturästhetik wäre im Gefängnis eines erkenntnistheoretischen Narzißmus gefangen, Spiel der Zeichen auf Papier, der Farben und Formen auf Leinwand, der Muster im Kopf. Selbstverständlich ist die Erforschung solcher Strukturen erforderlich. Verhängnisvoll und töricht indessen wäre es anzunehmen, damit die Extension von Naturästhetik erfaßt zu haben. Ich zitiere wieder Goethe: "Jeder spricht sich nur selbst aus, indem er von Natur spricht, und doch darf niemand die Anmaßung aufgeben, wirklich von der Welt zu sprechen." (Brief an Christoph Ludwig Friedrich Schultz 8.1.1819) Um ein solches dialektisches, beinahe paradoxes, wie Goethe sagen würde: versatiles Verhältnis geht es. Es meint durchaus nicht das Kantsche Als-Ob von teleologischen Urteilen. Sondern Goethe beansprucht in der Frage der Naturästhetik, daß ein jeder sich der unlöslichen Spannung zwischen subjektiver Konstitution von Aussagen und realitätstreffender Objektivität auszusetzen hat - und zwar im Dienst der Sache. Weder die eine noch die andere Seite kann den Sachverhalt erschöpfen - und zwar weil dieser, die ästhetische Natur, ein weder nur subjektives noch nur objektives, sondern ein Phänomen eigener Art ist. Über diese besondere Phänomenart ist nicht vorab zu entscheiden, sondern ihr sich anzunähern kann nur gelingen sich auf das einzulassen, was wahrnehmungsästhetisch, sprachlich oder bildkünstlerisch geschieht, wenn man eben jene unlösbare, versatile Spannung zwischen Subjekt und Gegenstand im ästhetischen Akt sich entwickeln läßt. Die Versatilität soll hier im Goetheschen Wortverständnis die Bewegungsform des Subjekts bezeichnen zwischen widerstreitenden Auffassungen, zwischen Einbildungskraft und- Gegenstand, zwischen überlieferter Form und präsentischem Ereignis. Dieses sich "hin und her wiegen" (XX,452), dieses sich mit sich selbst Forttreiben, dies weder beim Subjektiven noch Objektiven Verharren des Versatilen ist es, was eine subjektive Bildung schafft, die wiederum ein Raum der Entwicklung von Natur eröffnet.

Fragt man, welchem Ziel ein so bestimmtes Ästhetisches dienen soll, so soll man zuerst sagen: gar keinem. Es ist ja gerade das Unbestimmte, Unabsehbare und Ausstehende, von dem ein Ziel prospektiv anzugeben es gerade verhindern würde. Dann, im zweiten Schritt, kann man im Blick auf die ökologische Krise, die eine der Naturästhetik auch ist, noch einmal und zum letzten Mal Goethe zitieren, womit ich dann auch schließen will - das F&Mac185;eld der Naturethik eröffnend: "Wenn der Naturforscher sein Recht einer freien Beschauung und Betrachtung behaupten will, so mache er sich zur Pflicht, die Rechte der Natur zu sichern; nur da, wo sie frei ist, wird er frei sein, da, wo man sie mit Menschensatzungen bindet, wird auch er gefesselt sein." (XX, 318/9)

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