Hartmut Böhme: Natur und Subjekt. Frankfurt am Main 1988.
II. Subjektgeschichte


Vergangenheit und Gegenwart der Apokalypse


Der vornehme apokalyptische Ton

Jacques Derrida [1] bezieht sich in seinen kleinen Arbeiten zur Apokalypse sehr einleuchtend auf die späte Schrift Kants Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie (1796). Derrida diagnostiziert heute (d. h. 1980, also vor dem Höhepunkt apokalyptischer Einfärbung der Rüstungs-Debatten rund um Pershing [2] und Cruise Missiles) einen "apokalyptischen Ton der Philosophie". Bei diesem "Ton" geht es nicht um konstative Sprechakte, sondern um Sprechweisen. Der Satz: "Das Ende ist da", von jemandem gesprochen, der selbst zu dem gehört, was zu Ende schon sein soll, ist J a in sich widersprüchlich und unsagbar- es sei denn, er wäre von einer Position aus gesprochen, die jenseits des Endes läge: von der Position der Rettung und Erwählung aus, die zwar in den klassischen Apokalypsen tatsächlich einen strukturellen Ort angibt - das himmlische Jerusalem, den Himmel, den Altar Gottes -, doch heute von niemanden mehr eingenommen werden kann. Von einem apokalyptischen Ton zu sprechen, soll also heißen, daß es sich nicht um falsifizierbare Aussagen handelt, sondern eine Art Infektion der Atmosphäre von Sprechakten, um Töne, Klänge, Stimmungen, Timbres, von denen die Sätze moduliert, ja gewissermaßen befallen sind. "Das Ende ist nahe herbeigekommen" - dieser Satz, der richtig sein kann oder nicht, jedenfalls seit gut 2000 Jahren über unserer Kultur liegt, diese eigenartige Sprachgeste, durch die das Gegenwärtige vom kommenden Ereignis her schon ergriffen scheint dringt durch die Poren der Wörter und in den Atem der Sprache und verändert wie eine Auszehrung das Zentrum der Diskurse. Ihre Ordnung und Hierarchien, ihre Energien und Spannungen geben dem Drängen des nahen Endes nach, die Sätze werden vom Siegel des Endes gezeichnet und fallen in ein parataktisches Nebeneinander: und dies . . . bald vorbei. . . und auch dies . . . und du. . . und auch du . . . das war also das . . . und wird das gewesen sein . . .: eine zweite Taufe der Dinge auf den immer einen Namen: Ende. "Das Ende ist nahe": dieser Satz ist ein Damm, durch den die Geschichte und alle Geschichten zu einem Stausee werden, worin alles zum Element einer homogenen Masse wird, die nur noch einen Ausgang hat: den Dammbruch und den Sturz in den Abgrund dahinter.

Der vornehme Ton der apokalyptisch infiltrierten Sprachweise ist, frei nach Kant, nun folgendes: der ganze Raum des Daseins und der Welt wird ohne Arbeit - eben vornehm - kraft intellektueller Anschauung, die nicht das Erkennbare mühsam analytisch durchschreitet, sondern das Ganze "geniemäßig"2 überfliegt, als grandioses Finale ausgefüllt und auf einen Ton, einen Klang gestimmt, der sich durch Intuition und Vision (oder Delir) über die nach Kant - langsam voranschreitende Bodenarbeit der Vernunft erhebt. Derrida bildet aus den Elementen der heute currenten apokalyptischen Diskurse eine ironische Kolportage des vornehmen Tons (und jeder mag dabei sein bevorzugtes Ende wiedererkennen).

    Ich sage Euch die Wahrheit, das ist nicht nur das Ende von diesem, sondern auch und zuerst von jenem, es ist das Ende der Geschichte, das Ende des Klassenkampfes, das Ende der Philosophie, der Tod Gottes, das Ende der Religionen, das Ende des Christentums und der Moral (was die größte Naivität war), das Ende des Subjekts, das Ende des Menschen, das Ende des Abendlandes, das Ende des Ödipus, das Ende der Welt, Apocalypse now, ich sage Euch, in der Sintflut, dem Feuer, dem Blut, dem erderschütternden Beben, dem Napalm, das aus Hubschraubern vom Himmel fällt, so wie die Prostituierten, und dann auch das Ende der Literatur, das Ende der Malerei, der Kunst als Sache der Vergangenheit, das Ende der Psychoanalyse, das Ende der Universität, das Ende des Phallozentrismus und was weiß ich noch alles. [3]

Und dies nun, diese Endloserie von Enden, scheint tatsächlich ein Symptom der postmodernen achtziger Jahre zu sein, in der Beliebigkeit der Endungen jedoch auch ohne erhellende Kraft. An diesem Reden, woran sich nahezu alle beteiligt haben, von Günter Grass bis Anton-Andreas Guha, von Reagan bis zu Greenpeace, von Jean Baudrillard bis zu Ulrich Horstmann, von der katholischen Kirche bis zum armen Teufel, von Naturwissenschaftlern, die ihre medizinischen, ökologischen oder atomaren Untergangsszenarios über die Sender brachten, bis zu den Gästen bei Abendeinladungen, die beim Essen ihren schleichenden Tod durchs Essen besprachen. Die Medien waren und sind voll von apokalyptischer Metaphorik. Die Literatur der mittleren achtziger Jahre wird von Paul Konrad Kurz in seinem eben erschienenen Überblick kurzerhand unter den Titel Apokalyptische Zeit [4] gesetzt. Filme und Theaterstücke mit Katastrophen- und Untergangsthemen erscheinen dutzendweise. Und vollends perfekt wird der Untergangs-Diskurs, seit sich die Apokalypse heimtückisch der beliebtesten Verkehrswege zwischen Menschen bedient: Liebesreigen - Totentanz. - Es gibt Leute, die nicht ohne Grund sagen, die Apokalypse sei eben die Plage, von der sie erzählt.

Über all das zu spotten, ist jedoch abwegig; ebenso wie es hilflos ist, gegen die wuchernde apokalyptische Erzählung alte Injektionen zu verschreiben: Fortschritt, Wachstum, Optimismus, Vernunft, Diskursdisziplin. Hier soll zunächst auch gar nicht über die Berechtigung oder gar Notwendigkeit apokalyptischer Reden gehandelt oder über Mittel der Rettung gegen das nahe Ende gestritten werden - das geschieht so pausenlos, daß man glaubt, in einer Zeit medial vervielfältigter Propheten, Warner, Ablaßprediger, Wiedertäufer, Wunderheiler und all der rechtgläubigen Realisten versetzt zu sein, die dagegen schon immer Front gemacht haben. Vielmehr ist der Ausgang meiner Überlegungen der, daß die ungeheure Menge apokalyptischer Reden in augenfälligem Mißverhältnis steht zum Mangel an Reflexion und Analyse der Traditionen Formen und Sprechweisen des Apokalyptischen - hier ist Derrida eine der wenigen Ausnahmen. Dabei soll auch zutage treten, daß der Zustand des Apokalypse-Begriffs heute denkbar schlampig und gegenüber der Geschichte der apokalyptischen Rede erschreckend verarmt ist. Und ich möchte ferner die These ausprobieren, ob die apokalyptische Erzählung, die zu den großen metaphysischen Narrationen unserer Kultur gehört, nicht zu beenden oder mindestens zu transformieren ist, wenn man einzusehen beginnt, daß die Apokalypse - heute - nicht mehr vor, sondern hinter uns liegt. Die apokalyptische Angst, könnte sein ängstigt sich nicht mehr vor dem bevorstehenden Einbruch des ganz Anderen in die Geschichte, welche dadurch abgeschlossen wird; sondern die Angst ängstigt sich vor der Wiederholung der Vergangenheit, vor der Urgeschichte als Endgericht der Weltgeschichte. Das allerdings wäre wirklich ein Abschluß der Moderne.


Was ist Apokalypsis?

Apokalypsis heißt zunächst überhaupt nicht Katastrophe, Untergang, Weltende, sondern Offenbarung, Enthüllung, Aufdeckung der Wahrheit. [5] Das schließt ein: die Wahrheit ist verborgen, sie ist da, aber nicht am Tage, ihr Status ist Geheimnis, nicht Öffentlichkeit. Warum dies so ist, kann viele Gründe haben. Man mag die Wahrheit nicht sehen wollen; sie ist schwer oder gar nicht erträglich; sie übersteigt das Maß der an Vernunft gebundenen Einsicht; sie ist gefährlich, eine Sache der Verfolgten, Minderheiten, Wenigen; -sie ist unmenschlich oder übermenschlich; sie führt eine unverständliche Sprache; sie ist vergessen oder verdrängt; sie steht noch aus und ist nur in Spuren entzifferbar.

In jedem Fall ist die Wahrheit dabei etwas Fragiles und in keinem Fall durch Konsensbildung herstellbar. Im Gegensatz zum Diskursmodell der Wahrheit in der platonischen Tradition bis hin zu Habermas ist die apokalyptische Wahrheit niemals Ergebnis diskursiver Prozeduren, sondern - und dies ist die nicht weniger mächtige Tradition des jüdisch-christlichen Synkretismus - sie ist ein Geschehen, ein dramatisches Ereignis, dessen Regisseur nicht die Vernunft ist und dessen Spiel nicht durch ihre Diskursakteure zur Aufführung gelangt. Die apokalyptische Wahrheit geht gleichwohl wie die diskursive aufs Ganze, sie ergreift die Universalien der Geschichte, in denen die Menschen ihren letzten und darum angemessenen Platz zugewiesen erhalten. Gegenüber dem griechisch-antiken Diskursmodell, das für die Enthüllung der Wahrheit immer handlungsentlastete, gesättigte und friedliche Subjekte, Mitglieder also der leisure-class, Bewohner der irdischen Paradiese zur Voraussetzung hatte, gegenüber diesem Modell, das bis heute seine stille Abhängigkeit von Sklaven und ausgebeuteten Sprachlosen verleugnet -: diesem gegenüber also ist das apokalyptische Modell der Wahrheit roh, barbarisch, der Not entstammend, dem stummen Sein explosiv, also unkontrolliert, radikal und regellos entsprungen, niemals begrifflich, sondern in Kaskaden von poetischen Bildern dahinstürzend, mühsam Halt suchend in niemals plausiblen, magisch-ästhetischen Formen, vollkommen hemmunglos gegenüber den Disziplinen der herrschenden Rede, niemals besonnen und kühl, sondern umhergeworfen zwischen den Extremen menschenmöglicher Gefühle: Rache, Haß, entfesselte Wut, bestialische Grausamkeit und zarteste Gesten der Liebe, leidenschaftliche Hingabe, Opferbereitschaft und Todeslust.


Sprache der Apokalypse

Apokalyptik existiert als Begriff erst seit etwa 150 Jahren zur Bezeichnung einer Literaturgattung, die sich vor allem zwischen dem zweiten vorchristlichen und zweiten nachchristlichen Jahrhundert im Überschneidungsraum von isrealitischen, frühchristlichen und antiken Traditionen gebildet hat. [6] Das Paradigma dieser Literaturgattung, die Offenbarung des Johannes, verwendet in Kap. 1,1 den Ausdruck "Apokalypsis" nicht als literarischen Terminus, schon gar nicht als Bezeichnung für Katastrophe oder Weltuntergang, sondern als Charakterisierung des Sprechmodus. Das meint: die Schrift geht nicht auf die eigene Schreibentscheidung des Johannes zurück, sondern ist die von Gott selbst an Jesus Christus gegebene Apokalypsis (Offenbarung), die wiederum durch einen vermittelnden Engel (Apok. 1,1 ) an Johannes weitergetragen wird. Dieser fällt dabei in einen pathischen Zustand von Verzückung und Vision (en pneumati, in "Geist", in "Hauch" Apok. 4,2). Die göttliche Mitteilung wird von Johannes per Brief an sieben kleinasiatische Gemeinden geschickt. Apokalypse ist also eine komplexe Form von "postalischem" Verkehr zwischen Gott und Menschen.

Apokalyptik bezeichnet also Literaturformen, in denen der Autor nicht auto-nom, nicht selbst-entschieden schreibt. Sondern die Autorschaft des Johannes meint, daß er das Organon das vermittelnde Schreibgerät der göttlichen Schrift ist. Ähnlich den alttestamentlichen Prophetenberufungen wird Johannes gegen seinen Willen, unter Angst und Schrecken zum Autor berufen: "Steig hierher empor, dann will ich dir zeigen, was geschehen muß" (Apok. 4,1); und: "Schreibe!" (Apok. 19,10) Im Schema der schamanistischen Initiation der "Himmelsreise der Seele" (Carsten Colpe) erfolgt die Einweisung des Johannes in die Autorschaft.

Apokalyptische Reden stehen also 1. nicht in der Verantwortung eines Schreibsubjekts. Sondern sie gehen auf einen den Schreibenden verwandelnden Anruf und Befehl zurück. Hierdurch wird das Schreiben zum Schauplatz eines Anderen, nämlich Gottes dessen Autorität die Schrift heiligt. So erst wird diese zur Apoklypsis. 2. ist dadurch die apokalyptische Rede der Arbitrarität und Konventionalität der Sprache entzogen. Die Sprachzeichen sind die Gegenwart des Wesens der Sache, dessen also, "was geschehen muß".

Bis heute überleben wir nur deswegen, weil zwischen der apokalyptischen Schrift, die präsentisch erfüllt ist von dem, was sein muß, und dem, was sein wird - dem Ende also -, dennoch ein minimaler Spalt, die kleinstmögliche Differenz zwischen Signifikat und Signifikant offenbleibt. Dieser Spalt enthält die winzige, aber qualitativ großartige Perspektive einer Hoffnung auf Rettung, auf Umkehr und Verwandlung, auf Entkommen dem Tode.

3. ist die apokalyptische Schrift eine Übertragung der ihr sprachontologisch akustischen und optischen Ereignisse, der Stimmen und Bilder, die gewaltsam vom Schreibenden Besitz ergreifen: gegen seine Angst und seinen Widerstand. Stimme und Bild sind der Schrift vorgelagerte mediale Ereignisse über die der Schreiber nicht Herr ist, sondern die ihm widerfahren. Schrift ist erlittenes (pathisches) Bezeugen der Stimmen und Bilder; darum ist der Autor Johannes "Knecht" und nicht Herr. 4. In den Visionsreihen selbst spielt die Schrift jedoch eine bedeutende Rolle. Die Visionen sind der "Film" der Schrift, die Visualisierung nämlich der siebenfach versiegelten Buchrolle. Dem Öffnen der Buchsiegel entspringen die Bilder und Stimmen (Apok. 6, 1-8, 1). Ferner: Vom "starken Engel" der Wahrheit wird Johannes ein Buch zum Verschlingen überreicht: Apokalypse ist inkorporierte Schrift, süß im Munde, bitter im Magen, ein Bittersüß, das Oxymoron des Eros, womit auf die Körperlichkeit der Schrift angespielt wird (Apok. 10,1-11). Man darf sagen: die apokalyptische Sprechweise realisiert jene Dimensionen der Sprache, die nicht durch die Intersubjektivität propositionaler Gehalte von Sätzen, sondern durch die Unwiederholbarkeit eines den ganzen Körper ergreifenden Einschreibungsereignisses ausgezeichnet sind. Ferner wird das Weltgericht als Schreibszene geschildert: Urteile ergehen schriftlich über jeden einzelnen nach Maßgabe dessen, was "in den Büchern geschrieben stand, nach ihren Werken" (Apok. 20,12); Rettung heißt: ins "Buch des Lebens" eingeschrieben zu werden. Gott verfügt über das universale Personenregister in Form eines lückenlosen Schriftarchivs.

5. Das Einzigartige der apokalyptischen Schrift - sosehr sie sich auch aus apokalyptischer Rhetorik herleitet - macht den Schreibenden zum subiectum, zum Unterworfenen der Sprache, die ihm jede Subjektivität, jede Souveränität verwehrt. Paradox gründet gerade darin die unumstößliche Gewißheit und Übersubjektivität der apokalyptischen Sprache. In der Apokalypse spricht nicht eine Stimme im dialogischen Geflecht mit vielen anderen, sondern die einzig-eine Stimme, auf der Sprache überhaupt beruht. Das ist die ungeheure Anmaßung und Zumutung der apokalyptischen Sprechweise .

6. Die apokalyptische Sprache ist also eine sämtliche Hörersubjekte zwingend in An-Spruch nehmende Botschaft, die in seiner singulären Situation einem stimmen- und bildererfüllten Schriftmedium durch den "despotischen Signifikanten" (Deleuze/Guattari), nämlich durch die Autorität Gott, eingespeist wird.

7. Die apokalyptische Sprache erzeugt auf allen Dimensionen All-Sätze: hinsichtlich des Inhalts, der die Summe aller Ereignisse bis zum letzten Glied durchläuft; hinsichtlich der Adressaten, die alle früher, jetzt und künftig Lebenden umfassen (schon bei Johannes meinen die sieben adressierten Gemeinden aufgrund der die Vollständigkeit aller Zahlen enthaltenden Sieben alle Empfänger überhaupt); und hinsichtlich des Sprechers, der als erwählter Einziger das Medium des Allumfassenden, nämlich Gottes und Jesu Christi darstellt.

8. Die zugleich esoterische wie inklusive Sprechweise der Apokalypse ist in sich noch gespalten in das Gesagte und Ungesagte: in der Visionenkette des Johannes (7 Siegel, 7 Posaunen, 7 Schalen) gibt es eine Visionsreihe (7 Donner), die ausdrücklich ins Schweigen versiegelt wird bzw. eine Vision die des siebten Siegels -, die in nichts als einem halbstündigen Schweigen des gesamten Kosmos besteht. Jede apokalyptische Rede enthält derartige Schweigezonen, die ihre Arkanität erhöhen. Als "Offenbarung" der Wahrheit enthält die Apokalypse, anders als die diskursive Wahrheit, die sich vollständig ausspricht, immer hermetische Züge, die durch das Unsagbare, das Verschwiegene, das Verrätselte gebildet werden. Ebenso ist der durchgängig poetische Stil und das metaphorische Verfahren dem geheimnisvollen Grund zwischen dem Sagbaren und dem Unsagbaren geschuldet.


Kants Kritik an der "erfüllten Rede"

Besser verständlich wird nun, was einem der Gründungsväter der Moderne, nämlich Kant, an der apokalyptischen Sprache so mißfallen mußte (wobei Kant nicht direkt auf die Apokalypse Bezug nimmt, sondern auf die Philosophie, die sich auf "höhere Inspiration" beruft, also auf die gesamte hermetische, besonders neoplatonische Tradition). [7] Als irrational und unwissenschaftlich enthüllt Kant jene Sprechweisen, in denen jemand auf geheimnisvolle Weise die Wahrheit "in sich" selbst gefunden zu haben beansprucht: durch Initiation, Inspiration, durch Orakel, durch intellektuelle Anschauung, durch Magie, durch Gefühl und Genuß, durch Ahnung und Schwärmerei, durch "mystischen Takt" und "Übersprung (salto mortale)" oder "übernatürliche Mitteilung". [8] Dadurch entstehe eine Sprache, die eine Grundbedingung der Moderne, nämlich wahrheitsfähige Sätze derart zu bilden, daß man sie "allgemein mitteilen können" (Ton A 387) muß, auf sträflichste und arroganteste verletze. Die solcherart "ästhetische Vorstellungsart" (Ton A 425) der Philosophie widerstreitet der Diskursdifferenzierung von Wissenschaft und Poesie; sie bedient sich der Bilder, Analogien und Stimmen, wo sinnlichempirische Anschauung erfordert, und der divinatorischen Vision, wo Begriffsarbeit vonnöten sei. (Man erinnere das Habermassche Verdikt gegen Diskursmischung, das er besonders gegen Derrida ausspielt. [9] ) Für Kant bedeutet eine solche Sprache den ""Tod der Philosophie" (Ton A 407) - d. h. derjenigen Philosophie, die Kant als kritischen Grundriß der Moderne entworfen und befestigt hatte. Der eingeweihte Sprechakt, die die Mühe der "herkulischen Arbeit des Selbsterkenntnisses" sparende, "nichts kostende Apotheose von oben herab" (Ton A 390) [10] : darin erkennt Kant den "vornehmen Ton", der sich erhaben dünkt über die bürgerliche Republik der Wissenschaften (Ton A 398/99), die durch das Gleichheitsprinzip gebildet wird: alle müssen arbeiten (niemand darf "geniemäßig" fliegen) und können arbeiten mit denselben Voraussetzungen und unter denselben Bedingungen: den transzendentalen Strukturen der Vernunft.

Drei Jahrzehnte zuvor, im Kampf gegen den erleuchteten Schwärmer und mit Engelszungen prophetisch redenden Emmanuel Swedenborg hatte Kant die "herkulische Arbeit" der Rekonstruktion der aufgeklärten Moderne begonnen. [11] Nun, im Jahr, mit dem auch die Romantik anhebt, bezieht Kant noch einmal Front gegen eine Sprache, die apokalyptisch zu sein vorgibt: offenbarend, enthüllend, hermetisch - und fürchtet, beim Wuchern solcher Diskurse des göttlichen Wahnsinns, den Tod dessen, was sein Lebenswerk ist: Begründung der Moderne als philosophische Aufklärung. - Sollte die Postmoderne durch delirierende Sprechweisen gekennzeichnet sein (was ihr gern vorgeworfen wird), wäre sie in der Tat eine apokalyptisch umschlagende Moderne. Ob dem freilich, wie zu Kants Zeiten, durch entlarvende Kritik und notfalls durch Einschluß in den Kreis des Wahnsinns (die Postmodernen als "Kandidaten des Hospitals") zu begegnen ist, wäre zu fragen.


Apokalypse von unten, nicht vornehm

Auch hier hilft ein Blick in die Geschichte weiter. Zunächst ist es falsch, im "apokalyptischen Ton" etwas Vornehmes - "von oben herab" - zu identifizieren. Der Apokalyptiker Johannes dieser für viele - ist ein Verfolgter, Gefolterter, dann Exilierter und sendet seine Offenbarung von der Insel Patmos, auf die er deportiert ist, den bedrängten Gemeinden Kleinasiens zu als Trost in der Not. Die Apokalypse setzt den "Ton" der aus der Mitte des Volkes erstandenen alttestamentlichen Propheten fort - gegen die herrschenden Cliquen an Hof und Tempel, gegen die Schriftmonopolisten und die sozial Ungerechten. Und die Apokalypse beerbt die Trauer und die Hoffnung des gefangenen, unter Tyrannei leidenden Volkes Israel. Die Apokalypse ist also selbst eine Wurzel der Kritik - ja, sie ist Kritik - in jenen Formen, die, entgegen der "rationalen" Rede der Vornehmen, der Herrschenden und Diskursmächtigen, sich der poetischen Bilder bedient, welche den Bedrängten und Verfolgten zugänglich sind. Das Elitäre ist nicht das Vornehme, sondern entspringt als Umkehrfigur einer (oft genug plebejischen) Hoffnung: daß nämlich diejenigen, die jetzt in Angst und Unterdrückung leben, nach dem apokalyptischen Umschlagen der Geschichte, zu den Geretteten - zur "Elite" - gehören mögen. Eine Redefigur, die bis hin zur Marxschen Dialektik der Befreiung der unterdrückten Klassen im Reich des Kommunismus nahezu alle kritischen Impulse mit Energie sättigt. [12] Das Elitäre enthält also gerade keine "adlige" Distinktion, sondern ist die religiöse, vor-philosophische Figur der Befreiung der materiell, sozial, religiös oder psychisch Unterdrückten: seien es um 100 n. Chr. die Christen, seien es im Mittelalter die plebejischen Häretiker, seien es in der Renaissance die Ketzer, radikalen Protestanten und Bauern, seien es im 19. Jahrhundert die verelendeten Proleten .

Ferner ist die Apokalypse keine Metaphysik der Katastrophe schmackhaftes Diner für Intellektuelle im Grand Hotel Abgrund -, sondern eine Theologie der Hoffnung, welche die Geschichte nicht in der "Logik des Zerfalls" (Adorno), sondern im Licht des Heils rekonstruiert. Die apokalyptische Rede ist eine gewaltige Investition des Glaubens gegen den Augenschein des Realen, worin die Geschichte im Bild des ewigen Siegs der Gewalthaber erscheint. Die Apokalypse ist jene Schrift, die das Gewaltmonopol des Staates und der Herrschenden bestreitet und - theologisch - erlaubt, in grandiosen Rachephantasien den Untergang eines ins Zeichen der tyrannischen Willkür getretenen Geschichte zu feiern. Das konnte man, wie Thomas Müntzer tat, als Rechtfertigung revolutionärer Gegengewalt lesen. Zum Bösen, das alle unter seinen Befehl oder seine Verführung subsumieren will, gehören zwar potentiell alle, zuerst aber und sicher die Mächtigen: schon bei Johannes. Im Blutstrom des Untergangs, den sadistischen Orgien und kosmischen Katastrophen wird die Gerechtigkeit hergestellt, nach der die geschundenen Existenzen dürsten. Über den bestialischen Aggressivitäten der Vision vergaß man, daß es sich dabei um Aggression gegen die Aggression handelt; über dem Blutrausch des absoluten Krieges vergaß man, daß es sich um einen Krieg gegen den Krieg handelte; über den wüsten Naturkatastrophen der Apokalypse vergaß man, daß sie gegen die menschengemachten Katastrophen gerichtet waren; über den orgiastischen Untergängen vergaß man, daß sie der Erzeugung des Paradieses dienten: kein Hunger und Durst, "jede Träne" abgewischt "von ihren Augen", gestilltes Sehnen in den "Wassern der Lebensquelle" (Apok. 7,16-17).

Ohne Zweifel bestand ein Großteil der historischen Anziehungskraft der Apokalypse in der Rechtfertigung der unbändigen Gewalt und des Rachedurstes, die in der geschundenen Kreatur toben. Es ist gut zu wissen, daß auf dem Schwert, das gegen den ungerechten Staat erhoben wird, Segen und Recht Gottes liegen kann. Die alte Welt soll untergehen: Apokalypse ist Ausdruck der Sehnsucht. An die Stelle des Alten tritt das 1000jährige Reich der Gerechtigkeit oder, noch grandioser, ein "neuer Himmel", eine "neue Erde", ein "neues Jerusalem", dessen apokalyptische Vision eine zu höchster Kunst und Symmetrie gesteigerte Stadtarchitektur darstellt: Urbild aller Architekturentwürfe der Utopisten (Apok. 20, 1 - 6, 2 1, 1- 22, 15).


Apokalyptische Kurzschlüsse; Aufklärung als Anti-Apokalyptik

Zur Geschichte der Apokalypse gehört ihre zunehmende Säkularisierung - und vielleicht ist das der Beginn ihres wirklichen Eintritts. Die Apokalypse wird zum Bildreservoir, aus dem säkulare Interessen sich sättigen. Damit zugleich werden die heiligen Visionen arbiträr; sie werden instrumentalisiert in völlig entgegengesetzte Richtungen.

So kleiden sich die Kreuzritter buchstäblich ins Gewand des eschatologischen Heeres und rechtfertigen den Massenmord an Muslims durch Zitierung von Apok. 19,11 ff. (so 1099 in Jerusalem). Kolumbus glaubte bei seinen Entdeckungen, das Eschaton, das Paradies gefunden zu haben; die endzeitliche Missionsarbeit an den Heiden in den westindischen Kolonien eröffnet die ersten Genozide der Neuzeit; Hauptsache, die toten Indios sind getauft. Ganz anders das Endzeitbewußtsein von Thomas Müntzer: er verwechselt die materiell motivierte, revolutionäre Bewegung der Bauern mit der Visionswelt des eschatologischen Endkampfes: im Augenblick der Schlacht befinden sich die von ihm in einen Zustand von Angst und Heilserwartung versetzten Wehrhaufen in absoluter Verteidigungsunfähigkeit und werden vom Fürstenheer abgeschlachtet: 8000 tote Bauern an einem Tag. Die Münsterschen Wiedertäufer errichten ein Neues Jerusalem mit einem messianischen König an der Spitze und halten sich einige Monate gegen die Belagerung nur deswegen, weil das Neue Jerusalem Züge eines straff organisierten, wehrhaften Terrorsystems annimmt. Albrecht Dürer gestaltet die Apokalypse in seinem weltberühmten Holzschnitt-Zyklus zum Zeugnis einer versteckten, doch entzifferbaren ketzerischen Kritik an Kirche, Staat und weltlichen Oberschichten. [13]

Bei diesen Beispielen handelt es sich immer um intuitive Verkoppelungen der Apokalypse mit historischen Situationen, wodurch ein - oft wirklich katastrophisches - Gemenge von "heiliger Rede" und säkularem Handlungsbedürfnis entsteht. Doch ist in keinem Fall der heilsgeschichtliche Rahmen der blutigen Opfergänge in Frage gestellt. In den folgenden Jahrhunderten jedoch entwickelt sich - auf dem Boden des Absolutismus und der katholischen wie protestantischen Orthodoxien, denen jede Nähe zur Apokalypse gefährlich erscheint - eine immer stärkere Kritik der Apokalypse selbst, bis diese der nur noch immanent arbeitenden Ideologie und Sprachkritik der Aufklärung verfällt. Apokalyptiker sind seit her Schwärmer, die den evolutionären Gang der Geschichte durch ihre überschwengliche Erwartung eines qualitativen Sprungs der Entwicklung stören. Diese Irrationalisierung der Apokalypse ist ein Effekt zunehmender Säkularisierung und der Überführung der Heilsgeschichte in Menschheitsgeschichte. Die Schillersche Gleichsetzung von Weltgericht und Weltgeschichte [14] besiegelt das Immanentwerden des apokalyptischen Dramas, insofern die Qualität des historischen Prozesses - Vermehrung der Übel oder Aufstieg zur Freiheit - nicht mehr von der Gerechtigkeit und Gnade Gottes, sondern allein von der Frage abhängig gemacht wird, ob Geschichte zum menschengewirkten Reich der Vernunft werden kann oder nicht.

Nachdem durch das Erdbeben von Lissabon 1755 die Theodizee als philosophisch-theologisches Bollwerk gegen die Apokalypse Angst zusammengebrochen war [15] , konnte es für die Meister der Aufklärung kein anderes Palliativ gegen die Katastrophe mehr geben als staatliche Ordnung, Gewaltmonopol, sittliche Vernunft, wissenschaftliche Disziplin und technischen Fortschritt. Eine sich mit ihrem Anderen vermittelnde, dieses dabei jedoch überwindende Vernunft scheint die einzig mögliche Option der säkularen Geschichte zu sein, damit diese nicht als ganze - was die de Sadesche Provokation ist - der Faszination durch das Böse erliegt. Die Apokalypse wird zum geheimen Horror im Rücken der Rationalität. Die erlösungslose Vernunft kann nichts tun, als zur Arbeit aufzurufen und Mehrheiten zu suchen für ihr Versprechen, daß sie allein der legitime Erbe aller Hoffnungen auf besseres Leben sei: befriedetes Dasein nicht am Ende aller Tage, sondern häppchenweise zn the long run of history. Fortschrittsglaube ist der Versuch einer rationalen Überbietung der Apokalypse-Angst und Apokalypse-Hoffnung. Vom Ort der befestigten Rationalität aus wird apokalyptisches Denken denunziert. Dieses quält die Konsenssucht des vernünftigen Diskurses. In seiner schwarzen Widersetzlichkeit, seinem disziplinlosen Beharren auf unmittelbare Erfüllung der Wünsche, mit seiner wilden Untergangslust und zugleich panischen Angst vor dem Ende, mit seinem kindlichen Nicht Warten-Wollen, mit seiner rigorosen Vermüllung alles Bestehenden in der Senkgrube der Geschichte, mit seiner unversöhnlichen Aggression auf die nicht eben paradiesischen, doch aber akzeptablen Errungenschaften der auf Melioration zielenden Anstrengungen -: mit derlei Attitüden wird das Apokalyptische zum Widerborst der Moderne schon zu Zeiten ihrer jugendfrohen Aufschwünge. Die Moderne ist radikale Anti-Apokalypse - und hierin liegt einer der Gründe für die periodische Heimsuchung der modernen Gesellschaften durch die Gespenster des großen Weltfinales .


Das Erhabene als die apokalyptische Signatur des Zeitalters

Wo, wie in der Aufklärung, die Katastrophe nicht mehr als Durchgang oder Umschlag zum geschichtsjenseitigen Millennium oder zur zweiten Schöpfung Gottes, erstrahlend im Neuen Jerusalem, geglaubt werden kann; wo folglich die Angst vor dem Untergang nicht mehr durch die Theologie der Heilsgeschichte abgewehrt werden kann, weil die Bühne des apokalyptischen Welttheaters zur tabula rasa abgeräumt ist -: dort trifft die Wucht des Unglücks, trifft der Tod, trifft der Massenmord, treffen Naturkatastrophen und Krieg die Menschen auf ihrem irgendwo in ewiger Einsamkeit durch das leere All kreisenden Kleinstplaneten ohne jeden Rückhalt. In ihrem bilderreichen Spektakel war die Apokalypse immer die versuchte Antwort auf die Frage, ob in Lagen der Ohnmacht, des Schreckens und des Unterworfenseins, d.h. des subjectum Seins, ob also in Lagen, in denen der Mensch nicht souverän, sondern pathisch, nicht Herr, sondern Opfer ist, Möglichkeiten der Selbsterhaltung offenbleiben. Apokalypse ist eine metaphysische Strategie der Selbsterhaltung an der Grenze der absoluten Negation, des Nichts, dessen "Schlund" sich gegen alle Menschengeschichte zu behaupten droht.

Die Zerstörung der Apokalypse durch aufklärerische Ideologiekritik - dies ist ein zentraler Gründungsakt der Moderne - hat nun keineswegs die Ängste stillgestellt, die im apokalyptischen Drama arbeiteten. Freilich wechselt in der Aufklärung der Titel, unter dem die Katastrophe und das Ende abgehandelt werden: nicht mehr das Apokalyptische, sondern das Erhabene. [16]

Auch hier ist Kant die Figur einer Epochenschwelle, jenseits derer das onto-theologische Drama der Apokalypse nunmehr spezifisch modern - als subjektinterne Herausforderung an die Kraft rationaler Selbstbehauptung abgehandelt wird. Die Ästhetik des Erhabenen ist ein Zentrum der Moderne. Dies deswegen, weil Kant in äußerster Radikalität die apokalyptische Grunderfahrung, nämlich gegen Mächte, die das Maß des Menschen übersteigen, keinen immanenten Schutz zu haben weil also Kant diese Erfahrung umkehrt zu einem großartigen Triumph der Vernunft über den apokalyptischen Drachen, das verschlingende Chaos, den Feuersturm von Natur und Geschichte.

"Erhaben nennen wir das, was schlechthin groß ist" (KdU B 80). [17] Dies ist - neben dem quantitativ Unermeßlichen - das im Vergleich zu unserer Kraft Dynamisch-Übermächtige: die Gewalten der Natur und des Krieges. Kant hat sehr genau analysiert, in welcher Weise unser Vermögen der sinnlichen Anschauung durch das schlechthin Große überfordert, ja niedergeschlagen wird, wodurch wir in den Strudel einer namenlosen Angst gerissen zu werden drohen. [18] Darin aber wäre der Kern des Selbst, nämlich das Subjekt der Vernunft, ausgelöscht. Bei Strafe des Untergangs des gesamten Programms der Moderne darf dies nicht sein.

In der Ästhetik des Erhabenen also geht es um nichts als die nackte Angst vor dem Untergang in einer erlösungslosen Welt bereits dies macht sie postmodern. Und die Absicht Kants ist es, gegenüber einer schlechthin überwältigenden, fremden Macht eine diese noch überbietende, unangreifbare Position der Selbstbehauptung der Vernunft zu gewinnen. Kant weiß, daß das empirische, also empfindende, leidende, sagen wir: lebendige Real Subjekt dazu keine Chance hat. Im Grenzfall, nämlich räumlich zu nahe am Erdbeben oder dem Bombeneinschlag, geht es so bedeutungslos unter wie Tier oder Pflanze. Dieses Leib-Subjekt Mensch ist rerttungslos: es ist strukturell ausgeliefert und wird von Kant noch einmal ausgeliefert - gewissermaßen als Ritual-Opfer für den Dämon der Zerstörung, den verschlingenden Abgrund.

Denn bei der Strategie der Selbstbehauptung im Erhabenen kommt es auf das Reale nicht an, oder genauer: das Reale wird durch einen genialen Trick verwandelt zum bloßen Punkt, von dem aus wie von einem Widerlager das Vernunft-Subjekt sich abstößt in die Sphäre der intelligiblen Selbstbehauptung. Diese meint genau nicht den Erhalt des empirischen Ich) sondern die Selbstaffirmation der in der Katastrophe triumphierenden Vernunft. Auf die Spitze getrieben-: selbst in der totalen Katastrophe, die jedes menschliche Vorstellungsvermögen übertrifft und die reale Menschheit vernichtet, kommt es allein darauf an, ob dabei die Katastrophe so gedacht werden kann, daß in ihr, durch sie hindurch und über sie hinweg, die Vernunft triumphiert.

Erkennbar ist: es geht in der modernen Apokalypse, dem Erhabenen, nicht um reales Überleben (Mythologie der "Auferstehung des Fleisches"); im Gegenteil ist dies ein bloßes Begehren des Leibes, das rückhaltlos zu entäußern ist. Damit wird die Überschreibung der gesamten menschlichen Energie ins Imaginäre möglich: den Untergang unserer selbst, im Extrem den der Menschheit so zu denken, daß darin nicht die Willkür der totalen Katastrophe wirkt, sondern diese das "Schema" (KdU B 110) der symbolischen Selbstdarstellung der Vernunft abgeben kann. Hiermit ist ästhetikgeschichtlich der Übergang vom Körper-Heroismus des herkulischen Helden (dem vormodernen Dummkopf) zum Abstraktions Heroismus der entkörperten Vernunft vollzogen, ohne daß dieser Übergang mit einem totalen Spannungsverlust bezahlt wer den muß. Im Gegenteil ist das Erhabene das spirituelle Atomkraftwerk der Vernunft: es entzieht den Sinnen in einer eben diesen Sinnen absolut unvorstellbaren Form deren gesamte Energie Der Körper ist ausgebrannter Brennstab der Geschichte. Mit dieser kühnen Wende in der Theorie des Erhabenen setzt sich Kant bis heute an die Spitze der Moderne: lange vor der technischen Machbarkeit des menschheitlichen Finales hat Kant ein - wie ich es nennen möchte - kognitivistisches Psychodrama entworfen, um den Untergang zu einem Triumph umzudenken. Und vermutlich hat er damit völlig recht: Kant hat, an der Schwelle des technischen Zeitalters, das den traditionellen Helden erübrigt, bereits abgesehen, daß man der von allem religiösen Trost verlassenen Angst nur durch vorauseilendes Entgegenkommen begegnen kann. Im globalen oder auch kosmischen Maßstab funktionalisiert der erhabene Mensch die Angst durch deren recycling im ästhetischen Verbrennungsprozeß des Erhabenen so, daß der Mensch gerade in der angsterregenden Katastrophe sich als Vernunft-Subjekt herausprozessiert. Diesen Gedanken muß man nur noch auf den neuesten technologischen Stand bringen, um den Effekt zu haben daß die Erhabenheit - die Selbstbehauptung der Vernunft - auch darin bestehen könnte, und dürfte, daß durch die selbstentfesselte Weltzerstörung der Mensch sein Bild ins Triumphal-Zeitlose erhebt. Nicht viel anderes hatte der "göttliche" Marquis de Sade über den Antrieb der Rationalität längst behauptet. [19]


Darstellbarkeit und Krieg der modernen Welt

Kant entwickelt die formale Struktur des Erhabenen daraus, daß es das Maß unserer Vor- und Darstellungskraft quantitativ und qualitativ übersteigt. Dies meint die Bestimmung des Erhabenen als das "schlechthin Große". Das Erhabene ist also nicht Gegenstand der Sinne oder der Einbildungskraft, sondern allein des Denkens. Dies scheint der Grund für das zu sein, was Günter Anders schon vor 25 Jahren unsere Apokalypse-Blindheit nannte. [20] Die modernen Apokalypsen kann man weder sehen noch sich vorstellen. G. Anders erläutert dies damit, daß es in unserer Kultur eine katastrophale Ungleichzeitigkeit zwischen der Entwicklung der kognitivtechnischen Vermögen und dem imaginativen Vermögen gäbe. Wir könnten uns konkret, anschaulich und praktisch folgenreich die Bedeutung dessen nicht vorstellen, was wir tatsächlich tun: den Atomkrieg vorbereiten. Bei G. Anders klingt dies noch so, als könnten wir die Einbildungskraft, die Bedeutungen realisiert, noch nachholend entwickeln und damit der drohenden Apokalypse ansichtig werden, also sie vermeiden.

Kant ist darin weniger naiv. Er weiß, daß man in der Moderne weder, wie Johannes, der Apokalypse visionär ansichtig werden, noch sie sich durch andere ästhetische Darstellungsformen vorstellen kann. Die Moderne besteht darin, daß sie eine geschichtliche Situation herstellt, die man sich strukturell nicht mehr vorstellen und die darum auch niemand mehr darstellen kann, und die man darum in dem Augenblick, wo man sie sieht, schon nicht mehr sieht, weil sie instantiell blendet: - im Atomblitz. Apokalypse also ist nur noch zu denken. Das Denken aber in seiner sozialen Institutionalisierung als Wissenschaft konzentriert sich heute überwiegend auf die Vervielfachung der Apokalypsen, nicht auf deren kognitive Durchdringung. In dieser Frage hätte das Denken sich auch nicht auf die als nahe bevorstehend befürchtete oder erwünschte Katastrophe zu richten, sondern historisch aufs Vergangene: die Apokalypsen hinter uns und in uns. Die Ästhetik des Erhabenen erlaubt dabei die Entzifferung des ästhetischen Genusses, der in den Katastrophen herrschte und herrscht. Sie liefert die Kritik der Verführung zum Ende, einer Verführung, die in allen Apokalypsen und mithin auch in dem anthropogenen Untergang den wesentlichen Antrieb darstellt. Im vordergründigen Schein ist die Geschichte der Versuch, eine zweite, sichere, uns angemessene Welt zu schöpfen. Herausgekommen ist eine fugenlose Welt jenseits der Darstellbarkeit, eine unvorstellbare, erhabene Welt. Sie ist das Ergebnis der schon hinter uns liegenden Geschichte des apokalyptischen Impulses in seiner modernen Variante. Hierin herrscht der unausgesprochene Imperativ: lasse die Welt der Objekte, zu denen wir selbst ebenso wie die natürlichen und technischen Dinge gehören, hinter dir und trete in die imaginäre Welt des Erhabenen ein: in die Lust und die Angst, in das Beben und den Triumph, worin die schlechthin verwirrende, undarstellbare Größe der produzierten Welt überboten wird durch Reduktion auf den einen Nenner: ihre durch den Menschen hergestellte Zerstörung.

Kant hatte völlig recht, als er, gegenüber dem langen Frieden einer im Mark erschlaffenden Handelsgesellschaft, den Krieg den er freilich für die "Ordnung und Heiligachtung der bürgerlichen Rechte" (KdU B 106/07) geführt sehen wollte, als einzige den Namen der Erhabenheit verdienende Sozialaktion nannte. In diesem Sinn sind nach Kant die Kriege auch geführt worden: gegenüber der faden Lustlosigkeit des Zivilstandes die archaische Möglichkeit zur Statuierung erhabener Größe inmitten des apokalyptischen Infernos. [21] Der Massentod der Menschen konnte dabei als Triumph der unvordenklichen Größe des Vaterlandes erlebt werden. In der Erhabenheit des Krieges wird kollektiv gelernt, was Zielpunkt aller Apokalypsen war: daß der physische Untergang die Rettung des idealen Selbst bedeuten kann, ja bedeuten muß. Unterdessen gibt es, im Blick auf die Fronten der Zerstörung, keine Vaterländer mehr: in der Vergiftung der vier Elemente so wenig wie in der Ubiquität des Aids-Virus oder im atomaren Endschlag. Die Ästhetik der Erhabenheit, als Struktur, die in den anthropogenen Katastrophenszenarien unserer Tage wirkt, ist die Verführung, der Angst vor dem Ende dadurch zu entkommen, daß man es macht. Kant hatte das Erhabene zwar vor allem als denkerischen Akt der inneren Selbstaffirmation des Vernunft-Subjekts entwickelt; doch hat er mit der Erhabenheit des Krieges genau jene Richtung gewiesen, worin noch die letzte Provokation der zur Souveränität entschlossenen Macht überboten werden kann: deren Ziel wäre, die Erde als grandioses Denkmal der eigenen Superpotenz durch das stumme All zu schicken. Die menschenlose Erde als Groß-Satellit mit der immer einen Botschaft: das, was das Maß unserer Einbildungskraft sprengt, haben wir, uns selbst überbietend, als Techniten des Untergangs gleichwohl machen können. Es ist kein erhabeneres Kunstwerk denkbar als die solcherart verlassene, stumme Erde.

Kritik der Apokalypse kann sich darum nicht in der Kritik der heute umlaufenden postmodernen Propheten erschöpfen. Viel wichtiger ist die Kritik des seltsamen Angstlust-Syndroms, das, in der Gestalt des Erhabenen der Vernunft, in der Moderne das Erbe der theologischen Apokalyptiken übernommen hat.


Anmerkungen

[ 1 ]
Jacques Derrida: Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie. Und: No Apocalypse, not now (full speed ahead, seven missiles, seven missives), in: Ders.: Apokalypse. Graz und Wien 1985. Man wird sehen, wie sehr sich meine Überlegungen von den anregenden Arbeiten Derridas, die hier den Ausgang bilden, unterscheiden.

[ 2 ]
Immanuel Kant: Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, 1796. Im Text abgekürzt zitiert als: "Ton A + Seitenzahl". Hier: Ton A 390.

[ 3 ]
Derrida [Anm . 1], S .55

[ 4 ]
Paul Konrad Kurz: Apokalyptische Zeit. Zur Literatur der mittleren 80erJahre, Frankfurt/M. 1987.

[ 5 ]
Vgl. Derrida [Anm I],S.12 ff

[ 6 ]
Klaus Koch u. Johann Michael Schmidt (Hg.) Apokalyptik, Darmstadt 1982. - Jürgen Roloff Die Offenbarung des Johannes, Zürich 1984, S. 11ff. - Eduard Lohse: Die Offenbarung des Johannes, Göttingen 1983, S. 3 ff.

[ 7 ]
Gerade eine auf Sprechweisen konzentrierte Analyse läßt erkennen, daß sich der Text Kants auch auf apokalyptische Reden beziehen läßt. Im übrigen gelten auf dem Höhepunkt der Aufklärung Neuplatoniker, Hermetiker und religiöse Schwärmer gleichermaßen als "Verrückte" des philosophischen Diskurses.

[ 8 ]
Kant: Ton A 387ff., 396/97, 406/07.

[ 9 ]
Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/ M. 1985, S.219ff.

[ 10 ]
Schön ist, wie Derrida zeigen kann, daß die "herkulische Arbeit" der Philosophie gegen den Schwärmerton sich wehren muß, um der, wie Kant sagt, "Entmannung" (Ton A 412/13) zu entgehen. Der philosophischen Mannes-Arbeit winkt als Lohn die Entschleierung der Isis was Neuplatoniker sich allenfalls einbilden.

[ 11 ]
Dazu Hartmut und Gernot Böhme: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, 2. Aufl. 1985, S. 250ff.

[ 12 ]
Ein viel eher als Marx in der Fortsetzung der Apokalypse stehender Vertreter der Arbeiterbewegung ist Wilhelm Weitling. Vgl. dazu. Wolf Schäfer: Die unvertraute Moderne. Historische Umrisse einer anderen Natur- und Sozialgeschichte, Frankfurt/M. 198S, S. 18-113.

[ 13 ]
Vgl. Norman Cohn: Das Ringen um das tausendjährige Reich. Resolutionärer Messianismus und sein Fortleben in den modernen totalitären Bewegungen, Bern und München 1961. Alexander Perrig: Albrecht Dürer oder Die Heimlichkeit der deutschen Ketzerei. Die Apokalypse Dürers und andere Werke von 1495 bis 1513, Weinheim 1987.

[ 14 ]
In Schillers Gedicht: Resignation. Eine Phantasie (1786) findet sich der Vers: "Die Weltgeschichte ist das Weltgericht." (Horenausgabe Bd. 3, S. 7) Diesen Gedanken nimmt Hegel in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts ¤ 340 auf. Vgl. dazu: Klaus Vondung: Geschichte als Weltgericht. Genesis und Degradation einer Symbolik, in: Ders. (Hg.): Kriegserlebnis. Der erste Weltkrieg in der literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen, Göttingen 1980, S. 70ff.

[ 15 ]
T. D. Kendrick: The Lisbon Earthquake, London 1956. Wilhelm Lütgert: Die Erschütterung des Optimismus durch das Erdbeben von Lissabon 1755, Gütersloh 190l (= Beitr. z. Förderung christl. Theologie Jg. 5, H. 3). - Harald Weinrich: Literaturgeschichte eines Weltereignisses: Das Erdbeben von Lissabon, in: Ders.: Literatur für Leser, Stuttgart 1971, S. 6476. Thomas E. Bourke: Vorsehung und Katastrophe. Voltaires "Poeme sur le desastre de Lisbonne" und Kleists "Erdbeben in Chili", in: K. Richter/3. Schönert (Hg.): Klassik und Moderne. FS W Müllerseidel, Stuttgart 1983, S. 228-S3

[ 16 ]
Die Postmoderne in der Signatur des Erhabenen zu lesen, ist eine Idee, die zuerst Jean-Fransois Lyotard entwickelt hat (Beantwortung der Frage: Was ist postmodern? in: Tumult No. 4, 1982, S. 13 l-42. Der Auffassung Lyotards wird im folgenden allerdings wenig entsprochen.

[ 17 ]
beziehe mich im folgenden vor allem auf die ¤¤ 23-29 der Kritik der Urteilskraft.

[ 18 ]
Dazu H. u. G. Böhme [Anm. 1l], 215ff. Im folgenden gehe ich über die dort entwickelte Deutung hinaus.

[ 19 ]
Vgl. S. 274ff. dieses Bandes.

[ 20 ]
Günter Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Resolution, 7. Aufl. München 1987, S. 21 ff., 233-308.

[ 21 ]
Vgl. den von Klaus Vondung herausgegebenen Band: Kriegserlebnis [Anm. 14], S. 62-89, goff., 262ff.




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