Hartmut Böhme: Natur und Subjekt. Frankfurt am Main 1988.
II. Subjektgeschichte


Ruinen - Landschaften

Zum Verhältnis von Naturgeschichte und Allegorie
in den späten Filmen von Andrej Tarkowskij

Eines Schattens Traum ist der Mensch (Pindar)


Tarkowskijs Filme

Die Filme des russischen Regisseurs Andrej Tarkowskij sind seit jeher schwierig. Seit "Solaris" (1972) werden sie immer hermetischer. Das macht zum einen ihre philosophisch-religiöse Dimension, zum anderen ihre artifizielle Bildästhetik; sie verarbeitet unterschiedlichste ikonographische Traditionen seit der Renaissance. Wenn es Tarkoswkij, wie Kritiker wiederholt feststellten, um die Erforschung der condition humaine geht, dann ist das ein anspruchsvolles ästhetisches und philosophisches Programm: die filmische Auseinandersetzung mit einer Sinnkrise, von der alle Bereiche der Gesellschaft erfaßt zu sein scheinen. Bis hin zu "Nostalghia" werden einzelne Sinnprovinzen - wie die Religion die Wissenschaft, die Kunst, die Heimat und die Fremde, die eigene Lebensgeschichte, die Familie, die Natur- in dem immer depressiveren Bemühen erkundet, der verwüsteten Geschichte die Möglichkeit "geglückten Lebens" abzugewinnen. Die Besonderheit Tarkowskijs besteht weniger in seinem Geschichtspessimismus, den er mit vielen teilt, als in der besonderen Ästhetik, in der geschichtliche Reflexion hier Gestalt annimmt: seinem ",melancholischen Allegorismus". Bei ihm wird Geschichte in Allegorien des Verfalls reflektiert. Das verbindet sein Kino mit der Allegorie und Emblemkunst vom 17. Jahrhundert bis zur Romantik, zugleich aber auch mit bestimmten Formen der modernen Kunst, in denen das allegorische Verfahren poetologisch rehabilitiert wird. Allegorische Kunst heißt immer Reflexion des Verhältnisses von Naturgeschichte und Zivilisation. Sie tendiert dazu, Zivilisationsprozesse und -objekte in Bildern des Verfalls zu arrangieren - in Emblemen, die rücksichtslos die Macht der Natur demonstrieren -: gleichgültig verrinnende Zeit und Tod.

Tarkowskij sieht sich ungern interpretiert. Das haben viele Kritiker erfahren. Das mag elitäre Abwehrgeste sein, ist aber auch berechtigtes Mißtrauen gegen den Zwang journalistischer Sinnproduktion. Die Frage ist, ob seine Filme überhaupt "Sinn" in klassischer sinntheoretischer Absicht erzeugen wollen. Seine notorische Abneigung gegen jede "symbolische" oder "metaphorische" Auslegung seiner Filme deutet in diese Richtung. [1] Denn in der Tat ist die symbolische oder metaphorische Relation zwischen Signifikant und Signifikat bei Tarkowskij weitgehend suspendiert. Seine Polemik gegen das Symbol und die Metapher entstammt vielleicht nicht so sehr schlechten Erfahrungen mit "symbolisch deutenden" Kritikern als, prinzipieller, dem Kunstbewußtsein des Allegorikers. Diesem ist eine Ästhetik, in der aus dem "schönen", "erhabenen" oder "tragischen" Zusammenfall von Ding und Bedeutung die "Substanz" geschichtlichen Sinns hervorblitzt, zutiefst suspekt. In diesem Sinn ist kein Bild Tarkowskijs "substantiell". Die höchst künstlichen Arrangements von Bildelementen zu Collagen tendieren zu statuarischen Tableaus, lösen sich immer wieder auf und gehen neue Kombinationen ein; in diesem semiotischen Fluß geht es um den problematischen Akt des Bedeutens selbst. Die allegorische Ästhetik hat ihre Pointe in der sinntheoretischen Reflexion historisch und gesellschaftlich eingespielter Sinnobjektivationen. Wie radikal Tarkowskij dies gelingt, entscheidet letztlich darüber, ob seine Filme ästhetischer Ausdruck privater intellektueller Melancholie sind oder eine sinntheoretisch und geschichtsphilosophisch angemessene Signatur für die Posthistoire darstellen.

Dabei steht thematisch die Frage nach dem Zusammenhang von Naturgeschichte und menschlicher Zivilisation, von kulturellen Sinnentwürfen und Tod im Mittelpunkt. Aus der Form dieses Widerspruchszusammenhangs wird das Profil der aufgeklärten, logozentrischen Gesellschaft erkennbar. Die Filme Tarkowskijs, vor allem "Stalker" (1979) und "Nostalghia" (1982), stellen radikale Herausforderungen an das kulturelle Selbstverständnis der Industriegesellschaften und deren Verhältnis zur "Irrationalität" und vor allem zur Natur dar. Freilich geschieht dies nicht durch eine bildnerische Auseinandersetzung mit den avanciertesten Fronten der Technologieentwicklung oder der gesellschaftlichen Entfremdung- sondern in seltsam "alten" Ikonen. Ich beginne darum mit einigen Konstellationen von Filmszenen mit Werken der Kunstgeschichte, sehr charakteristischen "Einstellungen", in denen die leitenden Fragestellungen bildnerisch schon präsent sind. Sie zu beantworten, bedarf es dann sehr viel weiterer Reflexionsbögen.


Bildkonstellationen

Schwarze Felsmassen geben einen schmalen, bizarr geschnittenen Lichtausschnitt frei. Eine Höhle. Wie Säulen stemmen sich in Jahrmillionen gewachsene Tropfsteine zwischen Felsgrund und schroffe Decke. Im schmalen Lichtstreif zwei Skelette: Steine de Leibes; ähnlich hatte Leonardo die Felsen als Knochen des lebendigen Erdleibs verstanden. Vanitas, Vanitatum, et omnia vanitas. - Es ist das 6. Blatt im Lebensalter-Zyklus von C. D. Friedrich (1826) [siehe Abb. 24].

Seitlich fällt diffuses Licht in einen schmalen Raum. Eine Flasche, eine verdorrte Rose. Ein nahezu skelettiertes Menschenpaar das sich im knöchernen Arm hält. Wachend liegt daneben der Totenhund Anubis (E. M. I. Schmid). Über allem der Schleier uralten, vergilbten Lichts. Nature morte. Eine Szene aus Andre Tarkowskijs Film "Stalker".

Die Ruine eines leicht gekurvten Gewölbegangs. Undeutlicher Übergang von Felsboden zu zerfallenem Mauerwerk. Herabgestürzte Steine. Eine isolierte zweigeschossige Gebäudewand. Pflanzen krallen sich in die Mauern und überwuchern die einst geometrische Klarheit der Architektur. Zwei Figuren betreten den Gewölbegang. Zwei winzige Menschen in der Ferne haben den Weg durchs Gewölbe schon hinter sich. - Kupferstich von Vincenzo Scamozzi aus den Discorsi sopra le Antichita (1582) [siehe Abb. 25] .

Ein zerfallender unterirdischer Kanal, leichte Kurve. Schutt Körniges Sepia-Licht. Von der Decke herunterhängendes Gewebe wie in einer Tropfsteinhöhle. Ein Mann geht quälend langsam, mit den Füßen tastend durch den Gang. Zwei andere warten hinten. Uberlaut tropfendes, rieselndes Wasser. Klirren der Schuhe auf scharfkantigem Steinschutt wie auf berstendem Glas . - Eine Szene aus Andrej Tarkowskijs Film "Stalker" In der Haltung des meditierenden Melancholikers sitzt der Philosoph Demokrit in einem Chaos des Untergangs; antike Trümmer, umgestürzte Obelisken, Mauerreste, zerstörte Statuen. Die Natur stirbt oder ist tot: verwesende Tierkadaver, Knochen, Tier- und Menschenschädel, Baumruinen. Embleme der Vergängnis - gesetzt gegen die demokratische Lehre von der Unzerstörbarkeit der Atome? Christlich klingt die subscriptio dieser Radierung Salvator Rosas (ca. 1662): "Der alles verspottende Demokrit wird gebannt vom Ende aller Dinge" [siehe Abb. 26]. Vanitas Emblematik gegen den Gestus materialistischen Denkens? Gegen die zeitüberdauernden Ansprüche diesseitiger Zivilisation und Philosophie?

Ruinenlandschaft. Stalker liegt rücklings auf einem flach aus dem Wasser ragenden Stein. Sehr langsame Kamerafahrt: ein Kachelboden wird sacht von Wasser überströmt. Im Wasser tauchen undeutlich von "Verwesung" überzogene Dinge auf: eine medizinische Spritze, technisches Gerät, aufgelöstes Papier, Bleche, eine Christus Ikone, eine pistolenartige Waffe, langsam strömende, mullartig aufgequollene Materiereste, Stahlfedern. Im Off eine weibliche Stimme, die aus der Apokalypse des Johannes rezitiert (Off. 6, V. 12-17). Nach dem Schlußwort "und wer kann bestehen ?" lacht sie auf. Spott der Apokalypse auf den Spott Demokrits ? Überbietung des objektiven Geistes durch das vanitas-Wissen?

Zwei Montagen [siehe Abb. 27 und 28]. Die erste: C. D. Friedrich setzt in den Chor einer monumentalen Kirchenruine das Grab Huttens. Die gotische Ruine - es ist die des Klosters Oybin bei Zittau - nimmt die gesamte Bildhöhe ein. Das Kirchendach ist eingestürzt. Die Ruine z. T. überwachsen. Ein Mann betrachtet sinnend das fiktive Grabmal. Er ist vermutlich Görres, der vor der preußischen Reaktion ins Schweizer Exil flüchten mußte. Darauf deuten Inschriften auf dem Grab, die Bezug nehmen auf die in der feudalen Restauration untergegangenen Befreiungswünsche der Bewegungen nach 1813. Trauergebärden über untergegangene Traditionen und mißlungene Versuche patriotischer Identitätsbildung.

Die zweite Montage: in die grandiose Ruine einer romanischen Kathedrale (San Gagano in der Toskana), mit ebenfalls offenem Himmel, montiert Tarkowskij die Vision des sterbenden Schriftstellers Andrej von der verlorenen russischen Heimat, der verlorenen Identität-: sein Haus in einer sanften Mulde, einzelne Bäume, hinten ansteigender Wald; davor ein kleiner Teich, an dessen Rand Andrej lagert, die Hand im Fell eines Hundes, eben des Hundes der visionär hervorgezaubert im Hotelzimmer Andrejs im italienischen Bagno Vignoni auftaucht, sich neben das Bett Andrejs legt der einzige zärtliche Geste im Film "Nostalghia" - seine Hand im Fell des Tiers vergräbt. Bilder des Todes: die Kirchenruinen, die verlorene Heimat, das Exil, der Hund, das Grab, die stillgestellte Zelt - bei Friedrich wie bei Tarkowskij [siehe Abb. 29].


Annäherungen

Langsam kommt eine ernsthafte Beschäftigung mit dem russischen Regisseur in Gang. Maja Josifowna Turowskaja hat die Werkentwicklung Tarkowskijs begleitet und die poetische Bildsprache der Filme, ihren raumzeitlichen Rhythmus und die komplexe motivliche Verflechtung dargestellt. [2] F. Allardt Nostitz [3] hat versucht, den Einfluß der romantischen Literatur und Naturphilosophie (E. T. A. Hoffmann, Novalis, Schelling u.a.) auf Tarkowskij nachzuweisen. Das hat seinen historischen Grund in der bis heute wirksamen Romantik Rezeption in Rußland, die mit Gogol, Turgeniew und Dostojewskij explizit greifbar wird. Tarkowskij kennt Schelling und Baader, Novalis und Kleist, besonders aber E. T. A. Hoffmann, über den er ein Drehbuch geschrieben hat ("Hoffmanniana", 1976). Mag es übertrieben sein, wenn Allardt-Nostitz den "Stalker"-Film wie eine filmische Übersetzung des Ofterdingen-Romans liest, so sind die strukturellen Verwandtschaften zwischen Tarkowskij und der Romantik doch nicht zu übersehen. Ungeklärt bleibt bei Allard-Nostitz, was solche Parallelen bedeuten. Romantik hat Konjunktur, auch politisch. Und so werden auch die Filme Tarkowskijs hierzulande der einschlägigen Szene zu Kultfilmen -: Bebilderungen der neuen Innerlichkeit und Religiosität, narzißtische Melancholie des Sinnzerfalls und der Entfremdung in apokalyptischer Welt. Vor fünfzehn Jahren "sah man Eisenstein-Filme", jetzt "sieht" man Tarkowskij: was läge näher - einer Überlegung Michael Schneiders folgend -, als darin den intellektuellen Umschlag in "adventistische Stimmungen" und eine "Rhetorik der Vergeblicheit" abzulesen (M. Schneider [4] ): Damit hätte man "altlinke Kritik" gewonnen, Analyse aber verloren. Sinnvoller - im Blick auf Tarkowskij - ist der Weg, den Eva M. J. Schmid in ihrer Auslegung von "Nostalghia" geht. [5] Sie verurteilt nicht den Gestus der Melancholie, sondern fragt nach dessen Struktur und Herkunft. Ihre These: die Ästhetik des Films ist enigmatisch; die Bildsprache geht auf die hermetische Welt der Melancholie-Reflexion der europäischen Renaissance und des Barock zurück. Das ist ein fruchtbarer Ansatz, dem freilich noch ein theoretisches Deutungskonzept fehlt. Doch liefert Eva Schmid ikonologische Entschlüsselungen vieler rätselhafter Bildszenen.

Methodisch hat man sich davor zu hüten, die Filme Tarkowskijs zu fragmentarisieren und ihre Gesamtkonzeption zugunsten der uferlos möglichen ikonologischen und geistesgeschichtlichen Motivparallelen aufzulösen. Gegen schnelle Kritik oder Apologetik aber ist auf dem Hermetismus der Filme zu bestehen. Das heißt zweierlei: zum einen, wie Eva Schmid sagt, ist "alles real interpretierbar und doch: enigmatisch" (1. c. S. 142). Es bedarf nicht erst jenes in "Stalker" wie "Nostalghia" aus dem Nichts auftauchenden Hundes, um die enigmatische Struktur der Filme zu demonstrieren. Sondern - und das führt zum zweiten Punkt die gesamte Bildästhetik ist im Benjaminschen Sinne - als allegorisch zu bezeichnen. Benjamin hat in seinem Ursprung des deutschen Trauerspiels [5] das poetische Verfahren der Allegorie gegen den klassizistischen Symbolbegriff rehabilitiert und als poetologische Klammer zwischen Barock und Romantik dargestellt. Von hier aus gewinnen die Hinweise von Allardt-Nostitz (Tarkowskij und die Romantik) und von Eva Schmid (Tarkowskij und die Melancholie-Tradition zwischen Renaissance und Barock) erst ihren Sinn. Das ästhetische Verfahren Tarkowskijs schließt an hermetische Natur und Geschichtsphilosophien an, deren poetischer Ausdruck die Allegorie ist. Die Melancholie, die sich im Akt des allegorischen Bedeutens mortifizierend in die Dinge einnistet, wäre so gesehen nicht als modisch intellektueller "Katastrophismus" (Michael Schneider) zu kritisieren - allenfalls die so gefärbte "kultische" Rezeption der Tarkowskij-Filme im Westen. Die Trauer des Allegorikers ist nicht Jammer über das Fehlschlagen der Aufklärung und des "Projekts der Moderne". Sondern "die Beharrlichkeit, die in der Intention der Trauer sich ausprägt, ist aus ihrer Treue zur Dingwelt geboren" (Benjamin, Trauerspiel, 172). [6] Sie ist geschichtsphilosophisch konstruktiv, wenn auch in einem anderen Sinn als dem der aufsteigenden Linie in der Geschichte des Geistes, des Fortschritts, der Humanität, der Vernunft oder des Sozialismus. Seit dem Film "Solaris" scheint sich für Tarkowskij die geschichtliche Landschaft zur Ruine zu verdüstern, Menschen und Dinge dem trostlosen Tableau des Todes anheimzufallen: die Ruine wird zum ästhetischen Zentrum der Filme. Zunächst scheint sich hierin die Depression eines Regisseurs auszudrücken, der uns bis zur Unerträglichkeit seine düsteren Obsessione drängt. So zu psychologisieren wäre banal. Denn die Trümmerlandschaft der Geschichte drückt nicht die Stimmung von Subjekten aus, sondern will als Signatur zurückgeschlagener Aufklärung entziffert werden. Richtete aufgeklärter Geist sich die Dinge zu Symbolen universaler Verfügbarkeit zu, so übersah er darin nur seinen hybriden Herrschaftsanspruch, sondern den Verrat an den Dingen. Nicht allein dem Warenprinzip, auch dem identitätslogischen Geist gerieten Dinge und Lebewesen zu Serienprodukten des gesetzlich Identischen. Der Allegoriker hingegen verrät das Gesetz, indem er es darstellt. Glaubt eindimensionale Aufklärung im Zeichen universalistischer Rationalität der Geschichte den Anschein naturgesetzlicher Ordnung aufprägen zu könne, zeigt der Allegoriker, was zur Naturgesetzlichkeit verdinglichte Geschichte heißt: ihre Verwandlung zur Ruine. Der melancholische Verrat an den Gesetzen des Fortschritts und der Aufklärung entspringt dagegen "einer in kontemplativer Ergebenheit geradezu versunkenen Treue gegen die Dinge.... Die Melancholie verrät die Welt um des Wissens willen. Aber ihre ausdauernde Versunkenheit nimmt die toten Dinge in ihrer Kontemplation auf um sie zu retten." (Benjamin, Trauerspiel, 171) Der Akzeleration als Gesetz des infiniten Modernisierungszwangs hält der Melancholiker eine Inständigkeit des Blicks entgegen, der dem delirierenden Sturm des Fortschritts die Stille der nature morte entreißt. Bis in die Kameraführung verfolgt Tarkowskij dieses alte ästhetische Prinzip: inmitten einer Kinoästhetik, in der sich das Tempo der cuts zwanghaft dem Zeitraptus der gesellschaftlichen Bewegungen anpaßt, mutet uns Tarkowskij mit "Stalker" einen 161-Minuten-Film mit nur 146 Einstellungen zu. Diese rituelle Langsamkeit und gravitätische Ostentation eignet der melancholischen Kamera. So erst kann sie dem Geflirr der sichtbaren Dinge ihr Wesen entlocken: die "Zeichenschrift der Vergängnis" (Benjamin). Die fremdartige Zeitlichkeit des Bildstils hat bei Tarkowskij geschichtsphilosophischen Sinn, zunächst einen negativen: für Tarkowskij ist das Hegelsche Programm gescheitert. Am deutlichsten ist dies am Film "Stalker" abzulesen.


"Stalker": Ende der Geschichtsphilosophie

Ein Professor und ein Schriftsteller, namenlose Typen ihrer Profession, dringen, geführt von Stalker- einem Sträfling, Outcast, Stigmatisierten, "Pirschgänger" -, in die Zone ein. Die Zone ist ein geheimnisvoller Sperrbezirk in der Sowjetunion, von dem man nicht weiß, wie er entstanden ist durch Meteoriteneinschlag? Unfall? -, um den sich jedoch seltsame Gerüchte ranken. Das Betreten ist verboten, Militär riegelt die Zone ab ringsherum verrotten verlassene Industrieanlagen [siehe Abb. 30];. Stalker hat den Weg in die Zone und sein Arkanwissen von einem Meister gelernt und führt, obwohl bereits mit Zuchthaus dafür bestraft, immer wieder Sehnsüchtige in die Zone hinein. Es geht darum, unter Wahrung ritueller Vorsichtigkeiten und respektvoller Annäherungen einen immer anderen Weg zu einer Hausruine in der Zone und ein Zimmer darin zu finden. Man erfährt, daß durch die meditative Versenkung des Selbst in diesem Zimmer die geheimsten Wünsche Aussicht auf Erfüllung haben. Stalker ist also eine Art religiöser Mittler einer Initiationsreise. [7] Das Zimmer und die Zone sind magische Orte, Märchenräume mit Wunscherfüllungszauber, ähnlich wie der Venusberg im Tannhäuser-Mythos, der italienische Sibyllenberg, der Runenberg in L. Tiecks gleichnamiger Novelle, das Berginnere in E. T. A. Hoffmanns Die Bergwerke zu Falun oder in Novalis' Ofterdingen-Roman, das Innere des Isistempels in den Lehrlingen zu Sais - Orte aber auch wie die vielen hieroi topoi der antiken Religionen mit ihrer Ambivalenz von Fascinosum und Tremendum, von der jeder Adept beim Übergang vom Profanen ins Heilige erfüllt wird. [8] Stalker hat also die klassische Funktion des "weisen Lenkers", des "Initiationsmeisters", des "Mittlers" bei Reisen in den "anderen" Raum - der Natur, des Heiligen oder des Göttlichen. Das Szenario ist religionsgeschichtlich und ethnologisch, aber auch literaturgeschichtlich - in der Märchen- und Romantikforschung - aufgearbeitet. Nun kehrt es wieder in einem sowjetischen Fantasy-Film, der das archaische Schema in die Tabuzone einer Industrieruinenlandschaft verlegt.

Was das bedeutet, läßt sich nur über Umwege erkennen. Die drei Männer- Stalker, der Künstler, der Wissenschaftler repräsentieren, so scheint es, auch die Hegelschen Stufen von Religion, Kunst und Wissenschaft. Freilich fehlt Tarkowskij gänzlich die geschichtsphilosophische Gewißheit, daß in dieser Reihenfolge die Wahrheit sich entfalte und somit den Gang des Weltgeistes angebe. Das begriffliche Wissen - Philosophie, Wissenschaft - hat bei Tarkowskij keineswegs das Religiöse und die Kunst dialektisch in sich aufgehoben. In einer Welt industrieller Menschen- und Umweltverseuchung - in schmutzigem Schwarzweiß gedreht - ist der Literat ein vom progressiven sozialistischen Realismus ausgespuckter Dekadent; ist der gläubige Stalker ein verrückter Sektierer und Fanatiker; und ist der Naturwissenschaftler ein Produzent des bösen Wissens: es stellt sich heraus, daß er eine handliche Bombe mit einer 20-Kilo-Tonnen-Sprengkraft entwickelt hat, mit der er das Arkanum der Zone in die Luft sprengen will. Sicher will Tarkowskij die heillose Verwirrung im Verhältnis von Religion, Kunst und Wissenschaft demonstrieren, die in der nachhegelschen Geschichte einer rücksichtslosen Entfaltung der Industrierationalität und der Militärmächte herrscht. Ein Film also quer zur marxistischen Variante der Hegelschen Geschichtsphilosphie in der Sowjetunion, zugleich aber auch quer zur Fortschrittsideologie des westlichen Industrieblocks, der soziale Entwicklung an technologische Exploitation der Natur und der menschlichen Arbeitskraft gebunden hat.

Die schwarzweißen Bilder (und quälenden Geräusche) der Industrielandschaft außerhalb der Zone sind zugleich Bilder der zerstörten Natur und der demoralisierten Menschen bei voll funktionierender Industriemaschinerie. Die militärisch abgeriegelte Zone wird so zum Sehnsuchtsraum derer, die in der Welt des objektivierten Begriffs - und das ist hier: Technologie und Militär - vom Bewußtsein der Entfremdung geschlagen sind und das Andere suchen. Nicht zufällig ist Stalker ein Stigmatisierter: an seinem kantigen Sträflingskopf sieht man an genau der Stelle einen weißen Haarfleck, an der auch Andrej in "Nostalghia" ein weißes "Zeichen" seiner Ausgesetztheit und Heimatlosigkeit zeigt.

Unterhalb der Hegelschen Konfiguration - Stalker, Professor, Poet - liegt eine tiefere Antinomie, die von Natur und Zivilisation. Die vielleicht eindrucksvollsten Bilder sind die der Zone, worin eine ehemalige Industrielandschaft, jetzt menschenlos, langsam von der Natur zurückerobert und überwuchert wird. Die Zone wird zum Bild der Erde nach dem "Ende des Menschen". Panzer, technisches Gerät, Zivilisationsmüll, Fabrikationshallen, Brücken, Tunnel, Häuser sind in einer ungeheuren Stille dem Verfall überlassen, werden mit ruhiger Gelassenheit von der Natur zerbröselt und endlich verschlungen. Nirgends deutlicher konnte man bisher im Film sehen, daß die hochstabil scheinende zweite Natur, die Kunstwelt des Menschen, der ständigen Abgrenzung zur Natur bedarf, einer ununterbrochenen Reproduktion. Tarkowskij zeigt das langsame Zurücksinken der Zivilisation in die Natur, wenn die Menschen nicht in einem endlosen Energiestrom ihre Kunstwelt gegen Natur behaupten. [9] Wie der Mensch dies heute tut, zeigen die Bilder außerhalb der Zone: die Selbsterhaltung des Menschen geht in Selbstzerstörung über, das Laufwerk der Industriekomplexe und Herrschaftsapparate enthält den Menschen nur noch als ephemeres Element. Sein Ausschluß und das heißt sein Tod - ist schon spürbar in der Unbewohnbarkeit seiner künstlichen Welten. In der Zone ist dieses Ende des Menschen bereits realisiert - und es bleibt ein Mißverständnis aller drei Besucher, daß sie entsprechend der Historizität ihrer Deutungsmuster die Zone mit ausdifferenzierten kulturellen Signifikanten besetzen. Die Zone bedeutet nichts, aber sie zeigt etwas.

Das verstehen alle drei nicht. Entsprechend ihrer Zugehörigkeit zu den Hegelschen Stufen der Geschichtsphilosophie projizieren Stalker, der Poet und der Wissenschaftler ihr jeweiliges kulturelles Selbstverständnis in die Natur nach dem Ende des Menschen. Es sind dies alles Phantasmen der Macht. Stalkers religiöses Verständnis der Zone enthüllt sich als priesterlicher Genuß der Macht des ins Heilige Eingeweihten über die Profanen und Adepten. In der Moderne trägt diese Haltung bereits Züge des Wahnsinns: im Zeitalter der Rationalität ist die Religion das ver-rückte Wissen des ganz Anderen, das seinen Träger mit den Zügen des Sektierers, Besessenen und darin auch Tyrannen zeichnet. Der Literat, ein längst verbrauchter Zyniker und Nihilist, von gemeiner Ernüchterung über das Böse der Menschheitsbeglücker gepeinigt, sucht in der Zone nach dem verlorenen Genie - als gelte noch die poetologische Doktrin des 18. Jahrhunderts, wonach die Natur sich im Genie ausspräche. Der Wissenschaftler scheint im Wunscherfüllungsraum der Zone seinen Omnipotenzraum zu suchen, der sich in der nobelpreiswürdigen Entdeckung zusammenzieht. Im Rucksack aber trägt er die Bombe mit sich, um im Namen einer längst mit Destruktion identifizierten Rationalität das Andere endgültig zu vernichten. Die Existenz der Zone ist für ihn schon der Pfahl im Fleisch der Rationalität. Das Andere soll nicht nur exterritorial sein, es soll ausgelöscht werden.

Alle drei scheitern. Es ist, als zeige die "Natur nach Abzug des Menschen", die Zone also, noch durch das magische Initiationsritual Stalkers und seine manipulativen Arrangements hindurch ihre genuine Kraft. Der Mensch ist nicht Genie, nicht omnipotentes Vernunftsubjekt, nicht Zauberer und magischer Kenner des Naturgeheimnisses. In gewisser Hinsicht kehrt der Film Hegel um. Läßt sich die Folge von Religion, Kunst und Begriff (Wissenschaft, Philosophie) auch als Geschichte der zunehmend extensiveren und zugleich inklusiveren Aneignung der Natur lesen, so demonstriert Tarkowskij die Geschichte des Geistes als Episode in der Naturgeschichte. Die Zone zeigt den von Natur wieder angeeigneten objektiven Geist. In dessen Geschichte wirkt der Mechanismus des Todes in dem Maße, wie der Mensch sich erhalten will auf der Basis des Todes der Natur. Es gibt keine Beherrschung der Natur und keine Autarkie gegenüber Natur. Sofern das "Projekt der Moderne" darin sein Ziel setzt, ist die Zone das Bild seines Endes. Die Natur ist nicht der Wunscherfüllungsraum des Menschen, der diesem die Ressourcen für seine religiösen, ästhetischen oder rationalistischen Omnipotenz-Phantasien bereitstellt. In dem Maße, wie Geschichte im Zeichen dieses Programms verläuft, verfällt der Mensch endgültig der Natur, von der er sich zu befreien trachtete, nämlich dem Tod. Wenn etwas von dieser "Reise zwischen den Zeiten" (Duerr) bleibt, so das, daß Stalker recht hat, wenn er in der Bewegung durch die Zone Behutsamkeit, Ehrfurcht und Rücksichtnahme walten läßt; daß der Wissenschaftler recht hat, wenn er auf das irrsinnige Machtphantasma verzichten lernt, das Andere der Natur auslöschen zu können; daß der Künstler recht hat, wenn er aus dem glanzvollen Traum des Genies herausfällt und zum Kritiker des religiösen und wissenschaftlichen Wahns wird. Der Film "Stalker" zeigt in der Zone die Natur als Klammer der Geschichte. Er zeigt, daß die Zivilisation im Zeichen Hegels so wenig wie irgendeines anderen Wissens-Systems ein Wissen dafür entwickelt hat, daß der Mensch, daß der objektive Geist von Natur eingeschlossen bleibt. Am ehesten hat Stalker dafür ein wenn auch falsches, wahnhaft verzerrtes Bewußtsein. Insofern gehört dieser Film in die "Dialektik der Aufklärung". Die Natur taugt sowenig zum Projektionsraum des Wunsches wie als Material zur Aneignung und Selbsterhaltung von Macht. Solange aber Zivilisation in dieser Bahn verläuft, fällt sie auf den Mythos, auf die Zone zurück, die zeigt, was Natur war: geheimnisvolle, Respekt heischende Kraft, und sein wird: das Grab der Zivilisation. Das ist ein religiöser Gedanke, wie "Stalker" letztlich ein religiöser Film ist. Warum aber vormoderne Konzepte als Kritik der wissenschaftlichen Naturaneignung, wie sie heute entfaltet ist, funktionieren können, wird deutlich an den Traditionen, an die der Film "Stalker" angeschlossen ist.


Wüste der Geschichte

"Das Reflektierenmüssen", sagt Lukacs, "ist die tiefste Melancholie des großen Romans." [10] Die Weltarchitektonik, das Haus Gottes oder des absoluten Geistes, ist zur Ruine geworden. Die Heroen der Handlung, selbst in ihrem tragischen Untergang noch Repräsentanten substantiellen Sinns, sind Legende. Verbrecher und Wahnsinnige, Außenseiter und Exilierte, vor allem aber handlungsgehemmte Grübler und Melancholiker irren heimatlos ohne Weg und Ziel durch die "Objektivationen der transzendentalen Obdachlosigkeit" (Lukacs), die Ruinenlandschaften der Geschichte. Das setzt mit Hamlet ein und wird mit Tarkowskij (der an der Verfilmung des Hamlet-Stoffs arbeitete) nicht enden. Das Riesengerippe der toskanischen Kathedrale in "Nostalghia fremdartig schön dem Grün der Landschaft aufgesetzt, ist Emblem dieser Obdachlosigkeit. Fast taumelnd streicht Andrej durch das Beinhaus Gottes. Im Off die Stimme Gottes und die einer Frau: doch so wie Andrej den himmlischen Dialog nicht hören kann, ist die Welt insgesamt nicht mehr Schrift und Stimme Gottes. Dem deus absconditus entspricht der heimatlos gewordene Mensch. Wenn Lukacs den modernen Roman als Epopöe der gottverlassenen Welt bezeichnet, gilt dies auch für die Filme Tarkowskijs. In die verlassenen Gebäude des Sinns ziehen der Wahn, die delirierende Erlösungssehnsucht und das Dämonische ein. Die Abwesenheit Gottes würde, sagt Lukacs, "der Trägheit und Selbstgenügsamkeit dieses still verfaulenden Lebens die Alleinherrschaft verleihen, wenn die Menschen nicht manchmal, von de Macht des Dämons ergriffen, in grundloser und nicht begründete Weise über sich hinausgingen und alle psychologischen und soziologischen Grundlagen ihres Daseins kündigten". [11]

Diese Aufkündigung und Überschreitung historisch abgelagerter oder sozial eingespielter Sinnsysteme kennzeichnet in der Tat die moderne Kunst. Das ist nicht nur Symptom religiösen Sinnverlustes, sondern auch mißlungener Säkularisierung. Die gesellschaftlich produzierte zweite Natur, die "Welt der Konvention", ist eine der zunehmenden Rationalisierung aller Einzelmomente bei steigener Irrationalität des Ganzen. Dem Kunstsubjekt gerinnt, nach Lukacs, die Gesellschaft zu einem "erstarrten, fremdgewordenen, die Innerlichkeit nicht mehr erweckenden Sinnkomplex", zur "Schädelstätte". [12] Darum gewinnen die Starre, die Ruine, die Fremdheit, die mortifizierten Dinge eine so überwältigende Macht über die Subjekte. Die "selbstgeschaffene Umwelt", das zivilisatorische Environment ist dem Blick der Kunst nicht mehr "Vaterhaus, sondern ein Kerker". [13] Diese Fremdheit zur Gesellschaft läßt Stalker, zu Beginn des Films, sagen: "Für mich ist überall Gefängnis." Dieser Satz, der seit dem Sturm und Drang stereotyp für die Handlungsohnmacht der Helden ist, ist weniger biographisch (das Sträflingsschicksal Stalkers), sondern eher als emblematische Überschrift zu den Bildern außerhalb der Zone zu lesen. Die erbärmliche Wohnung Stalkers wie die gewaltigen Industriekomplexe - Kraftwerke, Hochöfen, Bahnanlagen, Hafen werden im gleichen schmutzigen, konturenauflösenden Sepia Licht gedreht. Alles funktioniert: der Gasboiler in der ärmlichen Küche wie die donnernden Eisenbahnzüge oder die gigantischen Kühltürme in der Ferne. Und doch liegt über allem das verwesende Licht des Todes. Die Kamera mortifiziert die Dinge schon, bevor überhaupt die Zone der Zivilisationsruinen erreicht ist. Wahrhaftig inkorporiert sich die Industrie den Körpern der Menschen: Stalkers Frau, rücksichtslos von ihm "aufgekündigt", liegt auf dem Bretterboden, während draußen ein Zug vorbeifährt, dessen Fahrrhythmus zu einem hämmernden Lärm schwillt, der vergewaltigend in den ohnmächtig sich windenden Körper der Frau eindringt- eine Folterszene aus einem Hexenprozeß. Diese verwüstende Gewalt, die in der "selbstgeschaffenen Umwelt" der Menschen liegt und längst schon die Menschen selbst ruiniert, ist es, die Stalker "überall Gefängnis" sehen läßt.

Gefängnis als Emblem: das heißt, Tarkowskijs Film in der Linie der Bildvisionen Giovanni Batista Piranesis zu sehen. Das antike Rom, dessen Architektur bei Piranesi Ausdruck eines titanischen Willens zur Ewigkeit ist, wird in seinen "Aufnahmen" zum monumentalen Porträt einer ,"Totenstadt" (N. Miller). [14] Seine "Ideal-Ansicht der Via Appia" [siehe Abb. 31] ist nicht ein Ideal im klassischen Sinn des Symbols, des Zusammenfalls von Ding und Bedeutung, sondern im Benjaminschen Sinn der Allegorie: ins Gi-gantische gesteigerter menschlicher Bauwille, der von den Signaturen der Verwüstung und des Todes eingeholt ist. Dem folgen die "Carceri d'invenzione", erhabene Traumarchitekturen von Kerkergewölben, deren steinerne Monumentalität durch eine eigenartige, multiperspektivische Durchdringung architektonisch nicht auflösbarer Geometrien zu Räumen labyrinthischer Unentrinnbarkeit und tödlicher Macht werden. Vermutlich kennt Tarkowskij die Bilder Piranesis; ein Kritiker (taz, April 1984) ist sich sicher, daß er den venezianischen Kupferstecher der römischen Ruinen über die Vermittlung von Eisenstein kennengelernt hat. Auch ohne solche Kenntnis vorauszusetzen, ist der Hinweis sinnvoll. Er verdeutlicht, daß die Tarkowskijsche Bildästhetik tief in der europäischen Tradition melancholischer Geschichtsphilosophie verankert ist, deren ästhetisches Zentrum die Ruine ist. Wie in der emblematischen und allegorischen Bildkunst tendiert jede Kameraeinstellung Tarkowskijs zum Stillstand, zum "Stilleben": natzre morte mit Natur verschmolzenen Architekturen.

Hierin wird die Leere der entgötterten Welt ebenso zum Bild wie die Vergeblichkeit der heroischen menschlichen Anstrengungen, sich der Gewalt des Todes und der Sinnverlassenheit durch zeitübergreifende Manifestationen des Willen zu entwinden. Das Memento mori, das jeder zivilisatorischen Anstrengung den Stempel des Vergeblichen aufzudrücken scheint, wiederholt sich bei Tarkowskij und verändert sich zugleich. Denn die zweite, künstliche Natur im "Stalker" ist nicht, wie in "Nostalghia", die von Gott entfremdete und darum todesverfallene Welt, sondern trägt die Signatur der Entfremdung auch im Marxschen Sinn. Darum ist die angemessene Ruinen-Allegorie nicht die "transzendentale Obdachlosigkeit" der Kirchenruine, sondern die Industrie- und Militärruine. Doch in die territorialisierten Industriezonen wie die deterritorialisierte IndustrieZone ziehen die Dämonen der Melancholie ein. Tarkowskij versucht, mit den ästhetischen Mitteln des alten melancholischen Blicks auf die Trümmer der Geschichte, die offenen Wunden der Moderne zu bewältigen. Denn es scheint, daß seit Baudelaire, unübersehbar aber seit der Kunst um 1900, das poetologische Verfahren des Melancholikers, nämlich die Allegorie als das ästhetische Medium der Moderne rehabilitiert werden muß. Folgerichtig liefe nach dem Scheitern der Avantgarde die Posthistoire schließlich, wie das Hannes Böhringer [15] vermutet hat, ins Zentrum der Allegorie zurück: die Ruine. Dann jedenfalls, wenn nicht nur die religiösen Gewißheiten zerstoben sind sondern der Sinnanspruch der Kunst und der Wissenschaften den vom Menschen selbst erzeugten Verwüstungen keine Lösungen mehr abgewinnen kann.


Memento der Ruinen

Seit Gelehrte und Künstler der Renaissance die Kunst und Architektur der Antike entdeckt haben, gibt es die Faszination der Ruinen. An ihnen entwickelt sich historisches Denken, nimmt die "Archäologie des Wissens" ihren Ausgang. Kunstwissenschaft Historie, Altertumskunde, Philologie, ja selbst die PsychoanaIyse, die Freud in einem durchaus nichtmetaphorischen Sinn mit der Archäologie verwandt sieht, arbeiten an Trümmern, Bruchstücken, Relikten, Torsi, Fragmenten. Nicht ohne Grund kennzeichnet Michel Foucault die Arbeit jedes Humanwissenschaftlers als archäologische: die Vergangenheit insgesamt ist Ruine. Das einst lebendig erfüllte Gehäuse vergangener Gegenwart wird durch bloßes Verrinnen der Zeit, durch Vergessen, aber auch durch Verdrängen und Überlagern zur Ruine. Andererseits ist die Vergangenheit "noch nicht vollendetes Gebäude", wie Bloch sagt. Die historisch investierten Energien sind Bauwille, der auf Zukunft geht, Architektur der Hoffnung. Noch nicht fertiges Haus und Ruine: das sind die Signaturen der beiden fundamentalen Haltungen zur Geschichte, Hoffnung und Melancholie. In epochal. typischer Weise bilden Bauplan und Verfallsbewußtsein, die Anstrengungen des Lebens und die Erosionen des Todes wechselnde Balancen. Geschichte ist von beiden Seiten gefährdet: ist alles vollendet und gebaut, ist die Ordnung perfekt, so fließt die Zeit so wenig noch wie dann, wenn alles nicht nur Ruine, sondern amorpher Schutt und universale Entropie ist. Die "geschmückte Ordnung", der Kosmos mit seiner ewigen Wiederkehr des Immereinen, gibt dem Bauwillen der Menschen so wenig Raum wie die kristalline Todesstarre des entropischen Endes. Um die neuzeitliche Dynamisierung der Geschichte in Gang zu bringen, bedurfte es jahrhundertelanger Prozesse der Herauslösung der Erde aus dem Kosmos. Erst dadurch wurde sie, im Zeichen der erlaubten und möglichen perfectio naturae, zum unfertigen Werkplatz und Haus des Menschen. Und umgekehrt mußte die Erfahrung, deren Urtopos der Turm zu Babylon ist, immer wiederkehren, daß alle auf Ewigkeit berechneten Reiche zu Ruinen vergangener Größe verfallen. Daran erst fand die Hoffnung einen Halt, daß die eigene, unsere Stunde noch aussteht. Es ist nicht zufällig die Renaissance, mit der die Geschichte ins Zeichen des offenen Horizonts und des säkularen Bauwillens des Menschen tritt; gleichzeitig mit dem Bewußtsein vom Alter der Welt aber beginnt auch das Memento der Geschichte sich auszubreiten: die zu Geschichte geronnene Zeit läßt jede entäußerte Intention als Trümmerplatz hinter sich.

Eschatologisches und apokalyptisches Denken der jüdischchristlichen Tradition ist in die melancholischen Bildallegorien von der Geschichte als Vergängnis und Schädelstätte eingegangen. In der Moderne freilich verschwindet der heilsgeschichtliche Impetus. Ohne diesen aber droht der geschichtlichen Energie das Signum heilloser Vergeblichkeit. In der Apokalypse wurde das Ende der Geschichte mit dem der Natur zusammengedacht, und eben deren beider Ruin war die Kehre zum Heil. Der Trümmerlandschaft des irdischen entsteigt die Vision des himmlischen Jerusalem. Das aufgeklärte Subjekt dagegen verschreibt seine Existenz einer substanzlosen Zukunft (vielleicht Erfolg, vielleicht Alter). Es hat seine Bindung an Vergangenheit ebenso abzustreifen wie die auf gegenwärtige Erfüllung drängenden Triebe zu disziplinieren, ohne Versprechen von Versöhnung und Friede - fast ein "credo, quia absurdum": Das Heil verkümmert zum ungedeckten Zukunftsscheck, zum vagen Wunsch, daß die im Namen der Autonomie erkämpfte Herrschaft über Natur auch einen Fortschritt im Sozialen bedeutet. Allein die Erfahrung der Vergängnis bleibt gewiß. Das verbindet, bei aller Gegensätzlichkeit, die Aufklärung mit dem Barock. Diderot der Vater der Encyclopedie, die durchaus auch als Versuch zu einer "menschlichen" Kosmologie, d. h. als Repräsentation des Sieges der Vernunft über die Zeit gelesen werden kann -: Diderot also notiert anläßlich der Ruinenbilder Hubert Roberts: ""Wir ahnen voraus die Verheerungen der Zeit und unsere Vorstellung verstreut auf der Erde die Gebäude, die wir selbst bewohnen." - (Eben dies wird zum Darstellungsprinzip des Films "Stalker" . ) - "Die Ideen, die Ruinen in mir wecken, sind groß. Alles wird zunichte gemacht, alles verfällt, alles vergeht. Allein die Erde bleibt noch übrig. Allein die Zeit dauert an. Wie die Welt doch alt ist!" [16] In der Tat hat hier Diderot das Geheimnis der Ruinen erkannt: in ihnen wohnt die Angst der Aufklärung. Mit ihren grandiosen Geschichtsentwürfen und Konstrukten völlig neuer Wissensformen scheint das "Ende der Naturgeschichte" (W. Lepenies) gekommen. Kant hat solchem Bewußtsein in seiner Theorie der Erhabenheit (die "großen Ideen" Diderots) Ausdruck gegeben: die Macht der Natur (Gebirge, Wüsten, Wetter) bricht sich am prinzipiell unaufgreifbaren Zentrum des Menschen, seiner Vernunft. Erhaben ist nicht Natur, sondern das ratiozentrierte Selbst des Menschen. [17] Diderot freilich ist ehrlicher, weil er nicht die wesentlichere Macht der Natur, die Zeit (welche Kant zur Form der Anschauung depotenziert), verleugnet. Hinter dem Rücken der lichtvollen Aufklärung lauert die Angst, die Diderot genau erkennt: daß alle Geschichte von Natur eingeholt wird, ja daß Zivilisation unausweichlich deren Male trägt: die Vergängnis. Man kann gut verstehen, daß dies für den Aufklärer Diderot ein Bild des Schreckens ist. Die Natur, unter Ausschluß des Menschen, ist "nur noch eine traurige und stumme Szene. Das Weltall verstummt, Schweigen und Dunkelheit überwältigen es, alles verwandelt sich in eine ungeheure Einöde, in der sich die Erscheinungen - unbeobachtete Erscheinungen - dunkel und dumpf abspielen." [18] Zweierlei fällt auf: Diderot denkt Natur nicht als das substantielle Andere der Geschichte, etwa als deren Rousseauschen Gegenpol - und: Natur wird, bei Ausschluß des Menschen, zum Bild der Entropie. Diesen Gedanken können wir erst jetzt nach zwei Jahrhunderten gescheiterter Aufklärung würdigen. Denn heute ist nicht etwa das Blochsche Haus der utopischen Heimat nähergerückt, wohl aber der militärische oder ökologische Selbstausschluß des Menschen. Das Bild jener "zeichenlosen" Natur ist das, was Hannes Böhringer als Tendenz der Posthistoire ausmacht: ihre entropische Gestalt; Kälte, Eis, Kristallisation, Wüste. Die Ruine der Posthistoire ist die des "Projekts der Moderne", die Wende der Geschichte nicht durch die heilsgeschichtliche Kehre, nicht deren "Latenz-Tendenz" zum Blochschen Gebäude des Daseins ohne Entfremdung, sondern die Auflösung der Geschichte in Naturgeschichte - so wie sie Diderot als Angst der Aufklärung entworfen hat.

Dies hängt auch damit zusammen, daß es der Wissenschaft der Neuzeit nicht gelungen ist, einen wesentlichen Bestandteil des alten Kosmos-Denkens zu retten: daß nämlich das Wissen von der lebendigen Natur auszugehen hat. Neuzeitliches Wissen ist Wissen vom Toten. Wie das Wissen über den Menschen ausgeht von dessen "Ruine", nämlich dem abgelebten, anatomisierbaren Leib, so entwickelt sich die übrige Naturwissenschaft nach dem Modell einer Himmelsmechanik, die den bis ins 17. Jahrhundert immer als lebendigen Organismus verstandenen Kosmos zur Ruine macht. Nicht ohne Gespür hat die Romantik, die ein überwaches Bewußtsein für Ruinen hatte, die Newtonsche Physik als "todten Mechanismus" (Schelling) kritisiert. Schelling versucht dagegen, die "Naturthätigkeit" dort aufzusuchen, wo sie lebendig ist, nämlich im Produzieren, nicht im Produkt, worin sie "erloschen", "erstorben", "verausgabt", also Ruine ist. Wissenschaft vor der natura naturans wäre Wissen vom Menschen als kosmischem Leib und vom Kosmos als lebendigem Organismus. Solches Denken kann sich auf Goethe, auf Spinoza, Giordano Bruno, Paracelsus u. a. berufen, ist aber innerhalb der naturwissenschaftlichen Bewegung bloß "irrationalistische" Episode. [19] Zur Angstvision des Aufklärers Diderot vom Schweigen des Weltalls gibt es ein Gegenbild Goethes. Er, der das Wissen im Einklang mit Natur zu halten bestrebt ist, hört - wenn die Natur des Menschen zu sich selbst befreit wäre - "das Weltall, wenn es sich selbst empfinden könne, als an sein Ziel gelangt aufjauchzen und den Gipfel des eigenen Werdens und Wesens bewundern". [20] Hier die ästhetisch gedachte Versöhnung mit Natur- dort die finale Entropie, Gesang oder Schweigen der Sirenen: es scheint, nach dem Ruin der Aufklärung, die Erfahrung der Posthistoire zu sein, daß wir heute zu kaum mehr als zu einer Ornamentik der Entropie, nicht aber zu deren Abwehr und zur geschichtlichen Revision einer vom Tod faszinierten Geschichte in der Lage sind. Hieraus wird die Bewußtseinslandschaft der späten Filme Tarkowskijs gebildet.


Ästhetische Theorie der Ruine

Für Georg Simmel, der der Ruine eine schöne Studie widmete [21] , ist die Baukunst "der sublimste Sieg des Geistes über die Natur", ein planvolles Arrangement "der formenden, aufwärts drängenden Geistigkeit" gegen die Schwere der Materien. Im gelungenen Bauwerk triumphieren Geist und Form, ja stellt sich "der ganze geschichtliche Prozeß" als "ein allmähliches Herrwerden des Geistes über die Natur" dar. In der Ruine dagegen rächt sich "die Natur für die Vergewaltigung" durch den Geist: "als sei die künstlerische Formung nur eine Gewalttat des Geistes gewesen, der sich der Stein widerwillig unterworfen hat, als schüttle er dieses Joch nun allmählich ab und kehre wieder in die selbständige Gesetzlichkeit seiner Kräfte zurück". Ästhetisch bedeutsam wird die Ruine, weil in ihr die Antagonismen der beiden "Weltpotenzen des Aufwärtsstrebens und Abwärtssinkens", Geist und Natur, eine eigentümliche Balance halten. "Was noch von Kunst in ihr lebt . . . und was schon von Natur in ihr lebt", ergibt ein "neues Ganzes". Damit hat Simmel ein zentrales Merkmal der Ruine getroffen, das schon bei den Theoretikern des Landschaftsgartens im 18. Jahrhundert immer dort Berücksichtigung fand, wo an einsamen, mal idyllisch-arkadischen, mal düster erhabenen Orten des Parks künstliche Ruinen errichtet wurden. Christian Cay Lorenz von Hirschfeld, Verfasser der damals maßgeblichen fünfbändigen Theorie der Gartenkunst (1779-85) hat das Environment "Ruine" genau bestimmt. [22]

Hirschfelds Konzeption der Ruine stimmt überraschend genau mit der von Tarkowskij überein, der keineswegs, wie manche Bilder suggerieren, nur "gewachsene" Ruinen abbildet, sondern künstliche schafft, teils im Studio, teils eingelassen in Naturräume. Selbst wo er reale Ruinen filmt, werden diese durch seine Bildarrangements artifiziell. "Natürliche" Ruinen, die durch Natureinwirkung entstanden sind, vom Zahn der Zeit zernagt, von Wasser überspült, von Vegetation überwuchert, von Erde begraben - man denke an solche tief ins menschheitliche Gedächtnis eingelassenen Archetypen wie die der "versunkenen Stadt" und des "unterirdischen Reiches" (Atlantis, Sintflut, Pompeji u.a.)-: "natürliche" Ruinen tragen zwar von sich aus schon die Insignien der Zeittiefe, des Todes und einer zugleich fremden und vertrauten Unheimlichkeit. Doch erst das späte 18. Jahrhundert mit seinem Interesse am "Gotischen" (Entdeckung des Mittelalters, Gothic Novel, Schauerromantik) geht dazu über, Ruinenenvironments nachzubauen. Wer aber Ruinen bauen will, muß die wirkungsästhetischen Regeln kennen, um die "naturhaft" an der Ruine haftenden "Stimmungen" in gartenarchitektonische Konstruktionsprinzipien übersetzen zu können. Gleiches gilt für die Genrestruktur der Gothic Novel. Gartenbau ist eine Kunst der Objektivierung von Stimmungen; Ruinenarchitektur ist eine ästhetische Konstruktion der Melancholie. Die Regeln, welche Hirschfeld, Sckell u. a. dafür angeben und an die sich noch Tarkowskij hält, sind folgende:

"Die Lagen der Ruinen", dekretiert Carl August v. Sckell, "sollten gewöhnlich in fernen Gegenden des Parks . . . gewählt werden, da wo sich die Natur in ihrem ernstlichen feierlichen Charakter zeigt; wo Einsamkeit und schauerliche Stille wohnet; wo dunkle Gebüsche in ungetrennten Massen fast alle Zugänge unmöglich machen, wo der alte Ahorn, die bejahrte Eiche zwischen den bemoosten Mauern stolz emporsteigen und ihr Altertum beurkunden: da können sich solche Reste aus längst verschwundenen Jahrhunderten schicklich erheben und der Täuschung näher treten." [23] Ruinen entfalten ihre Faszination also in "melancholischen Revieren" (Hirschfeld) der Natur, werden oft als Einsiedeleien, Eremitagen, sakral stilisierte Denkmäler angelegt - wie der bei Hirschfeld abgebildete "Tempel der Melancholie" -, um einen der Zivilisation abgewandten Raum kontemplativer Versenkung in die Tiefe der Zeit zu ermöglichen -: eben wie in der exterritorialen Zone Tarkowskijs. Dieser Effekt des Exterritorialen wird schon in historischen Ruinenbauten oft dadurch erreicht, daß die Ruinen nur auf verwickelten Wegen erreichbar sind. Ruinenlandschaften sind labyrinthisch; ihre Wegeanlagen sind oft ein Moment des sakralkultischen Charakters der Ruine. Bei Tarkowskij taucht das Muster der Initiationsreise mit ihrem labyrinthischen Wegemuster wieder auf ("Stalker"). Raum- und Wegearrangement evozieren eine, wie Hirschfeld sagt, "ernsthafte" und "feyerliche" Stimmung, die sich radikal von der handlungsorientierten Ausrichtung des Subjekts in zweckrational strukturierten Räumen der Zivilisation "draußen" abheben soll.

Zu solchem Environment der Reflexion gehört ferner die Kunst der Beleuchtung. Gartenarchitekten wie Hirschfeld führen hier den aus der Malerei entnommenen Terminus "Kolorit" ein. Man hat die Lichtverhältnisse der Jahres- und Tageszeiten zu kalkulieren, die Licht- und Farbeffekte durch Vegetation und Raumlage (tiefer Grund oder Anhöhe usw.) zu "inszenieren".

Die Ruinenlandschaft wird wie ein Bühnenbild eingerichtet. Ruinen werden z. B. in westlichen Abseiten des Parks plaziert, zu Szenen für abendliche Dämmerung, Sonnenuntergang und Mondaufgang, oder so, daß die Ruine ihre höchste Wirkung im Herbst der sterbenden Zeit, entfaltet; oder man baut, wie im Wörlitzer Garten, die Ruine auf eine Insel, zu der man mit einer Fähre [24] übersetzt; auf der Insel wird man durch dunkle Gänge von Ruine zu Ruine geleitet. [25] Deutlich an all dem ist: das Ruinenenvironment ist in seiner Raumstruktur und in dem vorgesehenen Bewegungsablauf als "Zeitreise" konstruiert. All dies findet man bei Tarkowskij wieder. Kaum ein Regisseur setzt so präzise Beleuchtungseffekte wie er. Im "Stalker" ist das Sepia-Licht von Beginn an in seiner Wirkung erodierend; es löst Konturen auf und mit ihnen die Erkennbarkeit der Dinge und ihrer Zweckrationalität: ein Ruineneffekt. Überhaupt arbeitet das Licht bei Tarkowskij "ruinierend". Durch verschiedenste Filtereffekte, durch Nebel, optische Unschärfen, besonders auch durch Wasser- oder regengetrübte Bilder, durch das Überwiegen dunkler, erdiger Töne und indirekte Beleuchtung der Szenen entsteht das "Kolorit" der Ruinen auch wo es keine gibt. Die "malerisch" orientierte Ruinenästhetik verlangt vom Gartenarchitekten wie vom Regisseur einen mortifizierenden Blick (darum die Tendenz zum Stilleben). Er entdeckt die Vergängnis nicht nur an den Dingen als realen Verfall, er holt sie in den Vorgang des Sehens selbst hinein. Die Ruinenkunst will, daß wir die Zeit "sehen": so wie die Bewegungsform im Ruinenenvironment als Zeitreise bestimmt wurde.

Mit ähnlichem Effekt werden Vegetation und Wasser eingesetzt. Halb ins Wasser gesunkene Gebäude, eingestürzte Brücken, abgebrochene Aquädukte, überspülte Zivilisationstrümmer gehören in der Ruinenkunst des 18. Jahrhunderts ebenso zum festen Arsenal wie bei Tarkowskij. Es ist nicht abwegig, darin die antike Elementenlehre oder den Heraklitischen Zeitfluß zitiert zu sehen. Für Tarkowskij spielen die vier Elemente, vor allem das Wasser, eine zentrale Rolle. Das drückt die "Naturalisierung" der Geschichte aus, wie sie in der Ruine intendiert ist. Das Zurücksinken in Natur als Auflösen in die Elemente ist ein klassischer Topos des Todes (bis hin in die christliche Begräbnisformel: "Erde zu Erde . . ."). In "Stalker" befinden sich alle Dinge auf dem Weg, elementarisch zu werden. Das Elementarische wirkt bei Tarkowskij genau wie das Licht: als Erosion. In der Industrielandschaft "draußen" gibt es nicht eine vegetabile Spur: das verweist auf die zivilisatorische Entfernung von der elementaren Natur, der - so der Film - dennoch nicht zu entrinnen ist. Bei der Fahrt in die Zone kommen zunehmend die Elemente ins Spiel: das Wasser, das bereits die verlassenen Industriehallen zu überfluten beginnt, und das Erdige, zunächst als Schlamm, Schmutz, dann als das Überwuchern der Zivilisationsreste (Panzer, Gebäude, Elektroanlagen usw.) durch Pflanzen und Moos. In der Zone gelangen die drei Männer in eine monumentale, säulengetragene Fabrikhalle (die ikonographisch nahezu identisch aufgebaut ist wie die romanische Abtei Ruine in "Nostalghia"); auf ihrem Grund breitet sich bereits eine unabsehbar scheinende Wüstenlandschaft aus (Bilder wie aus der Sahara). Die Wüste ist das absolute Emblem des Todes, Entropie der Geschichte. Wie in den Ruinen-Parks des 18. Jahrhunderts stürzen Wasser durch halb zerstörte Tunnel, Aquädukte, Brücken, "verschlingen" Gebäude oder überspülen in gläserner Ruhe zivilisatorisches Gerät. Wie Wasser und Stein in der Grotte eine ästhetische Symbiose eingehen, so tauchen bei Tarkowskij auch ständig Grotten auf. Grotten sind Arkanorte, oft verzaubert, oft Wunschräume, oft aber auch Gestalt gewordene Naturphilosophie.

Das Feuer gibt es in "Stalker" nur in einer signifikanten Szene. Von innen her glühen Felsen auf, wie Lavagestein, daran erinnernd, daß wir nur durch eine dünne Kruste vom Kernbrand der Materie getrennt sind. In "Nostalghia" dagegen spielt das Feuer eine zentrale Rolle, vor allem als Element der Purgation und Erlösung, beides im Tod endend: sowohl im Autodafe des religiös besessenen Mathematikers(!) Domenico wie im Erlösungsritual mit der Kerzenflamme, die der sterbende Andrej, mit Domenico identifiziert, dreimal durch das leere Heilquellenbassin der Heiligen Catharina trägt [siehe Abb. 33]. Erlösung im Tod, im Feuer.26 Die heißen Quellen aus dem Erdinneren sind noch heilvolle Symbiose der Elemente Wasser und Feuer, magischer "Jungbrunnen" der erneuernden Natur wenn auch zum Bad einer morbiden, ungläubigen Gesellschaft verkommen. Andrej und Domenico beschwören mit der unvermischten Flamme eine Erlösung vom entropischen Endzustand. Doch hat sich das Feuer- im allegorischen Tableau des Films: der historische Impetus, die gesellschaftliche Hoffnung - längst verzehrt.

Die eschatologische Glut wird nur noch inszeniert. Domenico, ein Bruder Stalkers und alter ego Andrejs, ist wahnhafter Apokalyptiker des Untergangs. Der Versuch Tarkowskijs, die Figur Domenicos an die Antipsychiatrie-Diskussion anzuschließen, trägt nicht. Daß die Wahrheit in den Wahn sich geflüchtet habe, heißt nicht, jene zu befreien, indem man diesen rehabilitiert. Domenico ist nicht Schamane des "Draußen", Mittler "zwischen den Zeiten", hagazussa auf dem Zaun (H. P. Duerr). Es ist nicht mehr möglich, heilige Institution zu sein. So wird er kein San Domenico, sondern Sektierer im Privaten (in der wahnhaft abgesperrten Familien-Enklave), dann Heimatloser, dann Schauspieler einer Irrendemonstration, mündend im Autodafe ohne symbolische Kraft. Alles bleibt statuarisch, ist allegorische Abstraktion eines Märtyrers des Heils. Nirgends geht die Bewegung des Lebens von ihm aus. So statuarisch das Denkmal Marc Aurels ist, von dem herab Domenico spricht, so erstarren alle im "Bild": Choreographie des Stillstands. Der Irre ist nicht Symbol, sondern figuriert die allegorische Trauer darüber, daß der Glaube, daß Religion heute keine symbolischen Gesten mehr zuläßt. Damit die in den Wahn geflohene Wahrheit nicht verbrennt, sondern entzündet, bedarf es einer anderen Gesellschaft. Nicht sich selbst verzehrende Flamme, sondern Funke zu werden des Blochschen Prinzips Hoffnung, das mit den Elementen alliiert ist, wäre ein Weg der für Tarkowskij freilich verschlossen ist. In den Flammentod mischt Tarkowskij die verzerrten Klänge von Beethovens 9. Symphonie: "Freude schöner Götterfunken" (das "zitiert" den Schluß des "Stalker"-Films: die trostlos magischen Künste des Kindes gehen im Hämmern eines Eisenbahnzuges unter, ebenso wie die darin verwobenen Beethoven Klänge). Es gibt für Tarkowskij keine symbolische Vermittlung mehr des Elements Feuer. Wie die Lebenslichter (Andreis), so verlöschen auch die des Glaubens (Domenico). Der Gesellschaftskörper versteinert zur Entropiedas ist in der - Totale auf das steinerne Meer der ewigen Ruinenstadt Rom (in "Nostalghia") [27] ebenso abzulesen wie in der Totale auf die gigantischen Industrieanlagen (am Ende "Stalkers"): deren riesige rauchende Türme wirken wie Krematorien der Zivilisation.

So reflektieren die vier Elemente - Erde, Wasser, Feuer, Luft (das mortifizierende Licht) - bei Tarkowskij längst nicht mehr die ewig erneuernde, wiedergebärende Natur, sondern den Tod einer mit Natur unvermittelten Zivilisation. Die Elemente werden zum allegorischen Bild einer auf Naturgeschichte tödlich zurückfallenden Geschichte. Die Symbiose, die Bauwerke und Menschen mit den Elementen eingehen, ist der radikale Gegensatz zu der Blochschen Idee einer Allianztechnik, in der die Kräfte der Natur und menschlicher Bauwille sich zusammenschließen. "Naturströmung als Freund, Technik als Entbindung und Vermittlung der im Schoß der Natur schlummernden Schöpfungen" [28] -: eine solche phantasierte Allianz von menschlicher Zivilisation mit natura naturans ist dem allegorischen Kosmos Tarkowskijs fremd. Natur wird zum Spiegel sterbender Gesellschaft - "ein ungeheurer Scherbenberg der Zeit" Jean Paul). So ist nicht der Bauplatz, sondern die Ruine das Zentrum der Tarkowskijschen Ästhetik, nicht das Prinzip Hoffnung, sondern die Melancholie der Vergängnis, nicht das "Noch nicht" der Phantasie nach vorne, sondern das "Nicht mehr" der Trauer.

In seinen Filmen wird Erfahrung eigentümlich verräumlicht. Ist die Verzeitlichung von Erfahrung und Wissen gerade ein Merkmal der Aufklärung und darin das "Ende der Naturgeschichte" (wie W. Lepenies [29] gezeigt hat), so fällt in den Tableaus und Stilleben Tarkowskijs die Zeit in den Raum zurück - und das wäre, was man das "Ende der Aufklärung" und die Wiedereinsetzung der Metaphysik des Todes nennen kann, der die Auflklärung zu entkommen suchte. Ein Gespür dafür gibt es schon im 18. Jahrhundert selbst wieder in der Ästhetik der Ruine. Hirschfeld bestimmt den "fruchtbaren Augenblick" (Lessing) der Ruine dadurch, daß sie den Übergang von erkennbarer Architektur zum Amorphen des Schutts zu "verewigen" hat. Die Zeitstruktur der Ruine ist die zum ewigen Augenblick gebrachte "Annäherung des Untergangs" (Hirschfeld). Das Fließen der Zeit wird so zum Ausdruck gebracht, daß die Ruine unterschiedene Stadien des Verfalls darstellen soll. Zeit gerinnt so zum räumlichen Tableau, zum nunc stans der Vergängnis . Ernst Bloch sieht deswegen die Ruine als Schwebe zwischen Zerfall und integrer Linie an, als "Allegorie der Vergänglichkeit, auf der die Ewigkeit sich niederläßt". [30] Diese Verräumlichung der Zeit ordnet die Ruine der "Macht der stärksten Nicht-Utopie: dem Tod" (Bloch) zu. An ihm arbeitet das Requiem sich ab, das dem Archetyp der Apokalypse entstammt und zwischen chiliastischer Angst und Versöhnungssehnsucht das "Non omnis confundar" sucht. [31] Der Einsatz des Verdischen Requiems bei Tarkowskij ist demgegenüber Besiegelung des Todes, Ende der Zeit in absoluter Räumlichkeit, oder, mit Bloch zu reden, "letale Rückkehr zur Natur". [32]

Dies ahnt schon Hirschfeld, wenn er schreibt: "Die Natur scheint die Plätze, die ihr die Baukunst geraubt hatte, mit einer Art von Triumph sich wieder anzueignen, sobald sie, verlassen von ihren Bewohnern, veröden." [33] Für Georg Simmel ist das zentrale Merkmal der Ruine, "daß hier Menschenwerk schließlich wie ein Naturprodukt empfunden wird". [34] Das setzt damit ein, daß Ruinen nicht mehr von "Zweckmäßigkeit" erfüllt, dysfunktional im sozialen Handlungssinn sind. So wie die Baukunst sich der Natur als ihrem Material bedient, so eignet in der Ruine die Natur sich den im Bauwerk vergegenständlichten menschlichen Willen an Darin drückt sich etwas aus, was Kunst und Können zum Verlöschen bringen möchte: "daß an dieses Werk, so sehr es vom Geiste geformt ist, ein Rechtsanspruch der bloßen Natur doch niemals ganz erloschen ist". An der Ruine vollstreckt sich ein am vollendeten Werk getilgt scheinendes Recht der Natur. Für Simmel ist die Ruine sogar "die Realisierung einer in der tiefsten Existenzschicht des Zerstörten angelegten Richtung" [35] - der Richtung nämlich auf Tod. Dieser ist der Bezugspunkt der Verräumlichung der Zeit stärkste Gegenmacht zur Aufklärung, weil daran deren Versuch zerbricht, Herr über eine schicksalhafte Natur zu werden und den unabsehbar offenen Horizont der Zeit zu gewinnen. Die Wiederkehr des so gewendeten vanitas-Motivs bei Tarkowskij scheint die Posthistoire der "Dialektik der Aufklärung" anzuschließen und zugleich davon abzukoppeln. Indiz dafür sind die geschichtsphilosophischen Implikate der Filme Tarkowskijs.


Rätsel der Zeichen

Ruinenbauten im 18. Jahrhundert dienen nicht einfach der melancholischen Kontemplation der Vergangenheit, deren traurige Reste den unaufhaltsamen Verfall der Dinge dokumentieren. Ruinen sind Orte des Geheimnisses. Günter Hartmann [36] hat herausgearbeitet, daß z. B. die Burgruine in Wilhelmsbad als Kultort der geheimbündlerischen Freimaurer im Umkreis Wilhelms IX. von Hessen-Kassel fungierte und von den rituellen Zwecken der Räume her überraschend mit den "esoterischen" Ebenen von Mozarts "Zauberflöte" korrespondiert. Das Belvedere im Charlottenburger Landschaftsgarten diente ebenso wie zahlreiche Grotten als Treffpunkt der Rosenkreuzer.

Im Schwetzinger Landschaftsgarten wurde die Grabpyramide des ägyptischen Pharaonen Sesostris erbaut, zu der man mit der Totenfähre Charons übersetzen mußte. Der später an diese Stelle gesetzte Merkur-Tempel verweist auf Hermes Trismegistos, der als Stifter hermetischer Wissenschaften in der Alchemie und den Geheimbünden seit der Renaissance eine überragende Rolle spielt. Merkur (Hermes) wird bei diesem Ruinenprogramm assoziiert mit dem Psychopompos, dem Mittler zwischen Himmel und Erde, Diesseits und Jenseits. Hermes und Charon begleiten die Menschen bei rituellen Übergängen zwischen verschiedenen Realitätsebenen. Die "ägyptischen" oder "ägyptisch griechischen" Partien in den Ruinenlandschaften sind also Monumente hermetischer Traditionen und dienen den arkanen Verständigungs- und Prüfungsritualen der zahlreichen Geheimgesellschaften. [37] Grotten, unterirdische Räume, Gewölbe, geheime Gänge und verlassene Bergwerke gehören zum Arsenal nicht nur der "gotischen" Romantik, sondern auch eines Novalis, Tieck, E. T. A. Hoffmann.

Dieser Hermetismus der Ruinenarchitektur kehrt auch im Bildprogramm Tarkowskijs wieder. Eva M. J. Schmid hat an der Ikonographie des saturnischen Temperaments, der Melancholie, in "Nostalghia" eindrucksvoll belegt, daß die Bilder Tarkowskijs voll von "hieroglyphischen" Verweisungen stecken.

Wer so die Filme Tarkowskijs zu sehen beginnt, gerät ins Schwindeln. Ihm widerfährt, interpretierend, was die Tragik des Allegorikers ausmacht: der Zusammenhang der Dinge löst sich auf in einer endlosen Flucht des Bedeutens. "Immer von neuem drängen die amorphen Einzelheiten, welche allein allegorisch sich geben, herzu." (Benjamin, Trauerspiel, 207) Tarkowskij stürzt den Betrachter in einen Malstrom des Bedeutens, das nirgends zur Ruhe kommt. Daraus entsteht jenes zugleich gravitätische wie anomisch zerstückelte, von keinerlei symbolischem Zusammenhang mehr vereinheitlichte Bild von Geschichte. Bloch bezeichnet das allegorische Verfahren richtig als "Strandgut-Montage". [38] Die semiotisch aufgeladenen Trümmer der Geschichte und die dem Alltag entrissenen Dinge werden im ruhelosen Rausch des Bedeutens verbraucht, bleiben entleert zurück im Mausoleum einer Chiffrenschrift, die nicht den Dingen, sondern nur dem Chiffrieren selbst Bestand sichert. Bloch, der sich hier auf Benjamin bezieht, bezeichnet das Symbol als die Chiffre einer "in der Einzelheit (Vielheit, Alteritas) transparent erscheinende(n) Einheit des Sinns". Die Allegorie dagegen bildet Archetypen der Vergänglichkeit, "weshalb ihre Bedeutung allemal auf Alteritas geht". Das Symbol, der verbindlichen "Unitas eines Sinns" zugeordnet, lebt von der "Intention auf eine Ankunft" im utopischen Zusammenfall von Bedeuten und Bedeutetem - im "Unterschied von den blühend sich verschiebenden, der währenden Unentschiedenheit des Wegs hingegebenen Allegorien". [39] Doch um das Prinzip Hoffnung in den Dingen selbst zu begründen, billigt Bloch den Allegorien eine realobjektiv den Dingen selbst entwachsende Bedeutung zu. [40] Damit raubt er den Allegorien jene Benjaminsche Bitternis, die von dem auch utopisch nicht zu versöhnenden Bruch zwischen Signifikant und Signifikat weiß. Was die Allegorie zum Archetyp der Vergängnis macht, ist die Insistenz, mit der sie den semiotischen Prozeß zum Trümmerstück veralten läßt. Das macht ihre zum Symbol unvermittelbare Zeitlichkeit aus. Das Symbol, das in seiner klassischen Gestalt als Epiphanie der ewigen Gegenwart der Wahrheit in den vergänglichen Dingen selbst zu verstehen ist, offenbart "das transfigurierte Antlitz der Natur im Licht der Erlösung" (Benjamin, Trauerspiel, 182).

Das Symbol weckt den Schein einer Versöhnung, die ihr Intentionales, also Nicht-Substantielles gelöscht hat. Solchermaßen gegenwärtigem Scheinen des Sinns verweigert sich die allegorische Alteritas prinzipiell. Darum ist das Bruchstück, die Ruine, ihr Material. Die allegorische Urlandschaft des Verfalls bebildert weniger das Naturfaktum "" Tod", als daß sie vielmehr in der Todesverfallenheit der Dinge den Verfall des semiotischen Prozesses selbst spiegelt.

Flucht und Veralten des "symbolischen" Sinns ist bei Tarkowskij zum ästhetischen Prinzip erhoben. Sinn bröckelt von den Bildern ab wie die Form von den Ruinen und hinterläßt die Rätselspur der Zeit. Innerhalb der Filme und sogar zwischen ihnen verschieben sich unaufhaltsam die Signifikanten, so daß dem Interpreten seine eigenen symbolischen Identifikationen zu einer Kette vergeblicher Sinnzuweisungen werden, denen jede Einheit fehlt. Dieses Fließen der Bedeutungen hinterläßt zweierlei: eine grübelnde Melancholie im semiotischen Prozeß und, jenseits dessen, ein unerlöstes Geheimnis. Was bleibt, ist schließlich die zur Allegorie der Vergängnis erstarrte Flucht der Bedeutungen.

Als Beleg mag das berühmte Beispiel des Hundes dienen. Allardt-Nostitz rätselt, anläßlich des "Stalker"-Films: "Ist er Zerberus, Fenriswolf oder der Höllenhund aus Volksmärchen und Faustsage? Auch E. T. A. Hoffmanns Gespensterhund Berganza, Reinkarnation des sprechenden Hundes bei Cervantes, ist ein schwarzer Schäferhund." [41]

Eva Schmid identifiziert den Hund in "Stalker" und "Nostalghia" mit dem ägyptischen Totenhund Anubis, dem Todesboten, Totemtier, Bewacher und Begleiter; sie versteht ihn als "Zitat" aus Dostojewskijs "Erniedrigten und Beleidigten" und aus Dürers "Melencolia I", wo der Hund ein Attribut der Melancholie ist; und sie liest ihn als "Zitat" der Legende von der Mutter des H1. Domenicus; ihr träumte, einen schwarzweißen Hund zu gebären, der nun bei Tarkowskij am Rand jenes Thermalbades sitzt, das der Hl. Katharina, die Mitglied des Ordens von Domenicus ist, zugeordnet wird. Domenico schlurft mit seinem Hund am Bad vorbei. [42] Schon hier wird der semiotische Prozeß zum Schwindel, versenkt sich in die Tiefe der Erscheinungen, die in keinem festen Sinn zur Ruhe kommen. Der Weg des Bedeutens verläuft wie die Rätselspur, die in "Stalker" der Bewegung der drei Männer durch die Zone hieroglyphisch zugrunde liegt. Der Hund in "Stalker" "erscheint" unvermittelt wie ein absolutes Zeichen. Er legt sich neben Stalker, der wie auf "Dantes schwarzem Felsen der Trauer" [43] gelagert wirkt, und nimmt die Haltung des Dürerschen Hundes der Melancholie ein: schlafend hingestreckt. Er ist schwarz, teilt mit dem Melancholiker also die nigredo, die im schwarzen Felsen Stalkers und dem schwarzen Gesicht Andrejs (erste Einstellung in "Nostalghia") wiederkehrt. Hund und Melancholiker werden in der klassischen Theorie der Melancholie von der Milz (neben der "schwarzen Galle") beherrscht: der Milz entsteigen Wahnsinn und Traum. Stalker - wie der vom Hund begleitete Domenico - ist in wahnhafte Obsessionen versponnen und beginnt, kaum liegt der Hund neben ihm, zu träumen: jene unendlich langsame Kamerafahrt über die vom Wasser überspülten und in die Tiefe der schweren Elemente zurückgeholten Dingruinen (im Off der Apokalypsetext). Requisit der Melancholie ist der Hund aber auch, weil seine Fähigkeit des Aufspürens und der Ausdauer zum Emblem des "unermüdlichen Forschers und Grüblers" wird (Trauerspiel, 166). "Stalker" (von engl. to stalk) aber ist der Pirschgänger, der Sich-Heran Schleichende (in der Zone), also einer, der- wie der Hund der Melancholie - in der äußeren Bewegungsform des unermüdlichen Aufspürens die Form des melancholischen Grübelns abbildet. Stalker heißt also auch: der Melancholiker. Damit aber meinen die Titel der Filme "Stalker" und "Nostalghia" (das Tarkowskij im russischen Sinn als Krankheit der Melancholie [44] versteht) dasselbe: der eine Film gleitet in den anderen, so wie das helle Haarstigma Stalkers bei Andrej wiederkehrt und der Hund aus "Stalker" sich in "Nostalghia" verdoppelt: zum Requisit der beiden Melancholiker Andrej und Domimco.

Die Schlafhaltung des Stalker-Hundes - den Traum initiierend entspricht der des Hundes von Andrej, welcher ebenfalls unvermittelt "erscheint", also Zeichen ist. Auch in "Nostalghia" löst der Hund einen Traum aus -: die Erinnerung an die russische Heimat und die Vision der mißlingenden Begegnung Eugenia/Italia/voluptas und Maria/Russia/mater immaculata. [45] Dieselbe Haltung hat der Hund Domenicos in dessen Ruinenhaus während des großen Regens. Es regnet aber auch, während Andrej, den Hund neben sich, träumt und Wasser über den Boden ins Zimmer fließt (wie ins Domizil Domenicos). Wasser und Stein gehören aber auch zum Environment der Traumszene Stalkers . Denn das Wasser (wie die Erde) ist, so z. B . Agrippa von Nettesheim [46] , dem Saturn, dem Stern des Melancholikers, zugeordnet. Der Stein, der die "augenfälligste Gestalt des kalten, trocknen Erdreiches" ist, wird, wie Benjamin zeigt(Trauerspiel, 168-70), zum Emblem der acedia, der Verhärtung und Trägheit des Herzens, die die Grundhaltung aller Tarkowskijschen Melancholiker ist-: die ewige Kälte Andreis, der niemals ohne schweren Mantel zu sehen ist, als friere er innerlich. Der Stein ist aber auch Emblem der saturnischen Versteinerung des Lebens, der Kälte und Todesstarre der im Blick des Melancholikers entseelten Dinge -: so entstehen die Ruinen der Geschichte. Dem Saturn gehört auch der Basilisk zu: es ist, als hätten alle Melancholiker der Medusa ins versteinernde Antlitz geschaut und trügen den Tod der Verhärtung (acedia) in sich. Saturnisch wie der Basilisk ist auch der Wolf - dem die Tarkowskijschen Hunde ähneln -, wie auch der Esel, dessen Schrei in "Nostalghia" zu hören ist. Saturnisch sind ferner kriechende und schleichende Tiere und "die, welche im Boden, im Wasser, in den Ruinen von Gebäuden aus der Fäulnis entstehen . . . wie Würmer". [47] Eugenia in "Nostalghia" träumt von einem ekelhaften Wurm, der sich in ihr tizianrotes Haar eingenistet hat und den sie vergeblich wegzuschleudern und zu töten versucht. Damit ist Eugenia nicht (wie E. Schmid vermutet) Emblem der Frau Welt, sondern sie versucht der Obsession durch die saturnische Melancholie Andreis zu entgehen. So wie sie es später tatsächlich versucht - ohne daß es gelingt. In der letzten Einstellung sieht man sie in schwarzem Kleid (zuvor ist sie immer in Tiziantönen gekleidet): sie erstarrt, im Blick aufs Autodafe Domenicos, wie alle Irren ringsum zur Statue. Es ist, als bringe der mitleidslose Blick Tarkowskijs sie, die im Film der Venus zugeordnet ist, der saturnischen Versteinerung zum Opfer

Nicht ohne Grauen folgt man diesen Zeichenspuren in der Bilderwelt Tarkowskijs. In ihnen grübelt das melancholische Temperament. Seine allegorischen Bilderfluchten sind gleichsam von einer archäologischen oder "bergmännischen" Insistenz. Dem Saturniker ist das kalte, trockene Element der Erde zugeordnet. Das lenkt sein Grübeln in die Tiefe. Traditionell ist der Bergmann Melancholiker - wie der Alchemist, der in unendlichen Reihen von Versuchen und Allegorien an der Vertiefung der Erscheinungen arbeitet. Die künstliche oder unterirdische Grotte ist sein Ort, sein Labor ist Nachbildung des Erdinneren, sein Brennkolben ahmt die elementaren Schöpfungen im Erduterus nach. [48] Besessen von der Sehnsucht nach Offenbarung durch das himmlische Licht schöpft er sein hermetisches Wissen aus der Versenkung in die Elemente und das verwirrende Reich der Zeichen. Der Schwerkraft der kreatürlichen Dinge folgend, erwächst seine unerlöste, erlösungshungrige Weisheit aus den erdigen Tiefen, den mächtigen Stollengängen, der tödlichen Verfallenheit der Dinge und brodelnden Gebärkraft der Elemente. Das Geheimnis gibt sich nicht preis Die Melancholie wird zum Siegel auf die unentzifferbare Chiffrenschrift der Natur und die Vergeblichkeit der semiotischen Anstrengung. Längst ist die einfache Präsenz der Dinge, auch für Tarkowskij, verloren. Die Vereinnahmung des Daseins durch den allegorischen Zeichenprozeß stürzt die Filme in jenen Erfahrungsstrudel, den die melancholischen Allegoriker und Alchemisten des I7. Jahrhunderts schon kannten. Die Transfiguration der Welt in eine Schrift, die nicht mehr in den Buchstaben des göttlichen Heilsplans geschrieben ist, erzeugt das Gefühl einer schmerzlichen Unendlichkeit. In dieser geht die "Lesbarkeit der Welt" (H . Blumenberg) verloren. In dem Maße, wie im Zeichenprozeß alles zu allem werden kann, ohne auf eine organisierende Sinnmitte bezogen werden zu können, nistet sich in das endlose Gewebe der Bedeutungen die Melancholie der Verstreuung, Unerlöstheit und Todesverfallenheit ein. Seither schließt jede Zeichenproduktion die Erfahrung des Todes, der nigredo, ein. An der Form der Semiotisierung, der Allegorie, ist ablesbar, was in der Moderne die "Welt" ist: nicht "Sprache der Natur", nicht "Schrift Gottes", sondern Zeichen der Vergängnis, Ruine. Darin bestünde die glaubenslose, ästhetische Botschaft Tarkowskijs.


Schädelstätte der Posthistoire

Die Erfahrung des Todes machen die Figuren Tarkowskijs am Veralten und der Vergeblichkeit der Zeichen. Lukacs hatte in seiner Theorie des Romans davon gesprochen, daß der Riß zwischen der "Schädelstätte" der zur zweiten Natur geronnenen Geschichte und den heimatlos suchenden Individuen nur durch einen "metaphysischen Akt der Wiedererweckung" [49] zu kitten wäre. Das hieße die religiöse Restitution einer zur Sinntotalität geschlossenen Welt, auf der "die Weihe des Absoluten" läge. Die Anstrengungen Stalkers, Andrejs, Domenicos dienen solcher Wiedererweckung. Sie müssen heute scheitern. Es geschehen keine Zeichen und Wunder. Im 2. Teil des "Stalker"Films, als die drei Männer in der Zone den Bezirk der Ruinen betreten, wird deren Reise zur Fahrt ins Totenreich. Waren zuvor alle Bilder der Zone in monochromes Grün getaucht, herrscht jetzt die blautönige Licht/Schatten-Undeutlichkeit der Unterwelt. Der Weg an einem unterirdischen Wassersturz vorbei, durch lange Tunnel, durch ein tiefes Wasserbecken, in eine riesige Halle mit einem endlos in die Erdtiefe fallenden Schacht, am Grab des Liebespaares vorbei (vom Totenhund bewacht), bis hin an die Schwelle des WunscherfüllungsRaums - dieser Weg reproduziert in den Requisiten der Industrieruine die Initiationsfahrten ins Erdinnere (Novalis, E. T. A. Hoffmann, Tieck, Goethe). [50] Das literarische Muster entstammt Erfahrungsriten des "kleinen Todes". Von den Autoren um 1800 wird es der hermetischen, besonders der alchemistischen Tradition des 16. und 17. Jahrhunderts entnommen. In dieser ist das Eintauchen in das Tod und Geburt bergende Erdinnere (Erduterus: Höhle, Grotte, Bergwerk) ebenso wichtig wie die meditative Versenkung in die dem kleinen Tod entsprechende nigredo als Vorstufe der Wiedererweckung, der Erleuchtung. Aus äußerster "Entselbstung", wie sie in diesem Stadium verlangt wird, soll die Wiedergeburt des Selbst auf höhere Stufe erwachsen. Der Todestunnel, die ""Wüste", der Erdschacht und das Wunschzimmer in "Stalker" sind Orte eines solchen regressiven Mysteriums von Tod und Wiedergeburt. Bei Tarkowskij werden der Tradition nicht nur ikonographische Motive, sondern ganze Zeichensysteme entnommen. Charakteristisch jedoch ist, daß die rituelle Entfaltung dieses Systems kollabiert. Die Männer erkennen, wie sehr sie, diesen Zeichen folgend, sich selbst betrogen haben und betrogen werden. Niemand betritt das Zimmer. Nicht die Verwandlung des Selbst geschieht: sondern das symbolische Ritual der Mysterien erweist sich als unwiderruflich veraltet. So wird, als die Männer desillusioniert in ein teilnahmsloses Tableau erstarren wie die Figuren Beckets, die Zone zur Allegorie: zur Ruine der semiotischen Projektionen und Verausgabungen, die in die Zone eingeschrieben worden sind wie ein heiliges Buch. Was bleibt, ist geschichtslose tabula rasa, die Gewißheit irreversibler Unerlöstheit der Welt.

Ob Domenico im Autodafe ein Zeichen der Umkehr und Wiedererweckung setzt, ob Andrej versucht, im dreifach wiederholten Ritual mit der Kerze die Macht der Zeichen wiederzuerwecken- alle Versuche scheitern, dem Zeitalter der acedia und sinnvernichtenden vanitas das utopische "Non omnis confundar" abzuringen. Die Bitternis der Filme Tarkowskijs erwächst daraus, daß die Allegorie jeden Symbolversuch einholt, zerbröselt und zurücksinken läßt auf die Trümmerlandschaft der Geschichte. In Ansätzen enthält die Zone Züge des klassischen locus amoenus, des Bildes vom Frieden in der Natur und der utopischen Versöhnung mit Geschichte. Auch das Italien von "Nostalghia" ist als das symbolische Land zu lesen, in das nördliche, düstere Erlösungssehnsucht Andrej treibt: Wunscherfüllungsland. Doch die Omnipräsenz des Todes, auf die der allegorische Blick des Melancholikers auch hier stößt, zerstört den Schein Arkadiens. Tarkowskij steht hier in der elegischen Tradition. In ihr heißt das berühmte "Et in Arcadia ego": in Arkadien herrsche auch ich, der Tod, in Schönheit und Landschaft nistet sich Vergänglichkeit ein und verleiht den arkadischen Bildern die Schatten des Elegischen. Panofsky hat dies an Nicolas Poussins "Et in Arcadia ego" demonstriert. [51] Die Ästhetik der Ruine nimmt davon ihren Ausgang und prägt ikonographische Struktur und elegische Stimmung noch der Filmbilder Tarkowskijs. Die Zone wie das Italien von "Nostalghia": das sind Bilder der Trauer, die sich in Arkadien niedergelassen hat.

Mehr als alles andere ist Tarkowskij ein Barock-Künstler. Die barocke Allegorie ist eine Kunst des Wissens. Vor diesem vergeht jede Unmittelbarkeit des Lebens, wie auch jede ins Symbol zusammengedrängte Schönheit der im "mystischen Nu" erfahrenen Sinntotalität nichtig ist. Worin immer auch der allegorische Blick sich versenkt, am Grund der Dinge entdeckt er die unwandelbare Wahrheit des Todes, von der aller Glanz des Irdischen verwesend durchsetzt ist. Im Barock ist dieses Wissen, von dem Benjamin sagt, es sei "die eigenste Daseinsform des Bösen", gerade aufgrund des luziferischen Absturzes, in den alles hineingezogen wird, die radikalste Herausforderung des Heils, das der gefallenen Natur als dem Umschlagspunkt der Heilsgeschichte entspringt. Darin bleibt die barocke Allegorie der apokalyptischen Geschichtsfigur treu. Sie tut dies in Wissensformen, die nicht erklärend sind, sondern mit Korrespondenzen, Strukturanalogien, Signaturen arbeiten. Die Natur ist ihr nicht Gegenstand der Praxis, sondern des Lesens von Bedeutungen. Die Tradition der Signaturenlehre, in der die Natur einer Sprache ist, hält entgegen der kausalistischen Naturdeutung daran fest, daß das Geheimnis der Natur in ihrem Schriftcharakter liegt - nicht in ihrem "mathematischen" Funktionieren. Von den äußeren Grenzen des Fixsternhimmels bis ins Innerste des Erdleibes reicht das Netz der semiotischen Verweisungen, der arkanen Korrespondenzen und metonymischen Ketten. Das Basissignifikat einer solchen Welt ist das der "gefallenen Natur". In den Verwüstungen, die die Allegorie in der zur Vergängnis transfigurierten Natur hinterläßt, überlebt ein Wissen, das auf die Notwendigkeit transzendenter Erlösung verweist, gerade weil es alles Geschichtliche in der Zeichenschrift des Untergangs, d. h. als Naturgeschichte liest.

Die späten Filme Tarkowskijs funktionieren nicht anders, jedoch an anderem historischen Ort. Die barocke Metaphysik trägt nicht mehr. Was Tarkowskij von der barocken Allegorie im Benjaminschen Sinn unterscheidet, ist, daß nicht nur die Geschichte im Bild der Natur als ewiger Vergängnis erscheint, sondern daß der Akt des allegorischen Bedeutens selbst verfällt. Sieht man die Filme Tarkowskijs, wird einem bewußt, wie sehr die barocken Mortifikationen einer Heilshoffnung entspringen, die ihre unwiderstehliche Kraft gerade aus der Insistenz, der Trauer über das Vergängliche zieht. Bei Tarkowskij wird selbst diese Hoffnung zur Allegorie und vom Tod "gezeichnet".

Die heilsgeschichtlichen wie die säkularisierten Geschichtsphilosophien der Moderne erscheinen bei Tarkowskij nur noch im Signum ihres Endes. Vielleicht ist davon auszugehen, daß die authentischen kulturellen Produktionen heute daran erkennbar sind, daß sie sich jedem Schein der Versöhnung widersetzen, ja, daß in ihnen eine der wichtigsten Ressourcen des geschichtlichen Prozesses nur noch verbraucht erscheint: der bis zur Moderne anhaltende Glaube, daß die Problemlösungsfähigkeit des Menschen die zu bewältigenden Probleme übersteigt. Dies hieße, daß Geschichte in den Zustand des Verfalls und der Verwüstung überginge. Die Ubiquität der Ruine bei Tarkowskij scheint darauf hinzudeuten. Was der geschichtliche Bauwille des Menschen der Natur entrissen hat, wird von ihr wieder eingeholt.

War Natur dem Menschen bisher Material seines Willens, so wird in der Posthistoire die Kultur zum Material der Natur: genau diesen Umschlag bezeichnet die Ruine. Die Posthistoire wäre die Epoche, in der Geschichte erlösungslos in Naturgeschichte zurückfällt. Als am Ende des 18. Jahrhunderts schon einmal mit der Theodizee auch das geschichtsphilosophische Denken kollabierte ging dessen Hoffnungsimpetus auf die Ästhetik über; daraus erwuchs die romantische Kunst als Versuch der ästhetischen Heilung der dissoziierten Welt. Auch davon kann bei Tarkowskij, kann heute überhaupt keine Rede mehr sein. Wo der Zeichenprozeß selbst ins Stadium des Veraltens eingetreten ist, entläßt Kunst nur noch Bebilderungen des in den Lebensprozeß eingelassenen Todes.

Dabei ist nicht zu übersehen, daß die Melancholie Tarkowskijs auch eine Umkehrfigur des männlichen Heroismus ist. Die Unnachgiebigkeit, mit der der Melancholiker sich in der als absolut gesetzten Vergängnis der Dinge einrichtet, entspringt dem gleichen universalistischen Gestus wie die geschichtsbildende Tat des Heroen, in der die Subjektivität mit dem Sinn der Geschichte zusammenfällt. Beides sind Momente der Hybris, der Omnipotenz, in deren Zeichen die männliche Machtergreifung der Geschichte steht. Die Melancholie ist die männliche Verarbeitungsform der konkreten Entmachtung, die unterm Gesetz der Abstraktion hinzunehmen war. Die Einbuße an realer Handlungsfähigkeit wird zur prinzipiellen Vergeblichkeit stilisiert, die als Vergängnis über der Geschichte liegt. Der Melancholiker holt sich in der allegorischen Vernichtung alles Irdischen die omnipotente Verfügung über die Dinge imaginär zurück - in der Kontemplation ihrer "Krankheit zum Tode". Das beginnt mit der Melancholie der A1chemisten, die in ihrem Versuch, der weiblichen Natur die Geheimnisse ihrer Zeugungs- und Gebärprozesse zu entreißen und unter das Monopol männlicher Verfügung zu bringen, ebenso scheitern wie die Rationalisten. Die Wissenschaft hat zwar das Weibliche aus der Natur vertrieben und ein vollkommen transparentes, mechanistisches Weltbild geschaffen, dafür aber den Kontakt zur Lebendigkeit der Natur verloren: Wissen mit "unglücklichem Bewußtsein". Der ",Tod der Natur" (Carolyn Merchant) wird mit Melancholie bezahlt. Bei Tarkowskij prallen die Frauen an der Melancholie der Helden ab wie an der Kriegsrüstung antiker oder mittelalterlicher Helden. Im melancholischen Universum haben Frauen kein eigenes Gewicht, ihre Rolle ist die des Opfers. So gesehen wäre die Melancholie, in deren Zeichen die Posthistoire getreten ist, nicht als Natur im Antlitz der Geschichte zu entziffern, sondern als Form historischer Verbrüderung von Männlichkeit und Tod. Diese herrschen in der offensiven Destruktivität der Kriegermentalität so unumschränkt wie in der intensiven Destruktivität der Melancholie.

Doch entsteht hieraus auch eine neue, eigenartige Bildästhetik, die Tarkowskij meisterhaft beherrscht: Bilder der Natur. Vielleicht ist Tarkowskij der einzige, der Natur filmen kann - eben weil er sie nicht "unverfälscht", "ursprünglich" ins Bild bringt. Nirgends erhält Natur den Schein von Versöhnung. Sie ist nicht kulturkritische reservatio mentalis und nicht utopische Ressource gesellschaftlicher Entfremdung. Natur erscheint in dem heute einzig authentischen "Bild", nämlich Chiffre einer heillosen Gesellschaft zu sein. Konsequent vermeidet Tarkowskij, Natur "substantialistisch" zu deuten oder als das "Andere" der heillosen Gesellschaft anzueignen. Natur kommt ins Spiel als nature morte der Gesellschaft. Das scheint die einzig mögliche Form von Naturästhetik in der Posthistoire zu sein, die sich vom Prinzip Hoffnung und damit auch von der Idee der Naturallianz verabschiedet hat. Diese Idee ist in Tarkowskijs Filmen zwar durchaus noch lebendig: im intelligenten Materie-Ozean in "Solaris" etwa, der weniger der Konzeption Stanislaw Lems folgt als Schellingscher Naturphilosophie. Auch in den behutsamen Bewegungen der Männer durch die Zone ist die Erinnerung an eine von Respekt und Ehrfurcht getragene Naturbeziehung aufbewahrt - ebenso wie in den Bildern des vegetabilen Lebens (die Wasser/Pflanzenbilder in "Solaris" z. B. ), des Pferdes (in "Iwans Kindheit", "Andrej Rubljow", "Solaris" und "Nostalghia"), in den in allen Filmen eingesetzten "Regenportraits" (Turkowskaja) sowie in den Bildern der "Heimat", die im verlorenen Schein einer Mensch/Natur-Harmonie erscheint ("Solaris", "Nostalghia"). Fast immer sind es Erinnerungsbilder voller Trauer: die Idee einer heimatlichen Natur erscheint in der Form, die Georg Simmel als die der Ruine bezeichnet: die reine Gegenwartsform der Vergangenheit. [54] Umgekehrt sind die Ruinen in ihrer Form von Gegenwärtigkeit Erinnerungen an den verlöschten Impetus des Lebens. Zweifellos geht von diesen Bildern der Natur die Atmosphäre des Friedens aus eines Friedens mit gesenkten Lidern. "Was Natur vergebens möchte", sagt Adorno einmal, "vollbringen die Kunstwerke: sie schlagen die Augen auf." [55] Bei Tarkowskij aber heißt das den Tod sehen lernen, der uns am Ende die Augen schließt. Es ist, als sei das einzige, was noch zu lernen ist: im Blick auf den seltsamen Frieden der Ruinen, von denen das geschichtliche Leben abbröckelt und die solcherart herrenlos sich mit Natur verschwistern, das Sehen des Todes zu lernen.



Anmerkungen

Seit dem ersten Erscheinen dieses Aufsatzes hat Tarkowskij den Film "Das Opfer" gedreht. Ende 1986 ist Tarkowskij dann an Krebs gestorben. Sowohl die pessimistische wie die religiöse, erlösungssuchende Linie hat im Film "Das Opfer" an Gewicht gewonnen. Nicht nur darum, sondern auch filmästhetisch ist "Das Opfer" im Vergleich zu den früheren Filmen enttäuschend. Auch Tarkowskijs Selbstinterpretarionen weichen von den hier vorgeschlagenen Perspektiven ab ("Die versiegelte Zeit", 1985). Den letzten Film und den Tod einbeziehend wäre dieser Aufsatz kritischer und trauriger ausgefallen.

[ 1 ]
Gegen Symbolik äußert sich Tarkowskij in dem langen Interview in TIP, 1984, H. 3, S. 197-205 . Vgl. ferner Maja Josifowna Turowskaja u. Felicitas Allardl-Nostitz: Andrej Tarkowskij, Bonn I98 1. Eigenartig ist die Stellungnahme Tarkowskijs im Interview mit Herve Guibert (Le Monde, 12. 5 . 83 ) . Das Symbol lehnt Tarkowskij hier ab, weil es für ihn auf eine semantische Eindeutigkeit hin angelegt ist (was man gewöhnlich der Allegorie vorwirft). Metaphorisch nennt er seinen Stil, weil er jenseits der Mimesis, auf der Poesie des Films besteht, paradox gesprochen, auf der Realität des Imaginären. Die semiotische Potenz der Metapher sei analog der Struktur der Welt, dennoch aber "absolut" "undefinierbar", eine eigene Seinsform, ein "monome". Nimmt man jedoch den Montagecharakter seines Bildstils hinzu, die arrangierte Künstlichkeit der Bilder, so ist, was er Metapher nennt, eher eine Allegorie. (Vgl. Andrej Tarkowskij: Film als Poesie - Poesie als Film, Bonn 1981, Z. B. S. 70, 91, bs. 97f.)

[ 2 ]
Turowskaja [Anm. I].

[ 3 ]
Felicitas Allardt-Nostitz: Spuren der deutschen Romantik in den Filmen Andrej Tarkowskijs, in: Turowskaja [Anm. I], S. IOI ff.

[ 4 ]
Michael Schneider: Die Intellektuellen und der Katastrophismus, in: Frankfurter Rundschau vom I4. 7. 84.

[ 5 ]
Eva M. J. Schmid: Nostalghia/Melancholia, in: Jahrbuch Film 1984/4, S. 142-59. - Eine unverzichtbare Arbeit. Besonders gelungen sind die Bezüge zur Melancholie-Forschung von R. Klibansky/E. Panofsky/F. Saxl: Saturn und Melancholy, Liechtenstein 1979, und E. Panofsky/J. Saxl: Dürers Melensolia 1, Leipzig/Berlin 1923. Letzteres ist auch für Walter Benjamin grundlegend.

[ 6 ]
Walter Benjamin: Der Ursprung des deutschen Trauerspiels, Frankfurt/M. 1969. Im folgenden abgekürzt zitiert als: Benjamin: Trauerspiel + Seitenzahl

[ 7 ]
Hierzu auch Allardt-Nostitz [Anm. 3], S. 131, Turowskaja a.a.O. S.90ff., Peter Hamm, Auf der Pirsch nach Erlösung in: Der Spiegel vom 4. 5 . 198 1; Michael Schwarze: Visionen und Bilderrätsel, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. 2. 81. Wichtig ist ferner: Maria Ratschewa: Die messianische Kraft der Bilder. Über Andrej Tarkowskij, in: Medium, Okt. 1981. - Gute Deutungsansätze zu "Nostalghia" finden sich in: Peter W. Jansen: Heimweh nach der verlorenen Einheit, in: TIP, H. I., S. 191, und: Wolfram Schütte: Die Macht der Gefühle (II): Melancholie, in: Frankfurter Rundschau vom 20. I. I984.

[ 8 ]
Zu dieser Tradition: Hartmut Böhme: Romantische Adoleszenzkrisen, in: Literatur und Psychoanalyse (Text und Kontext, Sonderband 10), Kopenhagen/München 1981, S. 133-175

[ 9 ]
Herbert Rosendorfer schildert in seinem Roman Großes Solo für Anton (Zürich 1976) in eindrucksvollen Szenen die Rückeroberung einer Stadt durch Natur nach einer plötzlichen Entmaterialisierung aller Menschen außer Anton.

[ 10 ]
Georg Lukacs: Theorie des Romans, Neuwied/Berlin 1963, S. 84.

[ 11 ]
Ebd., S . 89/90.

[ 12 ]
Ebd., S. 62-AdornohatineinemfrühenVortragvon 1931 diese Stelle aus der Romantheorie von Lukacs mit Ansätzen aus Benjamins Trauerspiel Buch zu einer philosophischen Neubegründung des Begriffs von Naturgeschichte verwendet: Adorno: Die Idee der Naturgeschichte, in: Ges. Schr. Bd. 1, S. 345 ff. Später nahm Adorno diesen Ansatz wieder auf in: Negative Dialektik, ebd. Bd. 6, Kap.: Weltgeist und Naturgeschichte. Exkurs zu Hegel. - Eine Rolle spielt dieses Konzept auch in Adornos Ästhetischer Theorie, Ges. Schr. Bd. 7, Kap.: Das Naturschöne.

[ 13 ]
Lukacs [Anm. 10], S. 62.

[ 14 ]
Vgl. das grundlegende Buch von Norbert Miller: Archäologie des Traums. Versuch über Giovanni Battista Piranesi, München/Wien 1978. Zur Ruine allgemein: Jeannot Simmen, Ruinen-Faszination in der Graphik vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Dortmund 1980. -Paul Zucker: Faszination of Decay, Ruins: Reliet - Symbol - Ornament, Ridgewood/NewJersey 1968.

[ 15 ]
Hannes Böhringer: Die Ruine in der posthistoire, in: Merkur, Jg. 36 (1982), H. 4, S.367-7S.

[ 16 ]
Denis Diderot: Ästhetische Schriften, 2 Bde., hg. v. F. Bassenge, Bd. 2, Frankfurt/M. 1968, S.150. Aus den verstreuten Bemerkungen Diderots zur Ruine geht hervor, daß er einen genauen Begriff von ihrer Wirkungspoetik hatte.

[ 17 ]
Vgl. dazu Hartmut Böhme, Gernot Böhme: Das Andere der Vernunft, Frankfurt/M. 1983, S. 215ff

[ 18 ]
Denis Diderot: Enzyklopädie, in: Philosophische Schriften, a Bde., hg. v. Th. Lücke, Bd. I, Frankfurt/M. 1967, S. 186.

[ 19 ]
Vgl. dazu Böhme/Böhme [Anm. 17], S. 136ff. - Die Schelling-Zitate aus: Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, in: Schellings Schriften 1799-1801, Darmstadt 197S, S. 13.

[ 20 ]
J. W. Goethe, Zit. nach Klaus M. Meyer-Abich (Hg.): Frieden mit der Natur, Freiburg/Basel/Wien 1979, S. 5

[ 21 ]
Georg Simmel: Die Ruine, in: Philosophische Kultur, Potsdam 1923, S. 135-43. - Hieraus auch die folgenden Zitate.

[ 22 ]
Chr. C. v. Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst, 5 Bde. Leipzig 1779-85 . Über die Ruine Bd. III, S. 110-18. - Zu den folgenden Ausführungen vgl. Günter Hartmann: Die Ruine im Landschaftsgarten, Worms 1981, und Gisela Dischner: Ursprünge der Rheinromantik in England, Frankfurt/M. 1972.

[ 23 ]
C. A. Sckell: Beitrage zur bildenden Gartenkunst für angehende Gartenkünstler und Liebhaber, München 1819, S. 43.

[ 24 ]
In Wörlitz wurde die Fähre mit Charons Nachen assoziiert. Im "Stalker"Film ist die Draisine, mit der die Männer in die Zone fahren, der Styx-Nachen Charons, s. F. Allardt-Nostitz [Anm. 3], S. 134.

[ 25 ]
Dieser labyrinthischen Bewegungsform entspricht die der Männer in der Zone. Sie folgen geworfenen Mutterschrauben, durch die, ähnlich einem Kometenschweif, weiße Stoffbahnen geschlungen sind. F. Allardt-Nostitz [Anm. 3], S. 134, assoziiert dies mit dem Ariadne-Faden im minoischen Labyrinth.

[ 26 ]
Das Feuer ist ein Element des Opferrituals. Den Film "Nostalghiaa kann man als Etüde über das Opfer verstehen (vgl. Tarkowskij über seinen Film in: Le Monde 12.5.83). Wichtig ist auch die Szene mit Andrej in der halb überfluteten Kirchenruine, durch die er trunken watet, nachher am Wasser auf dem Steingrund liegt (wie Stalker). Hinter sich ein Feuer, in dem ein Band der Gedichte von Arsenij Tarkowskij (russischer Lyriker, Vater Tarkowskijs) verbrennt -: Andrej rezitiert Verse über die poetischenWorte, die im Feuer sich auflösen möchten.

[ 27 ]
Eva Schmid vermutet in Rom ein Babylon-Motiv, auch das ist möglich [Anm 5] S. 147

[ 28 ]
Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt/M. 1959, S. 813.

[ 29 ]
Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte, Frankfurt/M. 1976.

[ 30 ]
E. Bloch [Anm. 28], S. 446/47

[ 31 ]
E. Bloch [Anm. 28], S. 128gff.

[ 32 ]
E. Bloch [Anm. 28], S. 1350.

[ 33 ]
Chr. C. v. Hirschfeld [Anm. 22], Bd. III, S. 112.

[ 34 ]
Georg Simmel [Anm. 21], S. 137.

[ 35 ]
Ebd , S. 139.

[ 36 ]
Günter Hartmann [Anm. 22], S. 276ff., 267ff., 366ff.

[ 37 ]
Tarkowskij sagt über die Zone: "Die Zone ist kein Territorium, sondern eine Prüfung" (in: Medium H. 10, 1981). Den Stalker - Film insgesamt bezeichnet er als philosophisches Gleichnis.

[ 38 ]
E. Bloch [Anm. 28], S. 44S

[ 39 ]
Ebd., S. 182/83, 200-02.

[ 40 ]
Ebd., S. 203.

[ 41 ]
Allardt-Nostitz [Anm. 3], S. 13 S

[ 42 ]
Zur Auslegung des Hundes vgl. vor allem Eva Schmid [Anm. 5], S. 143. Im Mysterien - und Initiationszusammenhang ist der Hund oft Wächter des Wissens und der z. T. als unterirdischen Schatz gedachten Wahrheit. Wolf und Hund sind Tiere der Unterwelt und des Todes manchmal Wächterhund, manchmal Verschlinger (z. B. im Osiris-Mythos) . In diesen Funktionen erscheint der Hund z. B . auch bei Jean Paul und E. T. A. Hoffmann (vgl. dazu Reiner Matzker: Der nützliche Idiot. Wahnsinn und Initiation bei Jean Paul und E. T. A. Hoffmann Frankfurt/M./Bern/New York/Nancy 1984, S. 93ff., 124ff.). - Die Hunde bei Tarkowskij gehören einerseits in diese Linie, andererseits in den Motivzusammenhang der Melancholie. Schließlich hat der Hund, in "Nostalghia", eine biographische Bedeutung: er "erinnert" den russischen Hund Tarkowskijs (vgl. Le Monde, 12.5. 1983).

[ 43 ]
Allardt-Nostitz [Anm. 3], S. 153.

[ 44 ]
Tarkowskij: "In gewissem Sinn ist es die Geschichte einer Krankheit, eines Gedächtnisverlustes: der Nostalghia. Eine Krankheit, die einem jede Lebenskraft nimmt, jede Energie, jede Freude am Leben . . . Vielleicht könnte man die Nostalghia mit dem Verlust des Glaubens, der Hoffnung vergleichen." (Nach Frankfurter Rundschau 20.1.84) Und: "Nostalghia heißt im Russischen mehr als nur Heimweh, Rückwendung, Sehnsucht nach Vergangenem; das Wort bezeichnet auch ein Gefühl tiefer Zerrissenheit, ein Gefühl, in dem sich Liebe und Trauer mischen." (In: TIP H.3/1984

[ 45 ]
Eva Schmid [Anm. 5],S. 146-48.

[ 46 ]
Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim: Die magischen Werke, Wien 1982, S. 64f., 302ff. - Die folgenden Ausführungen sind in den hermetischen Wissenschaften des 16. und 17. Jahrhunderts gut begründet.

[ 47 ]
Agrippa von Nettesheim [Anm. 46], S. 65; vgl. R. Klibansky/E. Panofsky/ F. Saxl [Anm 5]

[ 48 ]
Vgl. dazu Horst Bredekamp: Die Erde als Lebewesen, in: kritische berichte, Jg. 9 (1981), H. 4/5, S. 3-37.

[ 49 ]
G. Lukacs [Anm. 10], S. 62.

[ 50 ]
Vgl. H. Schlaffer: Wilhelm Meister. Das Ende der Kunst und die Wiederkehr des Mythos, Stuttgart 1980; R. Matzker [Anm. 42]; allgemein: M. Eliade: Schmiede und Alchemisten, a. Aufl. Stuttgart 1980; C. G. Jung: Psychologie und Alchemie, 6. Aufl. Olten/Freiburg i.Br. 1981; Herbert Silberer: Hidden Symbolism of Alchemy and the Occult Arts, New York 1971 .

[ 51 ]
E. Panofsky: "Et in Arsadia Ego". Poussin und die elegische Tradition, in: Ders.: Sinn und Deutung in der Kunst, Köln 1975, S. 351 ff.

[ 52 ]
Vgl. die Angaben zu Benjamin und Adorno in Anm. 12.

[ 53 ]
Meines Wissens gibt es nur eine philosophische Konstruktion der Geschichte als Ruine und Trümmerplatz mit futurisch - konstruktivem Charakter - nicht zufällig während der Französischen Revolution, in der der Ruin des Alten als Moment des revolutionären geschichtlichen Prozesses gedeutet wurde -, und zwar in den großartigen Ruinenvisionen von Constantin Francois de Volney: Die Ruinen oder Betrachtungen über die Revolutionen der Reiche (1791), Frankfurt/M. 1977.- Interessant in diesem Zusammenhang ist, daß der deutsche Revolutionsreisende Joh . Fr. Reichardt, der den französischen Ereignissen mit manchmal gespaltenen Gefühlen, im ganzen aber positiv gegenübersteht, beim Anblick der zerstörten Bastille in eine unerklärliche Melancholie verfällt: er wird, obwohl er politisch den Bastillesturm rechtfertigt, hier von der klassischen Gefühlsatmosphäre der Ruine eingeholt. (Für diesen Hinweis danke ich Inge Stephan, Hamburg.) Das Ruinenmotiv in der Geschichte der Revolutionen wäre noch aufzuarbeiten: nicht notwendig haust in den verfallenen Gemäuern die Melancholie. Die melancholisch "beseelte" Ruine gehört insofern zur "Politik" der Gefühle, als darin die Geschichte nicht mehr in der Verfügung des Menschen erscheint - eine Provokation jeden revolutionären, auch nur fortschrittlichen Denkens.

[ 54 ]
Georg Simmel [Anm. 21], S. 142/43.

[ 55 ]
Adorno [Anm. 12], S. 104.