In: Doris Cordis–Vollert (Hg.): NUNATAK - Projekt: Schüberg. "Die Natur sprechen lassen". (Ausstellungskatalog) Hamburg 1989, S. 90–110.

Hartmut Böhme

"DIE NATUR SPRECHEN LASSEN"

- DAS SCHüBERG-PROJEKT

Ausgangspunkt aller überlegungen zum Verhältnis von Natur und Kunst muß heute sein, daß die Beziehungen zwischen der technisch- wissenschaftlichen Welt und der Natur in einzigartiger Weise von Zerstörung geprägt sind. Grundsätzlich sind dabei zwei Ebenen zu unterscheiden: das Verhältnis zur 'inneren' und dasjenige zur 'äußeren' Natur. Mit innerer Natur soll bezeichnet werden, daß der Körper des Menschen nicht allein ein Ergebnis von Zivilisationsprozessen ist, sondern diese vielmehr aufruhen auf einer naturgeschichtlich gebildeten biologischen Ausstattung, die den Spielraum des gesellschaftlichen Handelns der Menschen, in allerdings nur schwierig erkennbarer Weise, ausrichtet und begrenzt. Der Mensch ist, durch seinen Körper, ein den Tieren verwandtes Lebewesen und darin ein Teil der Natur. Griechisch gesprochen heißt dies-. wir sind zoon, Lebewesen, biblisch: wir sind Fleisch, Wesen von Erde kommend und zu Erde werdend. Darin wurde nicht nur die Verwandtschaft mit den nichtmenschlichen Lebewesen anerkannt, sondern grundsätzlich dem Naturcharakter des Menschen in seiner Endlichkeit Respekt gezollt. Natur des Menschen: das heißt eingeschlossen zu sein in den infiniten Rhythmus von Werden und Vergehen – was für fühlende Lebewesen, die wir sind, bedeutet: wir werden kraft einer Produktivität, die nicht unsere eigene ist – das ist die Gebärkraft der Natur – , und ebenso vergehen wir durch eine fremde Macht, deren wir nicht Herr sind: das ist der Tod. Geburt und Tod sind die großen naturgeschichtlichen Klammern unserer Existenz, zwischen denen sich das Leben unseres endlichen Fleichkörpers erhält, ausgestattet mit den großen Trieben des Lebendigen: dem Appetit, der unser individuelles Leben zu erneuern begehrt, der Sexualität, die durch uns hindurch die Gattung erhält und und darauf die Prämie der Lust setzt, und der Angst, die als der große Vorbote des Todes die Aufmerksamkeit auf Gefahren lenkt und gerade darum der wichtigstes Schutzmechanismus des überlebens ist.

Schon an diesen einfachen Linien des Lebendigen lassen sich Verwerfungen des neuzeitlichen Verhältnisses zur 'inneren' Natur ablesen. Es ist nämlich für unsere Kultur charakteristisch, daß alle diese Grundgegebenheiten – Geborenwerden, Sterbenmüssen, Triebhaftigkeit, Angst – als Provokationen wahrgenommen wurden, die zu beseitigen sind. Provoziert wurde der Teil in uns, der nicht Natur ist bzw. als Nicht-Natur gedeutet wurde: der Geist. Nach Aristoteles sind wir zoon logon echon, das Lebewesen, das Vernunft und Sprache hat; wir sind animal rationale, das vernünftige Tier, wir haben Seele und Geist, die eine nicht-naturale Sphäre bilden und darin der Macht der Natur entzogen scheinen. Wir merken schnell, wie nah von hier aus die religiöse Grundhoffnung ist, daß ein Teil von uns dem Kreislauf von Werden und Vergehen entzogen sei: die unsterbliche Seele, anima oder spiritus, ein Unsichtbares, das nicht Fleisch ist, sondern in diesem sich verkörpert und – je nach religiöser Auffassung – durch eine Kette von Verkörperungen hindurchwandert (Seelenwanderung) oder als Kern des Einzelwesens unzerstörbar ist und die Aussicht auf eine Rettung ins Unsterbliche hat.

Die modernen Gesellschaften haben die religiösen Verarbeitungen der schmerzlichen Endlichkeit unserer Natur profaniert, keineswegs aber aufgegeben. Auch der aufgeklärte Vernunftmensch, wie er im 18. Jahrhundert Gestalt angenommen hat, setzt seine eigentliche Existenz in das, was an ihm gerade nicht Natur ist: seinen Geist. Ein abstrakter Geist, die berühmte Einheit des Selbstbewußtseins –: das "Ich denke". Geist – das könnte, wie Herder, Hamann oder Wilhelm von Humboldt meinten, ja auch heißen: Sprache. Wir sind das sprechende Tier, Doch wußte man schon damals, daß die Sprache, so sehr sie sich als konventionelles System der Verständigung bildet, dennoch in der Natur verwurzelt ist: das Phänomen der Stimme erinnert immer daran, daß Sprache eine leibgebundene Artikulation ist; ihr Zusammenwirken mit Mimik, Gestik und Handeln verweist auf körperliche Kontexte der Sprache; gerade ihre Fähigkeit, Gefühle auszudrücken, beweist, daß die Sprache auf undurchsichtige Weise mit der dunklen Welt der Affekte und Triebe vermischt ist. Nicht umsonst hat die Philosophie zwischen Descartes und Kant darum das Selbstbewußtsein des Menschen nicht in die Sprache, sondern in das abstrakte "Ich denke" gesetzt, um einen ganz und gar naturfreien, reinen Kern des Menschen zu destillieren. Darin drückt sich das prinzipielle Mißtrauen und Fremdsein des neuzeitlichen Menschen gegen seine innere Natur aus. Wenn schon die Sprache, so umso mehr wurde alles andere zum Störfaktor eines rationalistischen Selbstverständnisses: die Triebe und Gefühle, die Träume und Phantasien, die Ängste und Lüste. Sie zeigen alle eine Naturverfallenheit an, die es zu überwinden galt. Die zivilisatorischen Disziplinen, die seit dem 18. Jahrhundert in die familiare, schulische und berufliche Sozialisation einzogen, hatten alle zum Ziel, die Natur des Menschen zu überwinden. Das Ideal des sauberen, pünktlichen, moralisch zuverlässigen, langzeitorientierten, rational planenden und kalkulierten Arbeitsmenschen diente der Herstellung eines Humanwesens, das so transparent und geordnet 'funktioniert' wie ein Maschine. Die Triebnatur des Menschen sollte so durchgearbeitet werden, daß sie nicht länger eine 'innere Wildnis' darstellte, sondern zu einer 'natürlichen' Energiequelle wurde, die – wie der Dampf der Maschine den rationalen Vermögen ihren Antrieb verschaffte. Heute wissen wir, daß dies auch eine – freilich ungewollte – Strategie der Neurotisierung war, die – als Symptom des gestörten Verhältnisses des Menschen zu seiner inneren Natur – bereits um 1900 gesellschaftlich so auffällig zu werden begann, daß beinahe mit Notwendigkeit die Psychoanalyse entdeckt werden mußte. Zivilisationsgeschichtlich ist die Psychoanalyse als Epochenschwelle zu betrachten: die Einsicht konnte nicht länger abgewehrt werden, daß – trotz großartiger kultureller Fortschritte – die vollständige rationale Kontrolle und gesellschaftliche Aneignung der inneren Natur einen grundlegend pathologischen Effekt hatte, der in der immer weiteren Verbreitung psychosomatischer Krankheiten die Folgekosten der 'Rationalisierung’ der menschlichen Natur sichtbar machte.

Der Versuch, die menschliche Natur zu überwinden, zu beherrschen oder hinter sich zu lassen, zeigte sich jedoch auch an ganz anderen Fronten. Es gehört zu den uralten Träumen der Naturwissenschaft, das Geheimnis der Menschenzeugung zu entschleiern, das körperliche Dasein vollständig zu zergliedern, zu simulieren und technisch zu bemeistern: d.h. Androiden zu schaffen, 'künstliche Menschen', Maschinenmenschen, intermediäre Mischwesen, oder heute: gentechnische Manipulationen so weit zu perfektionieren, daß prinzipiell der Ausstieg aus den evolutionären Grenzen des Menschseins möglich wird. Hierin wirkt der Traum, die Herkunft aus Natur, die Heteronomie abzustreifen, theologisch: die Geschöpflichkeit zu überwinden, um stattdessen das Menschsein restlos in eigene Regie zu nehmen, es zu einem technischen Entwurf zu verwandeln. Der Mensch als sein eigener Schöpfer: in anderer Weise ist dies die Arbeit an der Unsterblichkeit, ist es der Versuch, an die Stelle Gottes zu treten, oder das naturhafte Gesetz von Geburt und Tod zu zerbrechen. Es ist hierbei nicht notwendig zu entscheiden, ob diese Idee denn wissenschaftlich realisierbar ist (wiewohl in nächster Zukunft dies zu den entscheidenden, umkämpften Zonen zwischen einer naturethischen Limitierung von Technik und einem grenzenlosen Machbarkeits-Postulat gehören wird). Wichtig ist vielmehr zu erkennen, daß der Traum der Selbsterzeugung des Menschen zu den antreibenden Phantasmen des Erkenntniswillens der Neuzeit gehört und ohne Zweifel die möglichste Abkoppelung des Menschen von seiner Naturbasis zum Ziel hat.

Unter 'äußerer' Natur soll hier in einem traditionellen Sinn die Erde als Teil des Kosmos (Kosmos = geschmückte Ordnung) verstanden werden, die vier Elemente Feuer, Wasser, Erde, Luft, die drei Naturreiche – das mineralische, vegetabile und animalische Reich, sowie die dynamischen Zusammenhänge des Ganzen der Natur: die 'ewigen' Naturgesetze nicht nur, sondern auch das Programm der Naturgeschichte (die Evolution) sowie die komplexen Wechselwirkungen, die heute als ökologisches System thematisiert werden, sowie die energetischen (thermodynamischen) Austauschprozesse und Verzeitlichungen von Naturvorgängen. Die technischen Potenzen nun, die die modernen Gesellschaften in den letzten beiden Jahrhunderten entwickelt haben, schienen im naiven Selbstverständnis der ersten industriellen Revolution dem Fortschritt der Menscheit zu dienen: mit Hilfe der Technik sollte eine Befreiung von einer angsterregenden und übermächtigen Natur ins Werk gesetzt werden, der Fluch der Arbeit gebannt, die Notdurft überwunden, der Wohlstand universalisiert und mithin das verlorene Paradies als technische Utopie verwirklicht werden. Die Natur, von der die Menschen beherrscht und schicksalhaft gebannt wurden, sollte umgekehrt beherrscht und unter technische Imperative gebeugt werden. Vorbei waren die – längsten – Zeiten der Geschichte, worin die Menschen in vorsichtiger Allianz sich mit der Natur ins Benehmen zu setzen versuchten; wo aus einem Verhältnis der Kindschaft heraus der Sohn der Mutter Erde nach Versöhnung mit ihr strebte, um ihren zerstörerischen, grausamen Seiten zu entgehen und ihrer fruchtbaren, spendenden, segnenden Kräfte teilhaftig zu werden; oder wo die Natur als Schöpfung verehrt und die Arbeit in ihr als gottgewollte, behutsame Vollendung der – auf der Erde – für den Menschen offenen Natur verstanden wurde. Heute erkennen wir – neben den unbestreitbaren Errungenschaften des technischen Fortschritts und der unumkehrbaren Abhängigkeit aller gesellschaftlichen Entwicklung von der Form der technologischen Realitäten – die Kehrseite des Programms der Naturbeherrschung. Die Umweltkrise macht in einem unterdessen globalen Maßstab deutlich, daß die naturzerstörerischen technischen Eingriffe und Ausplünderungen nicht nur für abertausende von Pflanzen- und Tierarten den Tod bedeutete, nicht nur Energie- und Bodenressourcen gefährdeten, sondern globale und regionale Gleichgewichtszusammenhänge und Vernetzungen in einer Weise riskieren, die den Bestand der Menschheit insgesamt fraglich machen. Bezogen auf den Lebensraum der Erde ist die Technik zu einem absoluten Raum geworden: gegenüber ihren globalen Folgen, etwa hinsichtlich des Weltklimas, oder erdumspannenden Effekten technischer Katastrophen und Kriege gibt es nicht mehr die Möglichkeit einer zeitlichen oder räumlichen Distanzierung. Keineswegs hinsichtlich des möglichen Segens, wohl aber der destruktiven Gewalten der Technik ist die Menschheit längst zu einer Gemeinschaft der Betroffenen, allerdings einer obdachlosen Weltgesellschaft geworden. Das technische Projekt ist nicht nur für die Menschheit zu einem tödlichen Risiko geworden sondern auch für die nicht-menschliche Natur, die der Schoß des gesamten irdischen Lebens ist und bleibt. Formelhaft verkürzt kann man sagen: das Tempo der Naturzerstörung wird einem indirekten Suizid der Gattung Mensch immer ähnlicher; der totale Sieg über Natur wäre die absolute Niederlage des Menschen; eine irreperable Zerstörung der ökosysteme beendete auch die Humangeschichte. Aus diesen Gründen hat die Menscheit heute – und d.h. vor allem die hochtechnologischen Industrienationen unabghängig ihrer Zugehörigkeit zu politischen Blöcken – eine unabtretbare Verwantwortung für den gesamten Erdraum, worin die evolutionär in Jahrmillionen gebildeten Fließgleichgewichte und Strukturgesetze ebenso zu respektieren sind wie das 'Naturrecht' der menschlichen wie nicht-menschlicben Wesen auf angemessenes Leben. Freilich wäre es illusionär, einen Verzicht auf technologische Entwicklung und gestalterischen Eingriff in Natur zu predigen. Da das menschliche wie auch nichtmenschliche Leben auf der Erde entweder schon technikförmig ist oder von technischer Gestaltung abhängig bleibt (es gibt keine Ursprungsnatur mehr, sondern strukturell nur noch eine Technonatur), geht es nicht um ein Ja oder Nein zur Technik, sondern allein um das Wie zukünftiger Technologie. So sehr allerdings die Rücknahme oder Begrenzung technisch-industrieller Fehlentwicklungen selbst wieder nur technisch auszumachen und zu realisieren ist, so wenig angängig ist es, bei dem Projekt der Bewohnbarmachung der Erde auf äthetische und naturphilosophische Maßstäbe zu verzichten. Diese sind politisch gegen den Selbstlauf der Zerstörung zu mobilisieren.

Hierbei kann die Kunst Aufgaben übernehmen. Und damit sind wir beim Schüberg-Projekt. Nur scheinbar ist es ein Riesensprung von der Klimakatastrophe zu einem Kleinraum wie dem Schüberg, von einem universalistischen Diskurs über die Einrichtung der Erde zu den künstlerischen Versuchen, die hier gleichsam mikrologisch unternommen werden. Vom griechischen Wortstamm her (aisthesis) ist Ästhetik die Lehre von der Wahrnehmung und die Künste insgesamt sind von daher eine Schule zur Differenzierung und Bildung von Wahrnehmung. Mit der ökologischen Krise und der Naturzerstörung hängt dies insofern zusammen, als diese nicht in gleicher Intensität existierten, wenn nicht ein rapider Wahrnehmungsverlust zum Merkmal der modernen Industriegesellschaften und der Metropolen geworden wäre. Das heißt auch, daß Ästhetik bei der Gestaltung von städtischen und ländlichen Räumen keine oder nur ein höchst untergeordnete Rolle gespielt hat. Da zudem die Kenntnis von Natur bei den auf städtische und mediale Wahrnehmungswelten eingestellten Menschen (und Architekten, Stadtplanern, Politikern ... ) zunehmend geringer wurde, schrumpfte Natur- und Landschaftsästhetik auf dekorative Außenseiten und Postkarten-Stereotype zusammen.

Man kann sich dies auch an der durchschnittlichen ästhetischen Normen von Landschaftswahrnehmung deutlich machen, die empirisch erforscht worden sind. Das Bild der Landschaft wird von einem Landschaftstyp bestimmt, der der malerischen Bildästhetik von 1800 entspricht. Diese aber stellt eine nahezu nirgends mehr anzutreffende Agrarromantik dar. Fast immer wird Landschaft als stehendes optisches Bild, als Ansicht, verstanden und als nichtentfremdeter Erholungsraum dem alltäglichen Stadtleben entgegengesetzt. Das heißt: Landschaft wird weitgehend nur mit dem Fernsinn des Auges erlebt, also in ihren großen Konfigurationen oder besonderen (pittoresken) Reizen; der städtischen Welt wird sie komplementär als Freizeitwert zugeordnet und als eigenwertiger, problembelasteter, nicht nur menschenbezogener Lebensraum nicht wahrgenommen. Wenn Carl Gustav Carus, der Arzt und Maler, zuletzt in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts von der Landschaftsmalerei als einer „Erdlebenskunste“ sprach und damit meinte, daß das Bild der Landschaft nicht nur auf die dem Menschenauge zugewandte Schauseite reduziert werden dürfe, sondern von einer innigen Kenntnis der eine Landschaft erfüllenden formativen und lebendigen Kräfte getragen sein müssen –: dann müssen wir zugeben, daß wir davon nahezu keine Ahnung mehr haben. Auch stellt die Dominanz des Auges in der Landschaftsästhetik eine Reduktion dar, die zwar dem distanzierten Fremdsein des Menschen in der Natur entspricht und dem kulturgeschichtlichen Aufstieg des Auges zum 'ersten Sinn' entspricht, doch aber das Mitspielen des ganzen Leibes in der Landschaftsästhetik völlig vernachlässigt. Eben dies führt dazu, daß heute das Landschaftserleben überwiegend darauf beschränkt bleibt, mit dem Auto zu einem 'Aussichtspunkt' zu fahren, wo eine Restauration die nach kurzen Blickgenuß und halbstündigen Spaziergang schon sinnenmüden Besucher empfängt. Die gesamtkulturelle Unfähigkeit, Natur wahrzunehmen, führt dazu, daß die landschaftlichen 'Reize' sehr schnell verbraucht sind, weil das kenntnislose Auge nichts mehr sieht, die übrigen Sinne sich kaum noch mitteilen und die von den Medien gesprägten Sehgewohnheiten ohnehin an schnelle 'Schnitte' gewohnt sind – so daß es heute beinahe schon eine Absonderlichkeit darstellt, wenn eine(r) sich eine Stunde in eine Landschaftsblick versenken würde.
Doch selbst das an einen Aussichtspunkt fixierte Auge, wenn nur der Mensch sehfähig und kenntnisreich wäre, ist ein unerschöpflicher Quell von Wahrnehmungsströmen; diese vervielfältigten sich noch, wenn man wandernd den optischen Raum ergehen und ihn in ständigem Wechsel von Nähe und Ferne erfahren würde. Dann wird man langsam aufmerksam darauf, daß bei der Konstitution von Landschaften viele Sinne mitwirken und daß das 'stehende Landschaftsbild' nur ein Grenzfall von Landschaftsästhetik darstellt. Bewegung – nicht nur des eigenen Körpers, sondern der Dinge in Natur: wie anders wird das Wahrnehmen, wenn die Erfahrung von Auf- und Abstieg, von Schwere und Leichtigkeit, von wechselnden Geschwindigkeiten der Eigenbewegung hinzukommt; wie sehr kann das Sehen bereichert werden, wenn man das immerwährende Rieseln, Huschen, Herabschweben, das Fliegen, Aufsteigen, Stürzen, Gleiten, Ziehen, Flattern, die stille Beweglichkeit der Dinge und Tiere vom Waldboden hoch bis zu den Wolkenbildungen nicht nur wahrnimmt, sondern auch verstehen lernt. Was heißt es für die Landschaftsästhetik, wenn man wahrnehmungsfähig für die Geräusche wird, die an jeder 'Physiognomie', dem akustischen Gesicht einer Landschaft mitbildend sind – die Rufe und Klänge der Tiere, die Modulationen des Windes, die von der jeweiligen Formation und dem Bewuchs der Landschaft abhängen und sich schon nach wenigen Schritten verändern; die Geräusche der Wasser; die grundverschiedenen akustischen Masken von Tag und Nacht; das – zumeist bestehende – Ineinander von Naturklängen und zivilisatorischen Geräuschen (Flugzeuge, Autos, Menschen, Trecker, Schüsse usw.). Wie steht es beute, im Zeitalter der medial aufbereiteten Mettereologie, mit der Wetterfühligkeit als einem Faktor der Landschaftswahrnehmung? Wie rudimentär ist das Vermögen geworden die vielfältigen Anzeichen des Wetters mithilfe unserer Sinne noch 'lesen' zu können? Und ist das Wetter, auch in seinem Jahreszeitenzyklus, nicht für die differenzierte Wahrnehmung von Atmosphären in der Landschaft nicht konstitutiv? Inwieweit vermögen wir überhaupt noch Atmosphären in ihren feinen Nuancierungen in der Landschaft wahrzunehmen, geschweige denn zu beschreiben? Wechselt nicht auch das Atmosphärische, dieser sprachlose Ausdruck einer Landschaft im Zusammentreffen von vielfältigen objektiven Formationen und subjektiven Gestimmtheiten, ständig in leisen übergängen seinen 'Charakter'? Wie steht es mit unserer Kenntnis und damit unserer Wahrnehmungsfähigkeit des Vegetationszyklusses, insofern dieser ständig die Physiognomie eine Landschaft prägt und verändert? Dürfte sich jemand rühmen damit, daß ihm der Geruch, ja der Geschmack der Landschaft – eine wahrhaft reiche Welt sinnlicher Reize – für die Bildung seiner Landschaftserfahrung wesentlich sind? Wer darf sich erinnern, stundenlang das Licht und sein unendliches Spiel in den winzigsten Mulden einer Landschaft oder in den Domkuppeln eines Buchenwaldes studiert zu haben? Und spielt nicht der Gleichgewichtssinn oft eine große Rolle bei Landschaftserfahrungen, auf Seen etwa oder im Gebirge? Ja, ist nicht auch der Tastsinn beteiligt, z.B. beim Gehen, im Spüren des Untergrundes, felsig, moorig, sandig, federnd ... ? Und sollen wir gar von solchen Menschen sprechen, die auf eine für unser aufgeklärtes Bewußtsein dunkle Weise mit ihrem Leib in Korrespondenz zu unterirdischen Formationen (Gesteinslagerungen, Wasseradern) und unsichtbaren Energien (Strahlungen) stehen und von daher eine eigenartige Physiognomie von Landschaften aufbauen – so anders, wie für den europäischen Atlas der Anatomie des Körpers die seltsame Topographie der chinesischen Medizin (Akupunktur) fremdartig und, bis vor kurzem, ganz unsinnig aussah? – Alle Sinne, so jedenfalls können wir resümieren, sind beteiligt, wenn es nur so etwas wie die Kultivierung eines "Sinnenbewußtseins" (Rudolf zur Lippe) gäbe, das die Landschaft zu einem synästhetischen Wahrnehmen von Naturganzheiten werden läßt.

Künstler, wie Goethe oder Cézanne, wußten, daß es für die Bildung einer differenzierten Landschaftserfahrung jedoch nicht nur auf die Feinheit unserer Sinne und die Aufmerksamkeit unserer Gefühle ankommt, sondern ebenso auf Wissen und Kenntnisse. Landschaftswahrnehmung erfordert Studium; Unmittelbarkeit fördert selten mehr als Klischees und konventionelle Abzugsbilder zu Tage. Noch bis zu den Impressionisten wußte man, daß die Natur sich nicht dem 'Augenblick' erschließt, sondern Versenkung in den Blick und Vermittlung mit dem theoretischen und praktischen Wissen über das Leben der Natur erheischt. Dazu bedarf es einer anderen Rhythmisierung der Zeit. Unsere gewöhnliche Wahrnehmung ist auf blitzschnelles Identifizieren des Informationsgehaltes von Bildern geeicht. Die auf unseren Körper abgestimmte Sinnlichkeit ist durch das ungeheure Tempo der modernen Verkehrsmittel und die schockhafte Rasanz der Bildtempi in den Großstädten wie in den Medien gewissermaßen dezentriert worden, ruhelos, nervös, gierig, aggressiv. Naturwahrnehmungen erfordern ein anderes Verhältnis zur Zeit – so, wie auch kleine Kinder uns einen vom Effektivitätszwang befreiten Zeitrhythmus lehren könnten. Naturwahrnehmung macht die völlig anderen Zeitformen, Rhythmen, Zeitfiguren offenbar, in denen Naturprozesse organisiert sind. Menschenzeit, gesellschaftliche und historische Zeit, und die in Natur vorfindlichen Zeiten überschneiden sich nur in wenigen Zonen und klaffen im übrigen weit auseinander. Eben darum bedarf auch die Landschaftswahrnehmung eines Zurücktretens von der Zeitform, die das städtische Leben, die Arbeit und die Medien bestimmt. Eben diese Distanz zu sich selbst, ermöglicht eine Nähe zur Natur, worin Kenntnisreichtum und ästhetisches Urteil sich bilden können. Dann vielleicht wird auch die unter den sozialen überformungen vergrabene Verwandtschaft mit den Dingen spürbar, worin wir uns als in Natur eingeschlossen erfahren.

Schließlich eröffnet eine differenzierte Naturwahrnehmung auch Anschlüsse an Naturqualitäten, die in älteren Asthetiken mit den Begriffen des Naturschinen und Naturerhabenen charakterisiert wurden. Im Schönen wird eine Ordnung, Balancierung, Zusammenstimmung und Ganzheit erfahren, die nicht der Mensch 'gemacht' hat (etwa als Kunst), sondern die er als Produktivität der Natur achtet und als 'wohlgestaltet' ('kosmisch') empfindet: als verführe die Natur selbst wie eine Künstlerin. Im Erhabenen dagegen werden ungeheuerliche Dynamiken, mächtige Dissonanzen, gewaltige Ausbrüche von Kraft, unendliche Größen wahrgenommen, die in der elementaren Angst uns das Bewußtsein der Gefährdung vermitteln, im Unvermögen der Darstellung die Grenze unserer Vorstellungskraft, im Schwinden der Sinne uns die Kluft zwischen unserer endlichen Physis und den ungeheuerlichen Dynamiken der Natur lehren.

Es ist zu vermuten, daß die historische Schwächung des Wahrnehmungsvermögens und des ästhetischen Urteils erheblich daran mitgewirkt hat, daß innerhalb der, naturgeschichtlich gesehen, lächerlich kurzen Spanne von 150 Jahren das ungeheuer komplizierte Kunstwerk der Ökologie unserer Erde bis an den Rand seiner Zerstörung gefährdet wurde. Es soll hier auch nicht darum gehen zu analysieren, welche gesellschaftlichen Prozesse dafür verwantwortlich sind, daß unser Wahrnehmen von Natur so stumpf, unempfindlich, gleichgültig und arm ist. Vielmehr wollen wir sehen, in welcher Weise die Kunst heute im Umgang mit Natur uns wieder wahrnehmungsfähiger machen könnte – und welche Wege dabei Künstler gehen, die ihren ästhetischen Impuls aus dem Schrecken über die menschengemachte Naturzerstörung beziehen und in ihren Arbeiten in leiser Weise nach anderen Formen des Wahrnehmens, Denkens und Gestaltens von Natur suchen.

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HARALD A. FINKE hat eine Anordnung geschaffen, die Dialogbeziehungen zwischen dem angesiedelten Ameisenstaat, einem durch Gebüschgrenzen und Bäume gebildeten Raum sowie den plastischen Installationen entwickeln. Es ist, wenn man will, ein menschentypischer Eingriff: ein ganzheitliches Gebilde, den Ameisenstaat, in Säcke verpackt umzusiedeln; ein Handeln, das für die imperialen Gesten des Menschen symbolisch steht – auch wenn man, wie hier, die ökologische Absicht der Transaktion loben mag; auch wenn der Ort, wo die Ameisen hinkommen sollen, sorgsam ausgewählt ist. Die erste 'Antwort' der Ameisen ist: sie ziehen ab; aus welchen Ursachen auch, die erste 'Eingabe' des Menschen war falsch. Nun beginnt ein anhaltendes Beobachten und flexibles Eingehen auf die solcherart 'eigenwilligen' Zeichen der Ameisen. Von ihrem reorganisierten Bau aus legen sie Straßen zu verschiedenen Bäumen. So entstehen Neuformationen der Bodenfläche, eine 'Karte', die Finke zum Ausgang seiner Installationen macht. Am abgelehnten Ort der Ansiedlung errichtet Finke aus Eisenstäben eine Gitterpyramide, das "Ameisenhaus", formal eine Nachahmung des Ameisenbaus, zugleich aber auch das 'Denkmal' eines falschen Natureingriffs, leeres Haus aus dem Material des "tragischen Zeitalters", dem Eisen, durch welches, schon bei Ovid, mit der so erlangten Machtfülle des Menschen, Krieg und Unrecht in die Geschichte einzogen. – Finke schreibt kleinstformatige Bücher, mit Texten für die Ameisen, in Menschenschrift; die Bücher werden auf den neuen Bau gelegt und von den Ameisen bald integriert: sie verschwinden im Inneren. Suche nach Verständigung. Es entsteht die Idee der "Basisplatte (Ameisenschrift)": eine runde Eisenplatte mit herausgeschweißten geometrischen Zeichen, Mandorla, Dreiecke, Kreise, Segmente, Schlangen, Rechtecke, Keile –. ein hieroglyphisches Gebilde, ein Kosmos-Schild, an aztekische Formmuster ebenso erinnernd wie an den Satz Galileis, daß die Natur nicht in Buchstaben, sondern geometrischen Figuren geschrieben sei. Annäherung an die Ameisen? Ameisenschrift? Jedenfalls nicht mehr Menschenschrift, sondern Formensprache – im Übergang von Naturmythos und Aufklärung, im Zwischenreich von Naturform und Kunstgestalt ein rätselhaftes Zeichengebilde: Weltenscheibe, Opfergabe, Sakralornament, Ideogramm, Naturchiffre, Rebus, Rune, Mimesie. Jedenfalls ist die "Basisplatte" in der kleinen, durch schmale Stämme, Büsche, Blattwerk gebildeten Halle ein Monument, das den ungeheuren Abstand zwischen Menschensprache und Natursprache zum Ausdruck bringt, ohne das Geheimnis beider zu löschen. Auch der "Totemstab der Königin" ist ein Symbol des Zwischenreichs; ferne Erinnerung an naturnahe, totemistische Stammeskulturen, eingesetzt als Chiffre einer noch entfernteren Tierkultur. Aus der Erde ragend, dem Grund, biegt der Stab in einen horizontal schwebenden offenen Kreis ein –: äußerst verknappter Ausdruck für das fragile Gleichgewicht aller 'Vergesellschaftungen', die – trotz oder gerade wegen ihres Aufragens in den Geist (das in der Luft Schweben) – einer Verankerung in der Erde ebenso bedürfen wie eines gemeinschaftsstiftenden Ritus. – Alle drei Arbeiten werden durch markierte Laufstraßen auf den Ameisenhaufen bezogen und bilden mit diesem eine Zeichenkonfiguration, die von der Menschensprache so weit entfernt ist, daß eben dadurch der noch größere Abstand zur stummen Sprache Natur spürbar wird. Die ästhetischen "Eingaben" der figürlicher Verständigung mit den Ameisen sind für uns Zeichen eines Rätsels, einer Sehnsucht, eines stummen Bandes 'zwischen' Naturreich und Menschenwelt, der Erwartung einer Begegnung von Natur und Mensch.

MARGARETE KAHN geht den umgekehrten Weg. Wenn Harald Finke Zeichen baut, die einer poietischen Absicht Ausdruck verleihen und darin der Wahrheit nicht ausweichen, daß zwischen der Willkür der Menschenzeichen und dem stummen Fürsichsein der Natursprache eine ungeheure Kluft besteht, so versucht Margarete Kahn das ästhetische "Machen" weitmöglich zurückzunehmen und stattdessen das Finden wirksam werden zu lassen. Kunst ist nicht Ausstellung eines Könnens, sondern von Fundstücken. Die minimalen ästhetischen Eingriffe dienen allein der Bezeichnung der 'zugefallenen' Zeichen. Ein solches Programm ist romantisches Erbe und nicht zufällig konfiguriert Margarete Kahn ihre Trouvaillen mit Texten aus Novalis' Dichtung "Die Lehrlinge zu Sais". Hier noch einmal findet sich eine Erneuerung des alten theologischen Konzeptes einer Sprache der Natur, in welcher Gott durch stumme Zeichen zu uns spricht. Freilich wendet Novalis dieses Theologem ganz ins Naturästhetische, weil es ihm um die "große Chiffernschrift" der Natur zu tun ist, die sich dem aufmerkenden Blick des "sinnigen Betrachters" zum Auf-Lesen und Sammeln anbietet. So liegt die eigentliche ästhetische Arbeit Margarete Kahns in der aisthesis, dem ebenso vorsichtigen wie obsessionellen Abtasten der Figuren, die der Schüberg dem Augen 'zufallen' läßt. Auf unheimliche Weise wird der Berg lebendig – unheimlich, was heißt, daß wir uns dabei ebenso nicht-heimisch fühlen wie im Gegenteil rätselhaft vertraut. Denn diese 'zufallenden' Zeichen sind ebenso sehr bedeutungslose Zufälle herabgefallenen Geästs wie daß sie, ins Bewußtsein gehoben und zart markiert, den Schein einer Intention zeigen, Ausdruck sind von etwas, was spricht, ohne daß wir es verstehen. Kant fand den guten Gedanken, daß das Naturschöne figürlich zu uns spräche. Für den empfindlichen Blick, dessen Ereignis Margarete Kahn 'verzeichnet', spricht solcherart die Natur, in unübersetzbarem Idiom, das aber zweierlei zu verstehen gibt: daß inständige Wahrnehmung erheischt wird für das 'Lesen' der stummen Natursprache; und daß diese sich nur dem entdeckt, der sich verabschiedet hat von Nutzenkalkül und Herrschaftswillen, also - nach Kant - der Natur entgegentritt im „interesselosen Wohlgefallen", das Bedingung und Lohn zugleich ist jeder ästhetischen Wahrnehmung.

Auch BURKHARD FRIEDRICH arbeitet wie Margarete Kahn mit vorgefundenen Materialien des Schübergs: dem Gesang einzelner Vögel und den Geräuschkörpern des Windes. Auch hier geht es um ein Vernehmen der Natur und das Suchen einer ästhetischen Antwort: Dialogbeziehungen. Eindrucksvoll tritt hervor, welche inständige Konzentration und analytische Arbeit erfordert ist, um auch nur Ausschnitte aus den klanglichen Strukturen der akustischen Landschaft zu verstehen. Ging es bei Margarete Kahn um ein "schaffendes Betrachten" (Novalis) der optischen Charaktere, so bei Burkhard Friedrich um die Vergegenwärtigung des musikalischen Raums der Landschaft. Auch dabei wird der Schüberg zu einer Schule der Wahrnehmung. In Erinnerung an die literarischen und bildnerischen Landschaftsschilderungen der Vergangenheit wird durch die Arbeit Friedrichs bewußt, welche eine geringe Rolle die Klang-Physiognomie bisher in der Landschaftsästhetik spielte. Man erkennt, daß der Klangraum ebenso wie der Sehraum zur Unverwechselbarkeit von Landschaften gehört und daß ein Vernehmen der musikalischen Formen, der klanglichen Rhythmen und Schichtungen außerordentlich, nach Friedrich ebenso stark wie Kunst-Musik, zur ästhetischen Differenzierung des akustischen Sinns beiträgt. Die Saxophon- Improvisationen, unmitttelbar an den Vogelsang anschließend, sind ein Aufnehmen, übersetzen und Fortentwickeln der vorgefundenen Klangfiguren der Natur, wodurch zwischen Naturkunst und Menschenkunst eine Korrespondieren anhebt, das sich entgegensetzt der herrschenden Destruktivität der Mensch-Natur-Beziehung.

GUDRUN WASSERMANN moduliert Klänge und Licht des Schübergs. Sie implantiert dem akustischen Raum des Vogelsangs über diskrete Lautsprecher die Gesänge solcher Vögel, die auf dem Schüberg (und seiner Umgebung) nicht mehr heimisch sind, aber es waren. Ein Nachhall der Erinnerung: was der verdrängende Mensch aus der Natur vertrieben hat, wird gegenwärtig nun durch künstliches Arrangement. Nähert man sich der Installation Gudrun Wassermanns wird man die leichte Klangverschiebung des Raumes nur wahrnehmen, wenn man zuvor überhaupt ein nuancierendes Ohr für die klanglichen Charakteristiken des Schübergs entwickelt hat. Dann entsteht im Ineinander von originalem und implantiertem Vogelsang eine Irritaion, wie immer, wenn Wahrnehmung eines Gegenwärtigen sich überschneidet mit Erinnerung an Vergangenes oder Abwesendes. Auf den Lautsprechern liegen schwarze Glasplatten, die das Licht, durch das bewegte Blattwerk der Buchen fallend, anders reflektieren als der Naturgrund des Bodens. Lange, so will es die Installation, sollte man dem modulierendem Spiel des Lichts, der Sonnenflecken am Boden, den farblichen Nuancierungen auf den reflektierenden Glasplatten zusehen. Und vielleicht verstehen lernen, wie im Gang der Stunden von der Mogendämmerung bis zur einsinkenden Nacht das Licht nicht nur ein ewig unstetes, unendlich feines Filigran von Formen und Farbtönen bildet, sondern auch, im Verlauf des Tages, verschiedene Charaktere von einiger Dauer annimmt – viel mehr als die bekannten Differenzen zwischen Morgen-, Mittags- und Abendlicht. Man schaue auf nichts als auf das Bodenarreal und die Glasplatten: und wird hier sehen lernen, was hinter und über einem, ungesehen, sich ereignet –: am Schatten-, Licht-, Farben-, Formenspiel der Beleuchtung erkennen wir das Wetter, das Auf und Ab der Wolken, den Sonnenstand, die Windstärke, die Materialität des Bodens, ja auch den Luftstaub und die Atmosphäre als bildende Momente von Lichtcharakteristiken. So ins "Lichtspiel" (ein anderes Kino) versunken, erinnern wir Goethes Farbenlehre, sein umfangreichstes Werk, Frucht jahrzehntelanger Beschäftigung mit Licht und Farbe, im Experiment und freier Natur. Und gestehen ein, daß wir, hinsichtlich der plastischen Kraft des Lichts, weit entfernt sind von einer Kultur des Auges.

CARL VETTER arbeitet mit Steinen, kleineren Findlingen aus der Umgebung, und Bäumen. Zwei, nicht eben leicht zu entdeckende Räume werden so gebildet: auf der ersten Hügelkuppe oberhalb des Parkplatzes, ein geschwungener, blattförmiger Bodenraum von 35 m Länge und maximal 13 Meter Breite; sowie ein 23 m langer Wegeraum, am Grundweg längs der Grundstückgrenze der Tagungsstätte. Auch hier geht der eigentlichen Installation ein langes Suchen voraus, ein genaues Studium der geologischen Formationen, des Baumbestandes und dann: das Auf-Lesen der Steine in der Umgebung und das Auf-Finden der Installationsräume. Beide Baum/Stein-Konfigurationen sind dem factum brutum der Riesenfindlinge oben auf der Schüberg-Kuppe entgegengesetzt. Wiewohl in großen Dimensionen arbeitet Carl Vetter nämlich diskret. Die Bodensteine auf dem kleineren Hügel sind flachrunde Scheibensteine, die sich in ihren Formen einerseits dem weichen Auf- und Absteigen des Hügels anpassen, anderseits der Formstruktur der Baumschäfte am Grund, im Übergang zu den mächtigen Hauptwurzeln, sich anschmiegen. So entsteht zwischen den steinmarkierten Bäumen eine dünende Fläche, vom Hügel aufgewölbt, gehalten von je einem Schlußstein in den beiden Zwickeln des imaginären Riesenblatts, zusätzlich tariert durch eine geschwungene Mittelachse, die zwischen den Schlußsteinen über frei liegende Steine hinweg die längste Erstreckung der Schwingungsfläche bildet. Das so organisierte Kraftfeld des Bodens, durch Steine als den Zeichen der basalen Gravitation und des haltgebenden anorganischen Grundes markiert, konstrastiert mit den vertikalen Kraftvektoren der ragenden Baumstämme, die das aus der Erde Emporwachsende und Aufstrebende der organischen Formen bezeichnen. So setzen sich die unterschiedlichen Dynamiken des ersten, nämlich mineralischen, und des zweiten, nämlich botanischen Naturreiches in Korrespondenz, aber auch Dunkel und Licht, das Elemente Erde und das Element Luft, schwere, lastende Dünung des Bodens, der doch Grund allen Wachstums bleibt, und lichtgewirkte Erhebung ins Leichte, die doch im dunklen Grund wurzelt. – Die zweite Installation, der Wegeraum, hat zwei Eingänge, die von Doppelbäumen markiert werden, in deren Gabelung je ein Findling eingepaßt ist: erotisch gestimmtes Begegnen von Baum und Stein. Hügelwärts schwingt der Raum zum einem Halbovalbogen aus, gebildet von steinmarkierten Bäumen, was hier öfters in dem schmiegendzärtlichen Ineinander der Formen ein stummes erotisches Spiel assoziieren läßt. Vielleicht betreten wir mit dem Wegeraum überhaupt ein erotisches Kraftfeld. Stärker drängt sich eine Spannungspolarität von Baum und Stein auf; Gabelungen, Höhlungen, Furchung, Spreizformen abgestimmt auf Eindringung, Ausfüllung, Einschmiegung; Umarmen und Aufnehmen korrespondiert mit Ragen und Schwellen. Doch kaum auf dieser Spur anthopomorphisierender Erotik, bemerken wir, daß die Formensprache dieses Baum/Stein-Dialogs keineswegs der menschlichen Geschlechterordnung gehorcht, ja alles, was als Männliches oder Weibliches identifiziert wurde, kann in seinen Gegenpol umschlagen, ohne daß sich die Atmosphäre erotischer Empfindlichkeit verlöre. Spürbar wird nun die Differenz zwischen der in der Natur wirkenden Kraft des Eros, der Naturkraft par excellance, und dem konventionellen Schema der Humansexualität. Auch hier wäre, durch Empfindlichkeit des Wahrnehmens, überall von der Natur im Formspiel und der Mannigfaltigkeit ihres Eros zu lernen.

DORIS CORDES-VOLLERT arbeitet mit den Spuren der Zeit, die nicht Menschenzeit ist. Am Beginn eines 200 m langen abschüssigen Weges: vom einem Baumast herabhängend ein Steinpendel, verborgen in einem pyramidal aufgeschütteten Sandhügel. Regen und Wind werden diese Anordnung auflösen, den Sand abtragen, verwehen, verschwemmen: und das nun freihängende Pendel würde den leisen Bewegungen des Astes aufs feinste folgen. Eine andere Art von Zeit, eine andere Art von Zeitmessung. Doch dazu kommt es nicht: Spaziergänger zerstören die kaum installierte Konfiguration. Menschliche Destruktivität hat längst ein ungleich höheres Tempo als die Erosion, in deren langem Maß die irdische Zeit der geologischen Formationen arbeitet. – Vom Pendel/Sandhügel herab der Weg und in seiner Mitte die unregelmäßigen Fließrillen des Regenwassers: Erosionsspur en miniature. Doris Cordes-Vollert legt in der Trockenzeit die Erosionsfurt mit einem weißen Gaze-Streifen aus, an welchem die vom Wind in die Rille gewehten, kleinen Dinge hängenbleiben: winzige Ästchen und Steinchen, Gräser und Pflanzenteile. Aufgerollt wird der Gazestreifen mit den in ihm geborgenen Dingen zur Momentaufnahme eines Erosionszustands. Bei Regen gießt die Künstlerin in die nun ausgewaschene Erosionsfurt Milch, welche die Fließbewegung auf dem schwarzgrau schillernden Weg aufs genaueste ab-bildet und nach-zeichnet. Der natürliche Ort aller Dinge ist unten, sagt Aristoteles. Wir heute sehen dies als Effekt von Kräften: der Gravitation sowie der Verwitterung und der Abspülung der in langen Zeiträumen arbeitenden Kräfte des Wetters, des Klimas, des Wassers. Alle Materie strebt zur Mitte, d.h. für unsere Wahrnehmung nach unten. Alles fest Aufragende ist aus dem Element der Erde und wird unter dem Einfluß der anderen Elemente wieder zu Erde: am tiefstmöglichen Ort. Und unten, am Fuß des Weges, hat Doris Cordes-Vollert im spreizförmigen Verlauf der Erosionsfalten den "Schoß" entdeckt und mit einem pflugförrnigen Findling markiert. Hier also das Gegenstück zur Pendel/Sandhaufen-Installation: alles wird wieder in den "Schoß" der Erde zurückgenommen, dem es entstammt. Die Erde ist gynäkomorph, seit alters. Diese mythologische Vorstellung ist der Erfahrung ihrer Fruchtbarkeit ebenso geschuldet wie derjenigen des Rücklaufens aller Dinge in sie, welches hier durch die Erosionsphänomene symbolisiert wird. Der Erdschoß klammert alles Leben (= Zeit der Bewegung) in die Grenzen von Geburt und Tod. Der Pflugstein an unterster Stelle, im Schoß und Grab der Installation bezeichnet dieses Paradox: fruchtbares Hervorbringen und Zurücksinken im Tod, Formwerdung und Auflösung sind die zwei Seiten der tellus mater. Ihr Medium sind Zeit und Materie. Doris Cordes-Vollert bringt durch rituelle Zeichnungen von beidem, Zeit und Materie, diese Zusammenhänge zu Bewußtsein.

Die Arbeiten GERD FESTESEN und des einnamigen Künstlerpaars ULUMICHAEL STEINKE unterscheiden sich deutlich von denjenigen der übrigen sechs Künstler. Sind zwar alle Künstler einer "Ästhetik des Schonung" verpflichtet, so ist für die bisherigen Projekte charakteristisch, daß sie dieses Konzept umsetzen in Verbindung mit gestalterischen Eingriffen in das vorgefundene Material, das gleichwohl in seiner Eigensprachlichkeit respektiert wird. Gerd Festesen dagegen bezeichnet nicht ein anderen ästhetisch-technischen Umgang mit Natur, sondern dessen Gegenseite: die rücksichtslose Unterwerfung der Natur zu Menschenzwecken, die imperialen Gesten der Naturbeherrschung. Seine Markierungen der Baumriesen auf der Kuppe des Schübergs, durch Nummern und Kreuze, die Umzingelung der Lichtung durch das schrille Signalband von Baustellen, die farbige Versiegelung von Baumstümpfen erklären Natur zu dem, was sie gesellschaftlich ist: Bau- und Siedlungsland, Raum expansiver Zivilisation. Natürlich könnte auf dem Bauplatzschild auch stehen, daß der Schüberg insgesamt abgetragen wird, um ihn in ein Einkaufscenter zu verwandeln oder daß nun endlich ein Bergwerk eingerichtet wird, um das sagenhafte Gold aus dem Berg zu holen. Die Botschaft ist deutlich, wir kennen sie.

Ulumichael Steinke wiederum verpflichten sich der Konsequenz des Verzichts auf jeden Eingriff in Natur, auch dem ästhetischen. Ihnen ist der Schüberg als Einzelmoment einer Landschaft das Analogon aller Landschaften, die als solche schon Kunstwerke seien und einer ästhetischen Gestaltung nicht bedürften. Für sie heißt Kunst: Wahrnehmung der immer schon realexistierenden Kunst der Natur, Radikal wird Ästhetik hier mit aisthesis indentifiziert. Damit wird der äußerste Gegenpol zur poisesis erreicht. Der historischen Schrecken über den Fetisch des 'Machens', der eine gewaltige Dynamik der Destruktion hervorrief, hat damit auch die Kunst erreicht. Angesichts der ökologischen Krise als eines Effekts des technologischen Gestaltens und Ausbeutens, wird die Kunst, insofern sie der Technik verwandt ist, erschüttert: Ist nicht auch die Kunst allzu oft Vergeudung von Material, ausbeuterisch in ihrer exhibitionistischen Sucht, zerstörerisch und aggressiv, technikfetischistisch und von Ommnipotenzwahn getrieben? Gilt es nicht, auch in der Kunst vor jede Produktion eine Phase des Nicht-Handelns, der bloßen Wahrnehmung und Reflexion zu schalten? Könnte das, was Kunst wollte, Differenzierung nämlich des ästhetischen Sinns, nicht auch überführt werden in eine umfassende Asthetisierung des Alltagshandelns, in welches sich der künstlerische Impuls auflösen würde? Solche von Skepsis gezeichneten Überlegungen blockieren fürs erste die "kulturelle Selbstverständlichkeit" des künstlerischen Schaffens. Radikale Reflexion auf die Legitimität der Kunst und ihren Ort in der Gesellschaft, selbst ihre absolute Infragestellung im Namen einer in Naturfigurationen immer schon präsenten Kunst sowie einer darauf gericheteten ästhetischen Wahrnehmung –: das muß müssen heute gewiß stattfinden. Das letzte Wort über den Sinn künstlerischen Gestaltens, das immer auch Eingriff ist in Materie und Natur, wird dies freilich nicht bleiben.

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