Meiner beißt nicht. In: DIE ZEIT, 06.07.2000, S. 10.

Hartmut Böhme

Der Pitbull in uns

Im Haus gegenüber meiner Wohnung auf dem Prenzlauer Berg in Berlin wohnt ein schmächtiger Mann mit dem obligaten Dreistreifen-Anzug einer bekannten Sportartikelfirma. Im Sommer dröhnen scheußliche deutsche Schlager herüber, bei denen man weder lesen noch schreiben kann. Der Musiklärm erinnert mich an früher, die bierseligen Schützenfeste in der Lüneburger Heide. Meine Wut ist hilflos. Entnervt brülle ich gelegentlich ich von Balkon zu Balkon, mit mäßigem Erfolg. Ich bin vorsichtiger geworden, seit ich dem Kerlchen abends auf der Straße begegnete, mit einem vierbeinigen Kraftpaket neben sich, so furchteinflößend, daß ich jedes Vertrauen zu dem mit einer Leine an seiner Bestie befestigten Männlein verlor. Ich hoffte nur noch auf die symbolische Macht dieser lederner Verbindung, die seit alters das Verhältnis von Herr und Knecht kreieren soll. In meiner Angst sah ich schon den Pitbull auf mich zustürmen, das Herrchen mit sich reißend. Einige Zeit später sah ich das Tandem in einen schwarzen Opel Manta steigen, auf dessen Heckscheibe in der bei den Nazis beliebten Frakturschrift zu lesen war: Pitbull Germany. Alle Vorurteile in mir sind mit einem Mal aufgerufen. Ende des Verstehens. Auch als ziviler Bürger möchte man nach Polizei, Gesetzen, Bestrafung, Recht und Ordnung rufen.

Weitere Erfahrungen erschweren es, Tierfreund zu bleiben. Verlasse ich morgens das Haus, hebe ich den Blick nicht zum Himmel, um den Wetterstand zu erkunden, sondern gehe gesenkten Blicks zur Haltestelle der Elektrischen. Vierzig Tonnen Hundescheiße täglich in Berlin verwandeln Fußwege in manchen Stadtteilen zu Geschicklichkeitsprüfungen. Kürzlich sah ich zum ersten Mal eine ältere Dame, die mit einer kleinen Cellophantüte den Haufen ihres Pudels von einer dieser kleinen Bauminseln aufklaubte, die schon mit circa fünfzehn frischen oder verwitterten Würsten besetzt war. Es wirkte surreal, wie die Wunschphantasie aus einem Traum. Die mir aus New York vertraute Geste der Kot-Lese, wozu Hundehalter gesetzlich verpflichtet sind und weshalb Manhattan ein Eldorado gedankenlosen Flanierens ist, löste in mir eine tiefe Dankbarkeit aus. Am liebsten hätte ich der Dame die Hand geküßt, aber irgendein zivilisatorischer Schauder hielt mich nicht nur davon, sondern auch von freundlichen Ermunterungen ab. Seit einigen Jahren lösen die gekrümmten Rücken von Hunden, die mit zitternder Anstrengung ihr Geschäft verrichten, während ihre Besitzer sie in versunkener Teilhabe anschauen, in mir ästhetische Abwehrreflexe aus. Dieses anale Ensemble aus Menschenblick und Hundedrück war mir zuerst im Umkreis von Hamburg-Sternschanze, vollends aber in Berlin zum Auslösereiz von Ekelanfällen geworden. Vermutlich beeinträchtigt das mein Urteilsvermögen. Andere Begegnungen in Parks, durch die ich zu joggen pflege, vertieften die Baisse meiner Beziehung zu Herr und Hund. Während irgend so ein Vieh mich bellend oder fletschend ansprang, mußte ich, aus dem Lauf zur Salzsäule erstarrt, mir streotyp anhören: "Der ist ganz harmlos. Meiner tut nichts."

Abgesehen von solchem Unbill und einem Biß, den ich nicht erinnere, weil diese unliebsame Begegnung mit einem Schäferhund sich im zarten Alter von zwei Jahren zutrug, ist meine Erfahrungsgeschichte mit Hunden wechselseitig freundlich verlaufen. Wenn sog. Kampfhunde, von denen es zehntausend in Deutschland geben soll, nunmehr Menschen auf offener Straße zerreißen, ist allerdings die private Erfahrungsgeschichte mit Hunden absolut überschritten und ein gesetzlicher wie administrativer Notstand eingetreten. Mit letzterem mögen sich die endlich aufgescheuchten Innenminister abmühen. Zwischen der Scylla urdeutscher Hundelobby, die im Fundamentalismus der Standesvertretung gleich nach dem ADAC rangiert, und der Charybdis der Furcht und Mitleid, also Tragödienschauer verbeitenden Medien wünscht man den Politikern eine ruhige Hand. Denn es ist kein Zweifel, daß Deutschland bezüglich der Ordnung seines Verhältnisses zu Hunden, im Vergleich etwa zu Frankreich und Holland, aber auch der USA, einen erheblichen Nachholbedarf hat, nicht nur wegen der beißwütigen Wesen auf sechs Beinen. Moderne Staaten reagieren durchweg, wenn ein öffentliche Erregung verursachendes Problem auftaucht, mit Verrechtlichung. Wie immer auch in diesem Fall die Innenminsiter die Hundehaltung auf neue und hoffentlich bessere Rechts-Grundlagen stellen mögen, die Ursachen, welche zu den toten und verletzten Opfern von Hundeattacken geführt haben, können damit nicht beseitigt werden. Ja, sie werden nicht einmal bewußt. Denn das Problem sind nicht die Hunde, sondern die Menschen, ihre Kultur und ihre Geschichte.

Vermutlich begann der Prozeß der Verhäuslichung des Hundes vor 15000 Jahren. So unvorstellbar es scheint, wenn man eine Dogge neben einem Zwergpinscher sieht, so ist doch wahr, daß alle Hunderassen vom Wolf abstammen. Sagen wir also kurz: Hunde sind Kunstprodukte. Sie konnten verhäuslicht, ja vom Menschen abhängig werden, weil Wölfe Gemeinschaftstiere mit ausgeprägtem Sozial- und Schutzverhalten sowie kooperativ agierender Aggression bei der Jagd sind. Innerartliche Kämpfe sind durch genetisch verankerte Komments und Rituale begrenzt und dienen, durchaus die Gesamt-Fitness des Rudels steigernd, der 'Aushandlung' von Hierarchien. Wenn heute (aber gewiß auch schon zur Zeit der Römer) Hunde ihre Artgenossen zu töten vermögen, dann sind dies Züchtungsergebnisse, nicht die 'Natur' des Hundes. Aus dem Genpool der Wölfe war durch Züchtung eine Abzweigung möglich, welche den Konkurrenten um Beute zu einem hörigen Partner des Menschen verwandelte. Keine Hirtenkultur, erst recht nicht die seßhafte Agrarwirtschaft ohne den zivilisierten Hund. Ebenso wurde der Hund schon zu Urzeiten zu einem Instrument der Jagd entwickelt. Beide Varianten können wir bis heute beobachten: den Hütehund, dem wir im Urlaub auf der griechischen Insel oder dem provencalischen Hügel begegnen, ebenso wie dem allüberall anzutreffenden Hofhund einerseits; ferner dem Jadghund, dem kleinen Spezialisten bei der Niederwildjagd oder dem ausdauernden Experten der Parforce-Jagd. Dies sind hochkultivierte Ergebnisse von vielen Jahrtausenden Züchtung, die auf die Ausprägung von Hüte- und Schutzfähigkeiten ebenso aus war wie auf die Steigerung gezielter Aggression im Dienst des Menschen.

Nichts, was Hunde unternehmen, kann von der Kultur auf die 'böse Natur' im Tier abgewälzt werden. Hunde sind Kulturwesen – und ihr Verhalten ist ein Spiegel menschlicher Eigenschaften. Antik ausgedrückt: canis est speculum artis, non naturae. Der Hund ist ein Spiegel der Kunst, nicht der Natur. Im Lateinischen ist 'canis' auch die Bezeichnung für einen 'bissigen, barschen, aggressiven' Menschen. Dem ist nichts hinzuzufügen. Denn die Wahrheit ist, daß man nicht Eigenschaften des bösen Hundes metaphorisch auf Menschen übertragen hat, sondern umgekehrt wurde der Hund zum Träger 'böser' menschlicher Eigenschaften modelliert – bis herab auf die Ebene seiner Gene. Wenn man einen Menschen als Hund zu beschimpfen sich erlaubt, dann sollte man, der Wahrheit zu Liebe, den wütigen Hund als Menschen beschimpfen. Ecce Homo.

Der Philosoph und Staatstheoretiker Thomas Hobbes (1588-1679) hat uns endgültig jede Ausflucht verlegt, wenn er die Formel vom homo homini lupus prägte: der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Der Wolfscharakter, will Hobbes damit auch sagen, ist dem Menschen zu eigen. Und so sollten wir uns hüten, den grimmigen Hund als entfesselte Natur zu deuten, während er doch eigentlich ein entfesselter Mensch ist. Und so ist die erste Lektion dieser kleinen Übung folgende: wenn uns der Pitbull anspringt, so wütet, im Medium des Hundes, Mensch gegen Mensch. Im Grunde wissen wir das und verleugnen es immer wieder: nicht die Kampfhunde in unseren Städten sind das Problem, sondern eine Zivilisation, die sich in ihnen ausdrückt. Nur scheinbar sind die Angriffe dieser hochgezüchteten Kampfmaschinen ein Zeugnis zwischenartlicher Aggression; in Wahrheit sind sie maskierte innerartliche Wut, eine vertrackte Form des mit sich selbst agressiv zerfallenen Menschen. Dem ist mit Gesetz und Recht freilich nicht beizukommen.

Wie fast alle Tiere, welche zur Urgeschichte der Verhäuslichung gehören – wie z.B. die Taube –, so hat auch der Hund vielfach Eingang in Mythen und Religionen gefunden. Daß er das Attributtier der jungfräulichen Jagdgöttin Artemis ist, leuchtet ebenso ein, wie daß er als Sinnbild der Treue gilt oder als ausdauernder Spurenleser ein Wahrzeichen unermüdlicher Wahrheitssuche ist. Unheimlicher aber ist er, und das interssiert hier, als Tier des Todes. So ist er Begleittier der griechischen Unterweltsgöttin Hekate, einer der fürchterlichen Mächte der Antike. Den Eingang zum Hades bewacht der schauerliche Cerberus. In Ägypten ist der Totengott gar mit dem Hund, dem großen Anubis, fusioniert. Manfred Lurker hat gezeigt, daß Hunde Wesen des Liminalen sind, sie markieren oder bewohnen die Schwelle zwischen Diesseits und Jenseits. Das mag ihre symbolische Rolle in Totenkulten erklären, ihre reichhaltige Tradition als Unglück und Tod vorweisende Omen. Wenn auf Höllendarstellungen der Höllenschlund als zahnbewehrter Hunderachen geschildert wird oder man Hunde die Leichen der Sünder zerfleischen sieht, dann hängt dies mit uralten Ängsten vor Hunden als Leichenfledderern oder ihrer Rolle bei Totenritualen zusammen, wo sie das Fleisch von den Knochen lösten. Zur angstauslösenden Seite der Ikonik des Hundes gehört durchweg die zähnebesetzte Gefräßigkeit, worin die mythische Macht des fressenden Todes sich ausdrückt, der unseren integralen Leib zerstückelt.

In den Medienberichten heute über die Verwundungen der Opfer von Kampfhunden wird dieses mythische Arsenal von Ängsten immer wieder abgerufen. Ausführlich werden die Zerfleischungen und Verstümmelungen beschrieben, die wirklich grausamer und lebenszerstörender sind als glatte Messerstich- oder Schußverwundungen. Die Zerlegung des Körpers einer alten Frau durch mehrere Pitbulls wird beschrieben wie eine mythische Zerstückelung. So scheint es, daß die Kampfhunde, die neuerdings vermehrt in unseren Großstädten ihr Unwesen treiben, eigentlich ihr Wesen als mythische Todesbringer zeigen, uralte Ängste aufregend, die nachhaltig an unsere Versehrbarkeit, ja Verstümmelung erinnern. Es sind Boten des Anubis. Darum der Schauder der Medien.

Dabei ist es nicht selten, daß gerade dasjenige, was durch Züchtung und Zivilisierung uns beonders nahe geworden ist, auf einer tieferen Ebene zugleich unheimlich wird, mit Tod und Grauen verbunden. Auch dies ist ein komplexer Mechanismus. Der 'schwache' Mensch verstärkt seit jeher seine Kraft instrumental: er ist das toolmaking animal. Instrumente sind Medien der Ich-Erweiterung. Züchtungsprodukte folgen dieser Logik der Instrumente. Hochgezüchete Hunde sind nur scheinbar 'Natur'. Sie sind vor allem ich-erweiternde Instrumente und Medien der Selbstdarstellung von Kraft und Macht. Das nutzt der Zuhälter aus dem Milieu genauso wie das Dreistreifen-Männlein mir gegenüber. Verhaltensbiologisch kann man sagen: auf Aggression hin gezüchetete Hunde sind Instrumente der eigenen Umriß-Vergrößerung. Sie gehören zum Imponiergehabe, das im Tierreich weit verbreitet ist. Insofern nutzt der Kampfhund-Halter die urmenschliche Kulturtechnik der Züchtung, um ein tierisches Verhalten zu optimieren: das Imponieren. Darum ist der Kampfhund ein Menscheninstrument; der kampfhundhaltende Mensch dagegen ist ein Tier, das seinen Umriß vergößert.

Diese Fusion aber von Kulturtechnik und evolutionsbiologischen Verhaltensmustern ist eine in unseren Gesellschaften hochbrisante Mischung. Die Symbiose von High-Tech und Umrißvergrößerung ist in jedem Fitnessstudio zu studieren und noch in den grundlegenden Antrieben zur technischen Verbesserung aller möglichen Potenzen nachweisbar. Das mythische Phantasma, das in den Kampfhunden steckt, ist dasselbe, das der Film "Terminator" und alle seine Cyborg-Nachfolger entfaltet. Der Mensch, so lautet die Botschaft, züchtet sich im technischen Medium, das längst auf die Natur – den Hund, das Human-Genom – übergriffen hat, zu einer Potenz hoch, die in ihm selbst unheimlich wird. Nein, nicht 'in ihm', sondern ganz in seiner Nähe, 'neben ihm', in seinem Haus, in seiner Nachbarschaft, in seinem unheimlichen Heim. Das ist der Pitbull in uns, der Kampfhund als Selbstausdruck des Menschen und seiner Kultur. Und diese Bestie werden wir nicht durch Innenminister los, die nur dem Scheine nach für das 'Innen' zuständig sind.