In: Gazzola, Pia: Capire al volo / Im Flug verstehen; Milano 1999, S. 46-59.

Hartmut Böhme

Internationales BRIEFTAUBEN PROJEKT PIA GAZZOLA I997-98

"capire al volo / im flug verstehen"

Veranstaltung in Berlin
sinopsis

Pia Gazzola, in Italien geborene und in Österreich lebende Künstlerin, die sich selbst als Zeitplastikerin versteht, ist mit einer besonderen Idee an die antike Technik der Botschaftsübermittlung durch Brieftauben herangegangen, die sie im Licht der Zeit und der Technologien der Gegenwart verwenden und "transfigurieren" möchte.

Es wird in diesem interdisziplinären Projekt eine Annäherung an die kollektiven Formen unseres kulturellen Kommunikationsvermögens vorgeschlagen.

Die Reise der Brieftauben, die Botschaft, die die Tauben beim Fliegen mit sich tragen, und die Art derÜbermittlung; aus der Kontiguität der verschiedenen Ebenen ergibt sich eine Reihe von neuen Materialien und Elementen, die sich einerseits in einem neuen Kontext zu einem Arbeitsprozess in künstlerischen Werken artikulieren können, und andererseits Anlass zur interdisziplinären wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit verschiedensten Themen bieten.

Zeitwahrnehmung und Informationsübermittlung im Spiegel der elektronischen Medien, Grenzen, kulturelle Parallelen zwischen den teilnehmenden Ländern, und die Konstellationen „in situ" werden erforscht und hinterfragt.

Durch Brieftaubenflüge wird die physische Verbindung mit der „Natur" hergestellt, damit sich die Möglichkeit einer neuen geistigen Gestaltung in organischer Relation mit den gegenwärtigen technologischen und sinnlichen Erfahrungen der Infornwationswahrnehmung, ergeben kann.

..die Distanz ist eine Eigenschaft der Zeit, die die Qualität der Wahrnehmung charakterisiert. Die physische Distanz oder die Unmittelbarkeit (das Immediatsein der elektronischen Medien) der Information erzeugen proportional magnetische Felder der Zusammenhänge...Gemeinsam mit internationalen Brieftaubenzüchtern, Wissenschaftlern (Kommunikations- und Medienwissenschaft, Philosophie, Kultur- und Mentalitätswissenschaft) und Institutionen aus Deutschland, Italienund Osterreich ist die Durchführung des Projektes für 1998 geplant. Dafür wurde der Verein „pigeons net art wcrk-" Verein-Kunst-Kommunikation-Brieftauben, dessen Sitz in Wien ist, gegründet.

Die Aktionen in den verschiedenen Ländern werden dokumentiert und mit den Texten der beteiligten Wissenschaftler in Form eines Kataloges, betreut von dem italienschen Verlao,Mazzotta, herausgegeben und bei weiteren internationalen Ausstellungen gezeigt.


In Berlin fliegen die aus Osterreich transportierten (eingesetzten) Brieftauben vom Gebäude der Humboldt-Universität aus und tragen bestimmte Botschaften mit sich, die später A4aterial für weitere künstlerische Verarbeitung werden.

Dieser kurzeMoment des Abflugs und das "Werden" des Fluges sind in einem "mehrdimensionalen Event" festgehalten.

Aus dem Rahmen der unmittelbaren "Situation", die aus geschichtlichen, urbanistischen / architektonischen, strategischen Komponenten besteht, ist eine Installation in zwei verschiedenen Dimensionen konzipiert und geplant:

Beide artikulieren sich in „tempo reale": Die Zeit des Fluges (ca.9 Stunden) wie die Abwesenheit der Brieftauben werden in sinnlicher, taktiler Form auf einem medialen sowohl konkreten wie inunateriellen Weg, visuell in einer künstlerischen Projektgestaltung erläutert, zurückgeführt und spürbar gemacht:


Die erste findet in einem Hof innerhalb des Gebäudes der Humboldt Universität statt und ist für den Tag gedacht.

Die zweite ist eine Lichtinstallationund für die Nacht gedacht. Sie spielt sich auf dem Platz vor der Universität (Platz vor der Kammode / von der Universität ausgehend) ab und steht in Verbindung mit frontal gegenüberstehenden Gebäuden wie der Deutschen Bank & Solomon R . Guggenheim Foundation und der Orientierungsrichtlinie der Brieftaubenreise.

Aus diesen verschiedenen Dimensionen der Wahrnehmung wird parallel bei der„Ars Electronica", Linz (Museum of the future) ein experimentelles Projekt mit elektronischen Medien konzipiert, das bei der Eröffnung des Festival 1998 in Linz gezeigt wird.An ein und demselben Tag (7 September ) werden der Start der Brieftauben von Berlin und der Flug in realem Tempo "vernetzt". Auf verschiedenen medialen Ebenen, bis hin zur musikalischen, werden die Daten, die die Brieftauben mittragen, als Codes oder Kryptogrammeverarbeitet und in einer neuen Form in Linz "dargestellt".

erste Installation
Tagesinstallation


Eine Art Zeitmessungs-Instrument, in dem in realerZeit die Zeit, die die Brieftauben im Flug bis zur Ankunft in Wien (NO) brauchen, visuell wiedergegeben wird. Die Aktion beginnt ummittelbar wenn die Brieftauben ihre Reise starten.

In einem Innenhof der Humboldt-Universität (oder der Universitäts-Bibliothek) wird eine auf den Boden gelegte Plattform installiert:

In einem rechteckigen durch Eisenstäbe eingerahmten Feld, befindet sich glattgelegtes Marmormehl aus der Gegend (ca. 180 x 300 H 10 cm).

Ein Uhrwerk (Schrittmotor), an einer Aluminiumachse (mit unebener Oberfläche) befestigt, zieht und rollt auf sich Fäden (die Anzahl entspricht den reisenden Brieftauben), an deren Enden sich kleine Kugeln befinden.

In ca. 9 Stunden (die reale Zeit des Brieftaubenfluges) werden die Fäden sich auf die ziehende Achse eingerollt und die Spuren des Weges auf der mit Marmormehl gefüllten Plattform hinterlassen haben.

zweite Installation
Nachtinstallation

Ausgehend von dem Platz vor der Kommode, aus dem Gebäude der Humboldt-Universität (oder aus der Bibliothek ), wird ein Stahlkabel zum gegenüberliegenden Gebäude (die Deutsche Bank ) gespannt, auf dem eine Kugel aufgefädelt ist (eine von den Kugeln, die als Signal für die Flugzeugsicht vewendet werden: orange, fluoreszierend, ca. 40 cm 0). Ein kleines autonomes Zahnradsystem mit gesteuerter C;eschwindigkeit (ein Uhrwerk) führt die Kugel auf dem Stahlkabel langsam vorwärts, im realen Zeitschritt -Tempo. Das Uhrwek (auf die gewünschte Zeit programmiert, auf ca. 9 Stunden) wird von einem Lichtstrahl (Laser /Xenon ?) beleuchtet. Das ganze hat die Funktion einer Uhr, und die einzelnen Stunden werden auf dem Kabel mit einer Serie von kleinen leuchtenden Punkten sichtbar gemacht. Die Kugel wird also langsam durch den Platz, wie ein kleiner Planet in die Höhe schweben, bis sie, am Ende ihres Weges (was auch der Ankunftszeit der Brieftauben in Wien enspricht), die Wände des „anderen" Gebäudes, berühren wird.

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