In: Hager, Frithjof (Hg.): KörperDenken. Aufgaben der historischen Anthropologie; Berlin 1996, S. 237–249.

Hartmut Böhme

Zur Theologie der Telepräsenz

 

Religiöse Figuren der Technikentwicklung

Mehr denn als Politiker wurde Benjamin Franklin (1706-1796) berühmt als Naturwissenschaftler, der er in jungen Jahren war. Seine Erfindung des Blitzableiters machte ihn in der zivilisierten Welt des 18. Jahrhunderts zum Megastar. Mit technischen Mitteln jene Macht zu zähmen, die den Göttern seit Jahrtausenden als Attribut ihrer Majestät und Souveränität diente, beendete, wie es schien, in einem einzigen symbolischen Akt den Absolutismus der Götter, die destruktive Gewalt der Natur und die ausgelieferte Knechtschaft des Menschen. Daß Franklin den Blitzableiter erfand, die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staates mitformulierte und Botschafter der Demokratie im Ancien Regime war, wurde von der aufklärerisch-republikanischen Intelligenz in ganz Europa als ein großer Zusamenhang verstanden. Franklin stand, als Naturwissenschaftler wie als Politiker, symbolisch ein für den realmöglichen Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit (Immanuel Kant). Er wurde zur Figur des enlightenment schlechthin, die — so wie sie vom numinosenlightning befreite — die Menschen zugleich von ihrer Angst vor den natürlichen und staatlichen Übermächten emanzipierte. Als könne die Aufklärung einer Selbstmythisierung nicht entraten, wurde Franklin mit Attributen des Mythischen und Heroischen versehen. Er wurde zur Lichtgestalt, zum Erlöser und Botschafter im mehr als politischen, nämlich auch religiösen Sinn. Der Bann, von dem das aufgeklärte Denken sich löste, kehrte in der versteckt religiösen Glorifizierung eben desjenigen Mannes wieder, der diesen Bann gebrochen hatte. Die Dialektik der Aufklärung war geboren. Mit ihr die frei flottierenden religiösen Energien und theologischen Denkmuster, welche unter der Hand die Dynamik der wissenschaftlich-technischen Zivilisation antreiben.

Thomas Alva Edison (1847-1931) erfand viele Geräte, die für die Entwicklung der Telekommunikation und der technischen Medien grundlegend wurden. Er war aber auch der Eponyme des Konstrukteurs der ersten elektromagnetischen Androide im Roman "L'Ève future" (1886) von Villiers L'Isle Adam (1838-89) —, einer Androiden, die unschwer als die technischen Vorläuferin des luziferischen Roboters Maria in Fritz Langs Film "Metropolis" zu erkennen ist. Zur mythisch-religiösen Figur, zu einem Heiligen aber wurde Edison am 11. Februar 1927. Anläßlich seines 80. Geburtstags hatte man das alte Labor rekonstruiert, in welchem er die erste Kohlefadenglühbirne entwickelt und damit die Grundlage für den weltweiten Siegeszug der künstlichen Beleuchtung, dem Triumph über die Macht der Nacht, gelegt hatte. In ganz Amerika waren Elektrizitätswerke ausgeschaltet. Es herrschte Nacht, tiefer als im Mittelalter. In Anwesenheit des amerikanischen Präsidenten schloß der alte Edison den Kontakt zum Kohlefaden in der Glasbirne. Sie leuchtete auf und über ein telegraphisches Signal wurde in dieser Sekunde in ganz Amerika der Strom eingeschaltet: es strahlten die Städte und noch die kleinsten Dörfer auf und empfingen die Ausgießung des Heiligen Geistes der Elektrizität — man kann auch sagen: die Taufe, Abendmahl und Pfingstwunder zugleich der zweiten industriellen Revolution. Dieser 11. Februar 1927, so ist ohne Übertreibung zu sagen, ist ein Schlüsseldatum in der Religionsgeschichte der technischen Wissenschaften. Das elektrische Licht, die elektrische Energie ist das Medium, das seine eigene Botschaft enthält: der heilige Strom der industriellen Gesellschaften. Elektrizität bedeutet nicht nur — wie der Blitzableiter — gezähmte, sondern auch beherrschte Naturmacht; sie wurde zur Grundlage aller Modernisierung. Kein Wunder, daß der atheistische Praktiker der Revolution, Wladimir Iljitsch Lenin, außer ans Proletariat und an die ältere Technik, die Eisenbahn, vor allem an die Elektrifizierung als ein Evangelium der Modernisierung der rückständigen Sowjetunion glaubte. Elektrifizierung würde ins zweite Paradies, den Kommunismus, führen.

Wären ähnliche Re-Mythologisierungen der Technik, wären "pagane Mysterien" (Edga Wind) der Hypermoderne, wären Rituale der Selbstheiligung des Fortschritts, wären symbolische Formen, in denen die gegenwärtige Zivilisation auf einen Schlag sich selbst begriffe, heute denkbar? Ich behaupte: ja; und mache einen — nur schwach futuristischen — Vorschlag: am 23. Juni 2012, am 100. Geburtstag von Alan Turing (1912-1954), schalten überraschend die beiden Superrechner, die von Tokio und Californien aus gemeinsam den weltumspannenden Cyberspace organisieren, alle Datenströme ab. Der globale Snowcrash, die instantielle Infokalypse, würde auf einen Schlag sämtliche Funktionen aller Gesellschaften an jedem Ort der Erde zum Erliegen bringen. Die beiden Superrechner sind intelligent genug, den weltweiten Daten-Kollaps nicht nur herbeizuführen, sondern auch aufzufangen: nach dem weltweiten Schock eines elektronischen Schwarzen Lochs schaffen beide Rechner das Daten-Universum neu. — Jede Gesellschaft muß, um willen ihres Überlebens, begreifen, was Tod und Wiedergeburt sind. Jetzt, am 23.Juni 2012, hat die Welt es begriffen: das Geheimnis von Christus am Kreuz, von Resurrektion und vorbabylonischem Zungenredem an Pfingsten ist Snowcrash und Datenrettung. [Eine ähnliche Idee liegt dem Cyberpunk-Roman "Snowcrash" (1992; dt. 1994) von Neal Stephenson (* 1959) zugrunde.] Die Neue Theologie liegt im Cyberspace.

Zwischenrede

Wenn die drei Beispiele es nicht schon erzählt haben —: was ist mein Thema? Niemand hat es klarer formuliert als der österreichische Dichter und Naturwissenschaftler Robert Musil: "Wenn es die Verwirklichung von Urträumen ist, fliegen zu können und mit den Fischen zu reisen, sich unter den Leibern von Bergriesen durchzubohren, mit göttlichen Geschwindigkeiten Botschaften zu senden, das Unsichtbare und Ferne sehen und sprechen zu hören, Tote sprechen zu hören, sich in wundertätigen Genesungsschlag versetzen zu lassen, mit lebenden Augen erblicken zu können, wie man zwanzig Jahre nach seinem Tode aussehen wird, in flimmernden Nächten tausend Dinge über und unter dieser Welt zu wissen, die früher niemand gewußt hat, wenn Licht, Wärme, Kraft, Genuß, Bequemlichkeit Urträume der Menschheit sind, — dann ist die heutige Forschung nicht nur Wissenschaft, sondern ein Zauber, eine Zeremonie von höchster Herzens- und Hirnkraft, vor der Gott eine Falte seines Mantels nach der anderen öffnet, eine Religion, deren Dogmatik von der harten, mutigen, beweglichen, messerkühlen und -scharfen Denklehre der Mathematik durchdrungen und getragen wird." (Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Buch I, Kap. 11).

Die Naturwissenschaft, die seit Francis Bacon sich als Gegenpart oder als Überwindung der Religion verstand, hat nach Robert Musil ein religiöses Fundament, ja, sie ist fundamentalistisch, indem sie — anders als die klassischen Religionen — eine strikte Trennung der göttlichen und irdischen Sphäre nicht kennt, sondern in diesem Saeculum, auf Erden, die Träume, aus welchen die Religionen sich speisten, zu verwirklichen unternimmt. Meine These ist, daß es angesichts von Cyberspace und Neuen Medien, Gen-Technologie und Bio-Engineering an der Zeit ist, die religiösen Grundlagen der technischen Revolutionen aufzudecken und die theologischen Rhetoriken der neuen Propheten und Hohepriester zu analysieren. Ich folge darin nicht nur Musil, sondern auch Walter Benjamin, der die Wiederholung der Urgeschichte in der Moderne als eine tragende geschichtliche Figur entdeckte. Dabei sind zwei Voraussetzungen zu machen. Erstens: mit Religion und Theologie meine ich hier nicht geschlossene Lehrgebäude oder religiöse Großorganisationen. Charakteristisch für die Nach-Aufklärung ist vielmehr, daß religiöse Motive und theologische Denkfiguren aus ihrer dogmatischen oder institutionellen Bindung herausgebrochen und dadurch wild geworden sind (so wie Philippe Ariès vom Wildwerden des Todes sprach). Diese religiösen Kräfte flottieren, switchen und shiften, zucken und wuchern durch die Systemebenen moderner und postmoderner Gesellschaften, sie bilden keine Diskursordnungen, sondern — mit Michel Foucault zu sprechen — den murmelnden, bebenden Sockel der dem Scheine nach religionsfreien Diskurse und wissenschaftlichen Entwicklungen. Man könnte dies die Religionsform nach dem Todes Gottes nennen.

Die zweite Voraussetzung ist, daß ich nicht die Realebene technischer Entwicklungen untersuche, sondern deren Phantasmen, Überbauten und Hinterwelten im Nietzsches Sinn, ihr Unbewußtes und Verdrängtes im Freudschen Verständnis, ihre Performanzen und nicht die Propositionen im Sinn politischer Rhetorik und Linguistik.

Ferner ist vorauszuschicken, daß im hier nur zu umreißenden Forschungsprogramm nicht allein die allerneuesten Techniken im Licht vergangener Theologoumena und Mythologeme zu interpretieren sind, sondern umgekehrt auch die Geschichte der Religionen, der Phantasmen und Mythen als Vorgeschichte und Tiefenstruktur der heutigen technischen Entwicklungen rekonstruiert werden müßte.

Schließlich soll zum Wortverständnis nachgetragen werden, daß mit Cyberspace das elektronisch vernetzte Infoversum in allen seinen Spielarten und mit Telepräsenz jede Form von elektronischer Navigation, Selbstrepräsentanz und Datenverkehr gemeint ist.

Cyberspace ist in der gegenwärtigen Form eine Einrichtung des Datendemokratie. Sie bietet gute und preiswerte Chancen der Partizipation an der Globalisierung der Informationen, der Wissensvernetzung und der Rechercheoptimierung. Die kürzlich in den USA verabschiedete Magna Charta der Informationsgesellschaft der Zukunft hingegen ist ein entschlossenes Programm zur Kartellbildung von Informations- und Verkehrsmacht auf der Basis möglichst ubiquitärer Computerisierung und Vernetzung der Nutzer, die in ihren Partizipationschancen technisch wie ökonomisch abhängig werden von den staatsunabhängig agierenden drei bis fünf Infotech-Multis, die es in Zukunft noch geben soll. Mit dieser Ebene der Entwicklung beschäftige ich mich nicht.

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Theologie der Reinheit und der Weltflucht

Was sind Gottes Eigenschaften? Ich greife einige — nicht zufällig von Pseudo-Dionysius und Johannes Scotus Eriugena favorisierte — Qualitäten heraus (und lasse ethische Attribute wie 'gütig', 'gnädig', 'zornig' fort): Gott ist ubiquitär, also in seiner Präsenz ortsunabhängig; er ist instantiell, also zeitüberspringend gegenwärtig; er ist "antigrav" (H. v. Kleist), also nicht materiell, sondern reiner Geist, aber doch motil; er ist nicht-endlich, also kein Fleisch und Blut, damit nicht sterblich, dennoch lebendig und wirkend — er ist mithin infinites Leben. Er bildet eine eigene Sphäre des Immateriellen jenseits der Welt der Körper und der Dinge, doch so, daß er immer in sie einwirken, in ihr erscheinen oder sich aus ihr zurückziehen kann. Er ist alles, das sich darin zugleich entzieht. So ist er deus absconditus, anwesende Abwesenheit. Gott ist ferner absolute Bedeutung, Signifikant und Signifikat zugleich, Archeus Signor (Paracelsus). Gott ist — nach Nikolaus — das Nicht-Andere (Non-Aliud), eben das, wodurch alles 'nichts anderes' ist, als es ist: also der Prozessor, durch jedes a 'nichts anderes' als a ist (a est non-aliud quam a, nach dem Cusaner). Gott spielt den "ludus globi", er ist die Spielform, die alle Möglichkeiten enthält und durchspielt.

Meine Behauptung ist, daß damit die Metaphysik und die hintergründigen Funktionen des Cyberspace beschrieben sind. Es ist auffällig, daß von allen Theoretikern Cyberspace als eine immaterielle Sphäre beschrieben wird, die dem gegenwärtigen Weltzustand entgegengesetzt wird — als seine Überschreitung oder seine Erlösung. Der Weltzustand wird als die Sphäre der Materie, der Umweltverschmutzung, der sinnlosen Verschwendung, der Kriege, der Verrohung, der Gewalt, der Überbevölkerung, des Egoismus, der Steuerungslosigkeit, des Niedergangs, der Anomie und des Todes charakterisiert. Das sind Deutungsfiguren, in denen sich soziologisch-ökologische Befunde mit apokalyptischen Topoi mischen. Auffällig sind dualistische Oppositionen: ist die Erde dem materiellen Elend zugeordnet, so Cyberspace der entweder problementrückten oder problemlösenden Sphäre des Geistes; ist die Erde mit Schmutz konnotiert, so Cyberspace mit Reinheit; ist die Zeitform der Erde durch Entropiezuwachs, Sterblichkeit und Endlichkeit charakterisiert, so ist die Zeitform von Cyberspace die der instantiellen Omnipräsenz, der Entgrenzung und der Abwesenheit des Todes. Es ist der alte Gegensatz von Geist und Materie, Form und Stoff (philosophisch gesehen), der Gegensatz von Reinheit und Unreinheit, Jenseits und Diesseits, Unsterblichkeit und Sterblichkeit (religiös gesehen).

Cyberspace wird dabei verstanden als das Medium von Weltflucht wie zugleich als das Medium, um sich immer und überall in der Welt präsent zu machen. Cyberspace ist die technische Form Gottes — nämlich seiner Ubiquität und seiner Fähigkeit, alles zu prozessieren — also das Non-Aliud der Dinge zu sein, und dennoch in jeder Form des Erscheinens zugleich der Entzug des Erscheinens zu sein: Cyberspace ist ubiquitäre Gegenwart in der Form abwesender Anwesenheit.

Natürlich ist Cyberspace nicht Gott selbst, sondern ein menschliches Medium. Gott ist kein Flüchtling. Flüchtling freilich ist der Mensch — nicht nur, aber vor allem in der Gnosis. Aus einem heillosen Verhältnis der Weltfremdheit heraus ist die in der Gnosis einzig opportune Bewegung die der Weltflucht (Peter Sloterdijk/ Thomas Macho). Flucht aus der Welt des Elends, des Schmutzes, des Verfalls, des Schmerzes, des Todes, Flucht also aus der Leiblichkeit und ihren Bedingungen. Der Flüchtling überläßt das, woraus er flieht, seinem Schicksal, um dorthin zu kommen, wo genau diejenigen Übel nicht bestehen, um deretwillen er flieht. Meine Vermutung ist, daß die religiösen Motive des Cyberspace dazu führen, die Welt ihrem Elend zu überlassen und Cyberspace als Möglichkeit der Weltflucht in eine Sphäre des Reinen anzubieten — jenseits des endlichen Leibes und der sterbenden Erde.

Viele Cyberspace-Theoretiker meinen noch, daß Cyberspace eine Funktion der Problemlösung der irdischen Nöte und Dilemmata sei, und zwar die einzige Strategie, die die Welt vor dem Untergang noch retten kann. Davon abgesehen, daß auch dies ein religiöses Erlösungsversprechen ist, das schon mehrfach an technische Innovationen wie die Dampfkraft, die Elektrizität oder die Atomkraft geknüpft wurde und sich regelmäßig blamierte —, davon also abgesehen, halte ich dieses Motiv für vordergründig. Jenseits der politökonomischen Funktionen des Cyberspace, die ihn als eine Kapitalstrategie erweisen, zielen die tiefenstrukturellen Antriebe von Cyberspace nicht auf Zuwendung zur Welt, sondern auf den Ausstieg aus ihr. Cyberspace ist die aktuellste Form der Gnosis perennis — und zwar nicht, weil es im Internet unterdessen ein paar Cybergnosis-Gemeinden gibt, sondern weil seine Grundstruktur gnostisch ist. Die Propheten des neuen Cyber-Paradieses wie Marvin Minsky oder Hans Moravec sind Gnostiker in dem Sinn, daß sie programmatisch die Welt der Materie und der Leiblichkeit hinter sich zu lassen beabsichtigen, um eine 'reine', von keiner Stofflichkeit kontaminierte Sphäre des reinen Geistes zu kreieren. Das Platonismus zu nennen, tut Platon Unrecht, der ein politischer Philosoph war. Es sind Gnostiker und religiöse Fundamentalisten, welche die Verkettung der menschlichen Geschichte mit den biologisch-evolutionären Bedingungen strategisch aufzulösen sich sehnen. Es sind wilde Transzendenz-Sehnsüchte und keineswegs Problemlösungsstrategien, welche an der Behebung des Weltelends interessiert wären. Der Schrotthaufen Erde und der Madensack des menschlichen Leibes sind vielmehr das Opfer, das dem Ausstieg aus der Bioevolution umso leichter gebracht werden kann, als Erde und Leib insgeheim mit dem religiösen Stigma der Heillosigkeit und der Verdammnis belegt sind.

Cyberspace wird als evolutionärer Sprung aus der Enge des Leibes, aus der Begrenztheit der Intelligenz und der Hinfälligkeit der Materie ausgegeben. Als technisches Medium spaltet es unseren traditionellen Welt-Begriff auf in zwei systematisch getrennte Sphären, die eine religiöse Gliederung von 'Oben' und 'Unten', von 'Himmlischem' und 'Irdischem', von 'Unendlichem' und 'Endlichem', von 'Erhöhung' und 'Erniedrigung' verbergen.

Gegenüber den als Wissenschaftler auftretenden Propheten des Cyberspace halte ich die Autoren der Cyberpunk-Romane wie William Gibson, Bruce Sterling oder Neal Stephenson für die größeren Realisten. In ihren Romanen finden wir als durchgängige dualistische Grundstruktur einen Weltzustand radikaler Verelendung und Verrohung, von dem sich die Sphäre des Cyberspace in gottgleicher Reinheit abhebt. Hacker-Punk zu sein heißt, zu den "Verdammten der Erde" zu gehören und doch im materiefreien Raum der Zeichen einen schwerlosen Heroismus und divinen Dandyismus zu zelebrieren. Der anarchische Cyberpunk ist keine Sozialfigur mit Zukunft, wie man der Magna Charta leicht entnehmen kann. Er ist aber ein geeignetes literatisches Konstrukt, um die radikale Spaltung der Weltsphären, wie sie mit Cyberspace gesetzt wird, erzählbar zu machen. Gegenüber Leuten wie Minsky, Moravec oder Timothy Leary sind die Cyberpunk-Autoren die schamlosen, schwarzen Engel der neuen Gnosis. Sie erzählen rücksichtslos die Destruktion der Erde und die Auflösung aller kulturellen und politisch-sozialen Traditionen als die Kehrseite des mystischen Glanzes von Cyberspace. Es wäre also mit folgender Logik zu rechen: die technische Umsetzung des alten Traums, den menschlichen Leib und das irdische Jammertal in Richtung auf den homo secundus deus zu überschreiten (Vinzenz Rüfner), bringt mit dem Cyberspace zugleich die Vermüllung der Erde und der traditionellen menschlichen Kultur hervor. Selbstvergottung setzt die Apokalypse der Erde voraus.

 

 

Nowhere — Now Here

Gott — so hieß es bei Nikolaus von Kues — ist das Non-Aliud, jener Prozessor oder Operator, der die Dinge als sie selbst, a = a, generiert. In gewisser Hinsicht ist dieser Gedanke die Vorwegnahme eines Modells der Zeichen-Generierung und der Turing-Maschine. Der Konstruktivismus, der dem Cyberspace zugrundeliegt, läßt in seinen Propagandisten die Vorstellung wachsen, als seien sie selbst jenes Non-Aliud, das die Dinge im virtuellen Raum als 'nichts anderes' als diese selbst erzeugt. Und das trifft zu. Denn es gibt keine Interferenz mit der Materie, keine Vermischung mit der opaken Welt der Stoffe und Leiber. Im technisch Virtuellen ist alles selbstidentisch kraft des 'Non-Aliud' des Archeus Signor, dem Rechner. Gewissermaßen eine schattenlose Welt aus nichts als Licht. Das macht den Cyberspace für immer mehr Menschen heute so attraktiv.

Für diejenigen, die mit der Kleinheit und Abhängigkeit ihrer endlichen, leibgebundenen Identität sich nicht abfinden können, eröffnet Cyberspace eine Sphäre radikaler Entgrenzung, in welcher zwei Mythen wiederholt werden könn en: der umgekehrte Mythos des Antaios und der Mythos des Proteus. Antaios war ein Gigant, Sohn der Gaia, der von Herakles so lange nicht besiegt werden konnte, als Antaios beim Ringkampf Kontakt mit der Erde herstellte, die ihm neue Kraft einflößte. So stemmte Herakles ihn in die Höhe und raubte ihm damit seiner Kontaktkraft mit Gaia. Cyberspace funktioniert umgekehrt: so lange man den Kontakt mit der Erde unterbrochen haltenkann, ist man ein Gigant des Virtuellen. Nicht nur ein Antaios, sondern ein Proteus: wie jener mythische Verwandlungskünstler kann man — nicht an den eigenen Leib, nicht an den Namen, die Identität und das Geschlecht gebunden — jederzeit eine andere Identität figurieren und mithin virtuelle Selbstrepräsentanzen kreieren, deren proteisches Genie man ist.

Für andere mag Cyberspace eine Sphäre des sauberen Eros sein, eine Aidsfreie Zone. Heute ist jedenfalls absehbar, daß die Eroberung der sinnlichen Welt eine Hauptfront der Cyberspace-Experimentatoren und -Künstler darstellt. Nicht nur Sehen und Hören, sondern auch und vor allem das Fühlen soll im Cyberspace ermöglicht werden. Es geht darum, jene grundlegende Antriebsenergie des Menschen, das Erotische, aus der ineinander verschlungenen Präsenz materieller Körper zu lösen — ohne Verlust an sinnlicher Intensität. Rober Musil hatte dies die "Fernliebe" genannt. Tatsächlich arbeiten Heere von Cybnerspace-Anhängern, ich nenne nur Derrick de Kerckhove als Leitdenker und Stellarc als Künstler, an dem Projekt, den Berührungsraum zu telematisieren. Das Ziel ist: als welches schäbige Ich und wo auf dieser verseuchten Erde auch immer man sich aufhält, man wird mit jeder anderen Person der Welt, unter welchen virtuellen Maskierungen auch immer, in lustvolle sinnliche Kontaktbeziehungen treten können.

 

Mikrokosmos

Michel Foucault hat in der "Ordnug der Dinge" für die Renaissance vier Formen des Wissens ausgemacht: convenientia, aemulatio, analogia, sympathia. Die aemulatio ist die raumüberspingende, berührungslose Korrelation der Dinge, ohne Verkettung und ohne Benachbarung. Das ist die Kontaktform, die Cyberspace den Erotikern unter seinen Anhängern verspricht. Von der Sympathie sagt Foucault, daß sie "in freiem Zustand in den Tiefen der Welt" spiele: "Sie durchläuft in einem Augenblick die weitesten Räume." Und der Raum der Analogie, so sagt Foucault, ist "ein Raum der Strahlungen. Von allen Seiten wird der Mensch davon betroffen, aber dieser gleiche Mensch vermittelt umgekehrt die Ähnlichkeiten, die er von der Welt erhält. Er ist der große Herd der Proportionen, das Zentrum, auf das die Beziehungen sich stützen und von dem sie erneut reflektiert werden." Eben dies, einen Mikrokosmos im Infokosmos darzustellen, ermöglicht Cyberspace. Dies ist die Verlockung für alle die Surfer und Daten-Junkies, Punks und Hacker, Anarchos und Artisten, Schwärmer und Panerotiker, denen Cyberspace zum Medium eines universell geweiteten Narzißmus und eines grandiosen Selbstgefühls wird, für Datenpiloten mit einer philobatischen Lust an schwereloser Mobilität, grenzenloser Reversibilität und sinnlich-intensiver Propriozeption. Es gehört zu den Merkwürdigkeiten von Cyberspace, daß seine hypermodernen Formen — der Zeichenproduktion, der Selbstrepräsentanz und des Verkehrs — grundlegende Strukturmuster der Vormoderne, nämlich das semiotische Modell von Mikro- und Makromosmos aus dem Mittelalter und der Renaissance einzulösen scheinen.

 

Auge Gottes und Schamanenreise

Es gibt heute bereits eine Cyberspace- Installation, bei der der Planet Erde weit unter einem Betrachter schwebt, der versehen mit einer Bildschirmbrille und einer Art elektronischem Finger Gottes sich schichtenweise zu jedem Punkt der Erde hinunterbeamen kann — z. B. also durch die Stratossphäre, auf Europa zu, auf Deutschland zu, auf Berlin hinunter, in die Freie Universität und ins Institut für Soziologie: jeweils werden dem Betrachter aktuelle Daten über die Bilder und Bildausschnitte geliefert, die er bei seiner Fahrt aus Satellitenentfernung bis herunter zu einem Haus oder Platz auf seiner Screenbrille sieht. Im Roman "Snow Crash" von Neal Stephenson ist diese Technik, die weit übertrifft, was Wolfgang Sachs über den Satellitenblick herausgearbeitet hat, bereits zu einem selbstverständlichen Medium von fiktiven Reisen und der Informationsbeschaffung geworden. Die Idee ist, den Planeten Erde im Cyberspace in aktuellster Form jederzeit virtuell zu simulieren und elektronisch navigierbar zu machen.

Es sind zwei religiöse Ideen, die hier Pate stehen. Die eine ist: das Auge Gottes. Sich zu jedem Augenblick an jedem Punkt der Welt virtuell einklinken zu können, wiederholt, was die alte Metapher des Gottesauges ausdrücken wollte: vor Gott ist die Welt in völliger Transparenz und Präsenz gegeben. Insofern ist Gott ständig, aber virtuell, anwesend, wenn auch real abwesend. Die Welt ist dem Augen Gottes absolut gegeben, nicht aber ist der Welt das Auge des Betrachters gegeben. Man weiß, daß diese Idee der Architektur-Phantasie des idealen Gefängnisses von Jeremy Bentham, an dem Michel Foucault den Panoptismus der modernen Überwachungs- und Kontrollgesellschaft modellhaft entwickelt. Dem Panoptismus liegt die maschinale "Scheidung des Paares Sehen/ Gesehenwerden" zugrunde. Übersehen hat man dabei die augustinische und protestantische Dimension des Panopticons, das eine Allegorie der absoluten Auslieferung der Welt an das Auge Gottes ist. Es ist nicht nur eine Maschine der Macht, sondern der Metaphysik der technischen Medien, die heute in Cyberspace entfaltet wird.

Zum zweiten weist das Modell des fliegenden Auges im Cyberspace alle Merkmale der klassischen Schamanenreise auf. Zur Topik der "Himmelsreise der Seele" (Carsten Colpe) gehört das ortsfeste Verharren des Körpers des Ekstatikers, während seine Seele, mit allen Sinnen und Erfahrungsmöglichkeiten ausgestattet, in einem Nu, also instantiell, an irgendeinem anderen Punkt der Erde ist. Tatsächlich gehört die Immobibilierung des Körpers zu den Bedingungen der Reisen in Cyberspace (wie schon zu jeder vorangegangenen Form technischer Beschleunigung der Bewegung). Man kehrt aus ihm in den Leib, der wie eine tote Hülle zurückgelassen wird, zurück wahrlich aus einer anderen Welt, der Welt des Panopticons, der Welt der unbegrenzten Möglichkeiten, also des Himmlischen Amerikas. Joseph Beuys war der letzte Schamane der Kunst der Materialien. Die neuen Schamanen sind die Cyberspace-Artisten im Immateriellen, die sich, ohne es zu wissen, unter dem Emblem Leon Battista Albertis versammeln: dem geflügelten, flammenden Auge, der damit auch schon göttliche Attribute beansprucht hatte. Freilich fehlt heute die Ambivalenz, der Selbstzweifel, die Demut und das Wissen um die eigene Abgründigkeit, welche im Emblem Albertis auch zum Ausdruck kommen.

 

Sprache der Engel: Cyberspace und Angelogie

In den letzten Jahren erscheinen gehäuft Bücher über Engel. Angelogie hat Konjunktur. Das ist prima facie verwunderlich: denn was hat unser ebenso aufgeklärtes wie reizgieriges Zeitalter mit jenen geschlechtslosen Langweilern zu tun, als welche man sich diese Bewohner des Empyreums gewöhnlich vorstellt. Michel Serres hat dagegen zuerst das angelische Empyreum mit der elektronischen Welt assoziiert. Cyberspace und Angelogie, so meine These, hängen zusammen.

Im 18. Jahrhundert hatte der von Immanuel Kant als Geisterseher diagnostizierte Emmanuel Swedenborg eine Theorie der "Sprache der Engel" entwickelt — in genauer Kenntnis der Traditionen, die sich hinsichtlich des himmlischen Verkehrs der Empyreiker gebildet hatten. Sie besteht, kurz gesagt, darin, daß Engel in einer Art totalen communitas miteinander verbunden sind, so daß zwischen ihnen jedes Signal unmittelbar, unverstellt und reibungslos, ohne Dunkel und ohne Übersetzungsfehler, präsent wird und untereinander getauscht. Dieser universellen Transparenz der Kommunikation ist die Realwelt entgegengesetzt, die zerrissen ist in Kämpfe, Verstellungen, Egoismen, Brutalitäten, eine grausame und verbissene Wolfswelt.

Es ist nicht schwer, in dieser Konstruktion die Theorie von Global Village wiederzuerkennen. Global village lebt von der religiösen Idee, daß sich neben oder über der Welt der Zerrissenheiten eine telematische Welt aufbauen liesse, in der alle kommunikativen Akte zur Kommunion der daran Beteiligten — und dies sind alle — werden könnten. Wie die Engel sind alle mit allen verbunden, tauschen sich aus, sind gleichberechtigt, offen und unverstellt, verständigen sich, informieren einander, über Zeiten und Räume hinweg bilden sie eine kommunitäre, ja fast urkommunistische Sozietät. Wenn Global Village nicht die Sprache der Engel kopiert, so verspricht es wenigstens den telematischen Garten Eden, das virtuelle Paradies, nachdem mit Charles Baudelaire die Moderne bereits ins Zeichen der "Künstlichen Paradiese" getreten war.

Regine Kollek hat in einer Untersuchung zur Sprache der führenden amerikanischen Genetiker, die an der Entzifferung des menschlichen Genoms arbeiten, festgestellt, daß diese sich durchweg der Grals-Metapher bedienen: Genetiker sind Gralssucher, wodurch das Humangenom selbst zum Gral wird. Der Gral ist ein christologischen Erlösungssymbol. Offenbar versprechen sich die Genetiker von der technischen Verfügbarmachung des Genoms ein Heil, das der Erlösungstat Christi und seinem Evangelium gleichkommt. Dieses Heil besteht nicht darin, daß man 0,6 Promille Erbkrankheiten rechtzeitig erkennen und ausschließen kann. Das ist eine rationalistische Schutzbehauptung. Derartig hochbesetzte kulturelle Symbole wie der Gral kommen nur zur Anwendung, wenn eine tiefenstrukturell wirksame Hochenergie daran arbeitet: es kann sich hierbei nur um zwei Bedeutungen handeln, die dem sakralen Rang der mobilisierten Metaphorik gerecht werden. Dies ist erstens: die Entzifferung des menschlichen Genoms wird gleichgesetzt das Eindringen in das eigentliche Geheimnis Gottes, in das Rätsel Leben, das an seinem höchsten Geschöpf buchstabiert wird. Und zum zweiten: das Genom kennen, heißt es verändern. Der Mensch tritt damit in die Potentialität der Selbstschöpfung ein. Er kann aus der langwelligen bioevolutionären Geschichte ausscheren und sich selbst zum Kreator der künftigen Gestalt des Menschen aufschwingen. Auch hier begegnen wir dem religiösen Motiv der Selbstvergottung des Menschen. Dies entspricht dem an Cyberspace entwickelten Moment der Überwindung des endlichen und hinfälligen Leibes, der Weltflucht und der Sehnsucht nach einer göttlichen Souveränität. Zwei der wichtigsten gegenwärtigen Forschungsfronten sehen, religiös betrachtet, sich außerordentlich ähnlich. Sie sind vermutlich Varianten derselben religiösen Grundbewegung des Transzendierens der Natur.

Und sie sind wohl auch gemeinsam darin, daß Cyberspace und Humangenetik Junggesellengeburten sind. Wenn irgendwo, so wären hier gender studies mehr als fällig. Seit der berühmten Ausstellung in Venedig 1975 wissen wir, was "Junggesellenmaschinen" sind. Seither ist das Wissen darüber gewachsen, daß die Naturwissenschaften genau wie die Alchemie, die Androiden-Phantasmen der Kunst- und Literaturgeschichte, daß die technische wie die künstlerische Moderne sich nicht von dem Verdacht befreien können, wonach sie sich zum Subjekt aller Kreativität unter einem doppelten Ausschluß zu ermächtigen: dem Ausschluß Gottes und dem Ausschluß der Frauen, die beide die wichtigsten Mechanismen der Prokreation besetzt hielten. Diese sind heute der Zielpunkt der technischen Entwicklung, ind er Perspektive von Cyberspace wie des Bio-Engineering. Die Wissenschaften drohen eine zölibatäre Verschworenengemeinschaft, zu einem mönchischen Geheimbund zu werden, wenn sie sich nicht über die ihre Herkunft aufklären.

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