In: Schneider, Manuel / Geißler, Karlheinz A. (Hg.): Flimmernde Zeiten. Vom Tempo der Medien; Stuttgart Leipzig 1999, S. 309-323.

Hartmut Böhme

Von der Vernetzung zur Virtualisierung
der Städte:

Ende der Philosophie - Beginn des Neuen Jerusalem ?

Im vierten der "Zehn Bücher über die Baukunst" von Leon Battista Alberti (1404-1472) findet sich der Satz: "Das Ideal einer Stadt und ihre Aufgabe nach Meinung der Philosophen können wir darin erblicken, daß hier die Einwohner ein friedliches, möglichst sorgenloses und von Beunruhigung freies Leben führen." - Man erkennt darin die Formel einer mehr als zweitausendjährigen Geschichte, in der die Philosophie und die Stadt sich parallel zueinander entwickelten. Das Denken war städtisch. Selbst die zynischen Kontrapunkte des kunstvoll barbarischen Diogenes waren Attitüden, die ohne die Polis undenkbar waren. Und die Stadt, so verunreinigt sie vom Bodensatz des Realen erscheinen mochte, war oder sollte sein die Verkörperung des Denkens. Stadtbau und Ideenlehre sind zwei Seiten derselben Medaille. Die Ideen sollten, nach dem Willen Platons, sich in Politik übersetzen und diese sich im utopischen Staat materialisieren, mit der Stadt als Zentrum von Herrschaft, Ordnung und Sozietät.

Indessen, die Geschichte dieser Verschwisterung des in Lettern geschriebenen mit dem in Stein gebauten Diskurs ist in ihr letztes Stadium getreten. Die heute zu beobachtende Dissoziation des Denkens ist eine hilflose Verdoppelung der Anomie, vielleicht gar der Agonie der Städte, die den äußersten, schon unfaßlichen Punkt ihrer Denkbarkeit in den steuerungslosen Megalopolen der dritten und vierten Welt erreicht haben. In den distinktionslosen, überbordenden, also grenzenlos werdenden Riesenstädten ist das Denken zum abgewiesenen Asylbewerber geworden - wenn es sich nicht in die rührungslose Kühle der künstlichen Intelligenz zurückgezogen hat. Zwischen diesen Polen einer neostoischen KI-Apathie und eines erzwungenen nomadischen Zynismus hat sich die Architektur der europäischen Philosophie aufgelöst. Nicht von innen her -; vielmehr wahrt die Philosophie, noch in ihrem Ende, die Treue zur Stadt, indem sie an deren Schicksal ihr eigenes knüpft.

Alberti konnte in seinem Diktum auf einen Konsens vertrauen, der seit der politischen Philosophie Platons und Aristoteles' das städtische Denken ebenso wie die Architektur-Theorien, etwa des römischen Klassikers Vitruv, getragen hatte. Dieses antike Erbe konnte sich der christliche Dualismus einverleiben, der nicht nur metaphysisch, sondern auch architektural im Bann der beiden Stadtarchetypen stand: dem stadtfeindlichen Typus der Hure Babylon und dem stadtutopischen Typus des himmlischen Jerusalem. Bei Alberti ist ununterscheidbar, ob er platonisch im Sinne der kummunitären Idealität der Polis oder christlich im Bild des neuen Paradieses denkt, das anders als in Form der idealen Stadt (nicht einer ursprünglicher Natur) unvorstellbar war. Zwar gibt es in unserer Kultur zwei Formen von Utopien: die rurale, nämlich der Garten Eden, verweist jedoch durchweg nach rückwärts auf einen imaginären Ursprung; während die urbane Utopie, in Gestalt des Himmlischen Jerusalem, ein Eschaton ist; es absorbiert die Hoffnungen und Sehnsüchte des Futurs. Vom Standpunkt des Cyberspace aus haben die Städte jedoch den Status des Futurs II: wie werden gewesen sein.

Im 19. Jahrhundert wurden die Städte, trotz der Professionalisierung und Verwissenschaftlichung des Städtebaus, nicht mehr vom Kopf aus gedacht (wofür die Aufsichten der idealen Stadt das ikonische Pendant bildeten). Sondern sie wurden von unten her aufgerollt: die Industrialisierung bildete die Basis einer Stadtentwicklung, die nicht mehr von einem Gesamtwillen integriert wurde, sondern rhizomartig wuchernd sich ins Land fraß. Die Großstadt-Literatur des vorigen Jahrhunderts findet hier ihr Faszinosum und Tremendum. Die traditionale Gesellschaft wurde dabei ebenso planiert wie die entwurzelte Landbevölkerung von der Stadtluft angesogen wurde, die einem ondit zufolge frei machen soll. Dieser Prozeß scheint unaufhaltsam. In Kürze wird mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in großen Städten leben oder vegetieren. Im Flächenstaat USA leben, so das Ergebnis des Census von 1990, heute bereits mehr als fünfzig Prozent der Bevölkerung in Städten über eine Million. Der biophysisch wie sensorisch für ein Kleinhordendasein in weiten Savannen geprägte Mensch ist dafür nicht eben optimal geeignet. Das biologische Gedächtnis, das in der Körperstruktur des Menschen sedimentiert ist, veraltet mit dieser. Die frühe Metapher vom Großstadt-Dschungel ist wie ein unbewußter Reflex darauf, daß die psycho- und sensomotorische Ausstattung des Menschen für die Raumstruktur und die davon geprägten Bewegungs- und Lebensformen der Großstadt ungeeignet sein könnte. Der Dschungel ist kein orignärer Siedlungsraum des Menschen. Wenn Städte als Dschungel und undurchdringliches Dickicht metaphorisiert werden, könnte dies ein Indiz dafür sein, daß schon die klassischen Metropolen des 20. Jahrhunderts als transhuman erlebt werden. Die Megalopolen von heute, zwischen 10 bis 30 Millionen Menschen agglomerierend, sind dagegen - diesseits der Phantasien der Besiedelung des Weltraums durch transhumane Intelligenzen - die ultimative Frage an die Anpassungsfähigkeit eines auf offene Weiten und gedeckte Mulden eingerichteten Organismus. Die Antwort ist offen.

Gewiß aber ist, daß heute wie nie zuvor eine Fülle von wahrhaft schönen und klugen Büchern über die Geschichte(n) der Stadt geschrieben werden; daß Stadtkultur und Urbanität gegenwärtig die Begriffe mit der höchsten Zuwachsrate sind; daß in den großen Städten der Industrienationen nicht immer, doch sehr oft mit kreativer Intelligenz und kultiviertem, oft auch kommunitärem Formsinn gebaut wird. Die Städte sind kulturell und architektural wieder interessant. Wir bereisen sie um ihretwillen und nicht nur aus ökonomischen und professionellen Gründen. Der Entfremdungsdruck weckt nicht nur die Sehnsucht nach bebauungsarmer, schwach kultivierter Landschaft oder den letzten, angeblich unberührten Naturzonen der Erde, sondern auch nach high density von Kultur und Kommunitarität, von Entertainment und ebenso ephemerer wie erlebnisreicher Ästhetik in den großen Städten. Unser ästhetischer Sinn ist längst auf das Widersprüchliche und Heterogene, auf Segregationsprozesse ebenso wie auf multikulturelle Durchmischungen in den Städten geeicht. Und gegen die Gewalt, das Verbrechen und die tägliche Ungerechtigkeit haben wir uns durch den airbag der political correctness gerüstet.

"Wir"? Wohl kaum ist zu bezweifeln, daß die Hausse der Stadtkultur im architekturalen wie ästhetischen Sinn ein Phänomen der noch in ihrer öffentlichen Armut reichen Metropolen ist. Und sicher ist, daß "wir" dabei Angehörige von Thorsteins Veblens "leisure class" sind, so arbeitsstrikt, kritisch und reflexiv modernisiert wir uns geben mögen.

Aus dem Fenster meiner (Ost-)Berliner Wohnung sehe ich auf die Häuserzeile gegenüber aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts mit ihren verfallenen Stuckfassaden, übersät von den Einschüssen aus dem Häuserkampf 1945. Ringsum wird gebaut, restauriert, geplant, von und für die Regierung, von und für das Kapital, und mitten darin, tatsächlich, im Sanierungsgebiet sogar für Menschen. Postmodernes Raffinement, Schinkelsche Klassizität, wilheminische Herrschaftsrepräsentation, Alexanderplatz-Wüste und Scheunenviertel, Botschaften und Straßenstrich, Spuren jüdischer Kultur und Künstlerinitiativen, Museumsinsel und Ruinenästhetik, Luxushotel und Outdrop-Kneipe, Staats- und offoff-Theater, Straßenhändler und Humboldt-Universität - was hier auf einem Quadratkilometer zusammenstößt und sich gesellt, Brüche erzeugt und Perspektiven weckt, und ich selbst mitten inne -: das ist Urbanität und Stadtkultur, wie sie in jedem Soziologendiskurs und auf jedem Architektentag beschworen wird. Indessen ist es auch, so gedacht und geschrieben, Ausdruck einer privilegierten Perspektive, es ist Luxus und Blindheit nicht nur den Problemen des Viertels gegenüber, sondern der städtischen Entwicklungen überhaupt. Es ist aber auch, so könnte sein, etwas epochal Überholtes, ein kulturelles Stereotyp.

Denn gewiß folgt man damit einem eingeübten Blick, der an den klassischen Metropolen - London, Paris, Berlin, dann New York und Chicago - gebildet wurde und von Baudelaire über Benjamin bis zu postmetaphysischen Stadtphilosophien eines Francois Lyotard, Paul Virilio oder Jean Baudrillard sich differenziert hat. Im Stadtkörper, in welchem sich die geschichtliche Heterogenität noch lesen läßt, wo Historizität und Zukunft spannungsreiche Interferenzen erzeugen, wo Distanzierungen noch möglich, wo nervöse Vibrationen lebbar sind, kulturelle Innovationen auf dem bebenden Sockel sozialer Widersprüche und ethnischer Vielheit temporeich sich ablösen, wo im Netz der massenkomunikativen Systeme und des permanenten Flusses des Verkehrs synkopische Gangarten des Denkens noch möglich sind, Nester des Privaten aufrechterhalten werden, kleine Fluchten bereitstehen, wo die allgemeine Indifferenz und Anomie durch intellektuelle Zwischentöne, ephemere Einfälle und dosierte ästhetische Chocs, dem Scheine nach, kontrapunktiert werden kann, wo also, mit einem Wort, der Geist noch in der Attitüde des Stichwortgebers fristet, ohne schon in der Menge der längst mehrheitlichen Zaungäste der Megalopolen verloren zu sein - da kommen Stadtplaner und Philosophen, Architekten und Zeitgeistdiagnostiker überein, daß die Städte vielleicht der Brennspiegel der "Risikogesellschaft" (U. Beck), doch aber immer noch und wieder neu das Labor zukünftiger Kultur(en) seien.

Wenn aber richtig ist, daß das Denken und die Stadt seit der griechischen Polis ineinsfallen; wenn die Stadt mithin die konzentrierte Darstellung der zivilisatorischen Entwicklung ist, dann wären für jede Stadt-Reflexion nicht länger die klassischen Metropolen, sondern die Megastädte der dritten Welt die gebotene Herausforderung. Man begreift dann die Bücher von Lewis Mumford, Richard Sennett, Leonardo Benevolo, aber auch schon Georg Simmels Essay und vielleicht sogar die Untersuchungen der Chicago School als melancholische Abgesänge eines sterbenden Modells Stadt.

Auf versteckte Weise zollt Lyotard (in: Moralités Postmodernes, 1993) dieser Entwicklung Tribut, wenn er die cartesianische Architektur des Denkens durch eine "Philosophie dans la Zone" abgelöst sieht. Flüchtig beobachtet Lyotard, daß die heutigen Mega-Städte keine Topographie mehr enthalten, die einem konzeptuellen und distinktiven Denken entspräche, daß sie kein Innen und kein Außen mehr kennen, daß sie ein grenzenloses Wuchern darstellen, das er mit dem Ausdruck der ubiquitären Zone oder der "Megapole" belegt (man möchte Franz Werfels Panopolis assoziieren). Lyotard vollzieht den Abschied von einer Stadt, die gedacht und gemacht wird. Die Heterotopie, die Michel Foucault als eine heute charakteristische, doch geschichtslose Form ungeplanter, riffartiger Verräumlichung ansah, bildet das gesichtslose Gesicht der Megapolen. Robert Musil war sich noch sicher, Städte an ihrer Gangart, ihrem Rhythmus, ihrem Flair erkennen zu können. Das Ende des Physiognomischen der Städte dagegen fällt mit dem Ende des konturengebenden und spurenlesenden Denkens zusammen. Die Städte, die ihren Sinn von ihrer Gegenpoligkeit zum Land bezogen, versinken in Panopolis, in der hochbefestigte räumliche Segregationen Reste von Steuerung und Planung gegen die heterotopische Wucherung vergeblich verteidigen. Das enspricht der abendländischen Angst vor dem Chaos, trifft aber auch reale Entwicklungen der Megapolen.

Lyotard hat die Stadt aufgegeben. Er schickt ihr keine Elegie nach. Er verabschiedet hingegen die überall herrschende Ästhetisierung, durch welche sich die Städte (und ihre hilflosen Helfer) den Schein des Urbanen zu geben versuchen. Bliebe der Philosophie also angesichts der steuerungslosen Elendsfelder der Megapolen nur das Stummwerden? Nach dem Humanismus, dem die Städte eine Heimstatt zu geben suchten, nun der Nihilismus der Riesenstädte? Die Wüste? In stupender Wende identifiziert Lyotard die Leere mit einem Absoluten, dessen weltfremde Unberührbarkeit in der Hut der Philosophie läge. Wir stehen dicht vor einer Re-Metaphysierung der Absenz, für die die Philosophie immer schon Denkfiguren bereitgestellt hatte: der negativen Theologie, der negativen Dialektik, der negativen Ästhetik.

Kaum etwas hat dies mehr mit der Wirklichkeit der Megapolen zu tun. Sie sind nur Anlaß eines rekursiven Selbstdenkens des Denkens. Darin zeichnet sich ab, daß die Philosophie tatsächlich die tragende Verschwisterung mit der Geschichte der Städte verloren hat. Vielleicht, daß sich darin das Ende der Problemlösungsfähigkeit vorzeichnet, welche die Zivilsationen entwickelt haben, um die wüste Terra zum Heimatplaneten Erde umzubauen. Vielleicht ist es nur eine Episode oder die Agonie des weißen Denkens. Vielleicht ist es Zynismus, die Riesenstädte einem unbestimmten Schicksal zu überlassen. - Die Chaostheoretiker nehmen zu dieser Entwicklung wieder jenen Standort ein, der einst für die Aufsicht des souveränen Planers charakteristisch war: von hoch oben. Aus der Satelliten-Höhe der Aufsicht und aus der Tiefe des Rechners erscheinen die Bilder von Städten, in denen, gleichgültig gegenüber dem zivilisatorischen Impuls der in ihnen lebenden Menschen, städtisches Wachstum und naturales Formwuchern koinzidieren. Im Verhältnis zur Stadt begegnen sich derart, von entgegengesetzten Enden her, auf seltsame Weise erneut Naturgeschichte und Metaphysik. In der Mitte die Planer mit ihren 'kleinen Moralen' und immer mehr vergessene Menschen.

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Es sind zwei Prozesse, welche die materiale Stadt, in deren Straßen wir fahren, in deren Einrichtungen wir arbeiten, in deren Häusern wir lieben und essen, eigenartig porös, nachgiebig oder peripher werden, vielleicht gar sich auflösen lassen. Da ist zum einen der Neue Kategorische Imperativ, dessen Form die Datenverarbeitung für sämtliche Vorgänge des städtischen Lebens annimmt, so daß, würden wir einen Snowcrash, eine Infokalypse erleben, mit einem Schlag die urbanen Funktionen kollabierten. Und da ist zum anderen der Aufbau des Cyberspace, dessen raumlose Räumlichkeit immer mehr Human-Energie absorbiert, so daß ein wachsender Teil der Zeitressourcen dazu verbraucht wird, sich in einer Welt, die nicht von dieser (materialen) Welt ist, zu 'bewegen'. Immer mehr Zeit verbingen wir in Formen der Telepräsenz, nicht aber in den Modi eines Raum-Zeit-Kontinuums, das an das urbane Environment gebunden ist. Beide Prozesse allerdings sind charakteristisch für die postmodernen Städte der Ersten Welt, nicht für die Riesenmoloche der dritten Welt, die manche bereits Nekropolen nennen.

Im 19. Jahrhundert begann die systematische Vernetzung der Städte nach dem mechanischem Modell. Ausgehend von den Bahnhöfen spannten sich kontinentalweit die Netze der Eisenbahnlinien, in welche die Städte wie Knotenpunkte und Relais eingeschaltet waren. Die Stadtbahnhöfe waren die Umschaltungen der überregionalen Personen- und Güterströme in die innerstädtischen Verkehrssysteme. Die Netzstruktur der Schienen bildete ein artifizielles und autonomes System, das Vorbild auch für die Systementwicklung des innerstädtischen und überregionalen Straßensystems wurde, das seinen veritablen Ausdruck in den Autobahnen und Highways fand, die als gewaltige Flußläufe des Verkehrs schließlich auch die Stadtkörper durchfurchten. Wie selbstverständlich folgten die ebenfalls netzförmigen, meist unsichtbaren Energiesysteme von Elektrizität und Gas. Mit der Entwicklung von Telegraph und Telefon griffen, von den Städten ausgehend, gewaltige Spinnen der Nachrichtenübermittlung übers Land und, nun schon transkontinental, auch übers Meer, während die Städte selbst bis in den letzten Winkel von Kommunikationsmaschinen besiedelt wurden. Mit Radio und Television entstanden die ersten, im Modus des Instantiellen arbeitenden Massenmedien im globalen Maßstab. Städte waren darin einerseits nur noch Häufungszonen von Empfängern, andererseits Zentren von Sendern. Letztere freilich konnten sich zunehmend von der besonderen Lokalität der Städte lösen: die Produkte der Massenmedien werden an jedem Ort hergestellt und von jedem Punkt aus gesendet. Ihre Bindung an die großen Städte ist nicht systematisch, sondern kontingent. Die Digitalisierung löste die Massenkommunikation endgültig von ihrer Angewiesenheit auf Städte: gesendet wird von Satelliten, produziert an jedem Ort der Welt. Die Planung einer 'Welthauptstadt' des Cyberspace im 21. Jahrhundert in der Nähe von Kuala Lumpur, Malaysia, mit Namen Cyber Jaya ist auch ein Indiz für die Vergleichgültigung des Raumes in der telematischen Gesellschaft. Das Neue Jerusalem des Cyberspace kann überall und nirgends sein. Die materialen Städte waren und sind dynamische Gebilde der Kultur im Raum der Natur. Die künftigen Kapitalen von Cyberspace, sofern dieser noch auf die hardware von Raumstationen auf der Erde angewiesen ist, sind weitgehend vom Metabolismus der Natur abgekoppelt und absolut artifizielle Environments einer Technologie, die sich die Humanwesen wie eine organische Schwundstufe einverleibt hat.

Cyber Jaya konnte auch in der Nähe von Bahia/ Brasilien oder bei Kornwestheim gebaut werden. Das spielt keine Rolle. Wichtig ist hier nur, daß die Idee der Vernetzung seit eh und je mit der Idee der Stadt verbunden war, sich heute aber von dieser zu lösen beginnt. Städte ohne Vernetzung, von der material-mechanischen bis zur elektromechanischen, sind nicht denkbar. Die Ballung großer Menschenmengen erforderte bereits in der Antike eine hohe Organisiation im Wege- und Straßenbau, in Schiffahrt und Transportwesen, im Güter- und Personenverkehr, in der Geld- und der Schriftzirkulation, die wiederum netzförmige militärische Sicherungen des Herrschaftsraums der Stadt voraussetzten. Heutzutage hängen am Büro, in dem man arbeitet, und an der Wohnung, in der man lebt, dutzende von Netzstrukturen und 'Kanalisierungen' aller Art, von stationären Satelliten in 36 000 KM Höhe bis zu Tiefseekabeln des Datenverkehrs, vom Wasserkreislauf bis zum Atom/Strom/Gas-Verbundsystem. Längst setzen wir dies stillschweigend voraus, wenn wir den einfachsten Alltagsroutinen wie Kochen, Sich-Informieren, Waschen, Schreiben etc. nachgehen. Für die Städte des 20. Jahrhunderts ist es charakteristsich, daß sie innerstädtisch wie überregional und, seit einigen Jahrzehnten, auch global auf allen überhaupt entwickelten technischen Niveaus in komplexe Systemnetze eingebaut sind.

'Netze' hieß dabei immer schon, daß es nicht nur auf die Installierung von unterschiedlichsten 'Kanälen' - vom Abwassernetz bis zum Verkehrsverbund - ankam, sondern vor allem auf deren Steuerung, also ihr Kalkül. In der heutigen Computersprache ausgedrückt, bestehen schon die Stromversorgung oder die unterirdischen Kanalisationen aus hardware und software. 'Software' will hier sagen: jedes urbane Netz ist die Materialisation von Berechnungen, die der baulichen Realisierung zugrundeliegen. Ein Netz wird zu einem solchen erst durch das Steuerungskalkül der Ströme, die durch es fließen. So wichtig wie Bahnhöfe und Schienen ist der Fahrplan; so wichtig wie E-Werke und Leitungen sind die Berechnungen des Tag/Nacht-Stromverbauchs, seiner statistischen Verteilungen und möglichen Trends; so wichtig wie Autos und Straßen ist die Entwicklung eines verkehrsregulierenden Zeichensystems. Vielleicht ist die europäische Post schon der Kutschenzeit der Archetyp eines 'berechneten' Netzes, das dann für alle anderen Systeme zum Vorbild wird. Bestand die technische Modernisierung (der Städte) in einer alles erfassenden Mobilisierung und Dynamisierung, so setzten diese immer raffiniertere, auch mathematisch anspruchsvolle Formen der Systemsteuerung voraus, ohne die Mobilisierung in Stillstand, Dynamisierung in Stau umschlägt. Stau und Stillstand widersprachen auch der von Marx analysierten Mobilisierung des Kapitals, das als fixes und mithin totes eine contradictio in adiecto darstellt. Das hatte zur Folge, daß Marx das Geheimnis des Kapitalismus nicht in seiner hardware, in den Kathedralen der Industrie aufsuchte, sondern in den Strukturen seines Umlaufes und seiner Steuerung. Im Militär wurde am schnellsten begriffen, daß die Nachrichtentechniken und Standardisierung, die 'Software' des Krieges, entscheidend sind: also die Netzsteuerungen, für die man spezielle Experten entwickelte, in den Planungsstäben und der Logistik.

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Vor dem Hintergrund dieser skizzierten Vorgeschichte der Vernetzung sowie der Abhängigkeit der Moderne von Steuerungstechniken bemerken wir die Nostalgie, welche in unseren Bildern von Urbanität herrscht. Es sind Bilder der italienischen Städte unter Abzug der Abscheulichkeiten, welche sich ringförmig um sie lagern, und Bilder der Metropolen des 19. Jahrhunderts wie Paris und London, vielleicht noch Berlin der 20er Jahre, die wir mit der Vitalität des Urbanen versehen: offene Formen der Sozialität, spannungsreich, widersprüchlich, vielfältig, lebendig, wimmelnd, dynamisch, worin die Masse den vibrierenden Sockel für die beschleunigte Zirkulation kultureller Symbole und pluraler Lebensstile hergibt, - für dasjenige also, was an der Stadtluft frei machen soll. Warenhäuser, Filmpaläste, Boulevards, Passagen, belebte Plätze, Squares, Piazzas, die ambulanten Quartiere des Entertainments mit ihrer sozialen Durchmischung, die gewaltigen Hotels und dunklen Absteigen, die großen Treffpunkte sei's anläßlich von Opernfestivals oder Zeppelinschauen, Sportereignissen oder Arbeiter-Demonstrationen, das dichte Gewimmel von Passanten in Vierteln mit Restaurants, Kneipen, Läden, Cafés, Kiosken, das Strömen der Massen rings um Bahnhöfe, die Nervosität sämtlicher, sei's physischer sei's technischer Bewegungsarten, und über oder unter allem der Schatten der Kriminialität und der Halbwelt -: all dies prägt unsere Imagination von Urbanität, aber auch die von heutigen Stadtplanern und Architekten, welche zumeist vergeblich diesen Momorialformen des Urbanen zu neuem Ausdruck zu verhelfen sich mühen.

Blickt man auf diese Stadt-Geschichte und ihre Symbolformen zurück, so bemerkt man, daß die urbanen Phantasien keineswegs mit der Idee eines Himmlischen Jerusalem und seinen Derivaten in den verschiedenen Polis-Utopien von Platon bis zu Morus, Campanella, Andreae u.a. verbunden sind. Diese waren durchweg Ausgeburten des geometrischen Geistes, der kristallinen Ordnung, der totalen Organisation, der reibungslosen Stratifikation der sozialen Abläufe, der Geplantheit aller Biographien und Wissensprozesse, der absoluten Transparenz, des unausweichlichen Vorrangs des Ganzen vor seinen Teilen und des Zentrums vor der Peripherie, der Herrschaft eines schattenlosen Lichtes, einer himmlischen, d.h. von keinem Bösen kontaminierten Gemeinschaft, einer restlosen Transformation aller Einrichtungen in einem System von Zeichen, in denen Signikant und Signifikat deswegen zusammenfielen, weil eine unumschränkte Instanz, sei's Gott oder eine gute Herrschaft, die essentielle Konvenienz von Materie und Geist garantierte. Die Utopien des Urbanen dagegen, die an den italienischen Städten und den Metropolen des 19. Jahrhunderts ihr Vorbild nahmen, sind deutlich gegen das Himmlische Jerusalem gerichtet. Sie sind deswegen Produkte der Säkularisierung, des philosophischen Geistes der Diesseitigkeit. Sie entdecken die "Blumen des Bösen" (Baudelaire) gerade als Bedingung des städtischen Lebenswertes, sie favorisieren das Synkopische und Ungeordnete, das Zwielicht und Überraschende, das Spontane und Fluktuierende. Die materiale Ästhetik der Städte wurde der Stillstellung der Geschichte in den kristallinen Formen der alten Stadt-Utopien entgegengesetzt. Hier aber hat, wie es scheint, ein neuer Umschwung eingesetzt.

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Doch nicht erst seit der Computerisierung und seit Cyberspace. Die Hinweise auf die Totalität der Vernetzung bereits in der Vergangenheit der Städte zeigt nämlich negativ an, daß die urbanen Utopien der Moderne vom Ästhetischen und Phänomenalen ausgegangen sind, also von Künstlern, Architekten, Literaten und Intellektuellen inauguriert wurden. Das Anästhetische der Kalküle, welche seit langem schon die Netzstrukturen der Städte beherrscht, spielte dagegen kaum eine Rolle. Darin aber liegt die Vorgeschichte für die "Medialisierung der Städte" (Edouard Bannwart) sowie der Cyber-Cities, die heute zu entstehen beginnen. Und hier auch liegen die Ursachen für die neuen Utopien der Stadt, welche nicht mehr aus den (philosophischen und ästhetischen) Formen der Moderne, sondern aus der Religionsgeschichte der Himmlischen Städte zu verstehen sind. Cyberspace ist die Verabschiedung der Stadtformationen, welche die Moderne gekennzeichnet haben, im Zeichen eines Neuen Jerusalem, im Zeichen einer religiösen Wiederverzauberung, mittels derer auf dem Weg einer eschatologischen Technik die Sphäre der Materie, worin die realen Megalopolen als todgeweihtes Babylon erscheinen, verlassen werden kann und soll.

Und hier nun stellt der erste der genannten Prozesse, welche die Stadt aushöhlen, die Initialstufe für den take off der virtuellen Städte dar. Es ist heute ein Faktum, daß die (politische und administrative) Verwaltung der Städte, die Arbeit der Ordnungskräfte (Polizei, Justiz, Sicherheitseinrichtungen), sämtliche Verkehrssysteme, die Herstellung von Öffentlichkeit (durch Presse, TV, Radio), die Abläufe des Warenumschlags, die Transaktionen der Börsen und die Zirkulations des Geldes, die kleinen und großen Dienstleistungsbetriebe, die Formen der Informationsbeschaffung und -distribution, der Wissenserzeugung und-recherche, daß aber auch die Formen des Entertainments in Werbung, Film, Musik ebenso wie die Partizipationen der Haushalte und Menschen an den wesentlichen sozialen Institutionen, - d.h. daß sämtliche klassischen Funktionen des städtischen Lebens irreversibel abhängig geworden sind von den Datenbanken und Steuerungsprogrammen der lokalen und internationalen Digitalnetze.

Wenn man früher vom Dualismus von Zivilisation und Wildnis ausging, so kann man jetzt sagen, daß die zivilisatorischen Prozesse solche erst sind, insofern sie digital erfaßt, gesteuert und verwaltet werden, und daß alles, was keinen Code hat, also keinen Anschluß an die Welt der Rechner, zur eigentlichen Wildnis geworden ist: bedeutungslos, irrelevant, 'draußen', barbarisch. Nicht nur Ich bin, insofern es Datensätze von mir gibt (das ist die neue cartesianische Formel); sondern sogar jedes Ding ist nur, insofern es eine Repräsentation in einer Datenbank findet.

Freilich bedeutet dies keineswegs, daß alles und jedes 'zentral' erfaßt wäre (der Alptraum der Kulturkritiker), sondern vielmehr sind die Körper der Städte durchdrungen von einer unfaßlichen Vielzahl verschiedenster Datensysteme, die nebeneinander, übereinander, azentrisch, rhizomatisch, lokal, global, statistisch oder direktiv, deskriptiv oder präskriptiv, analytisch oder synthetisch etc. arbeiten. In jeder Millionenstadt stehen unterdessen hundertausende, wenn nicht Millionen von Terminals, von welchen aus kleine und größere Segmente des städtischen Lebens, das längst mit der Organisation und Steuerung von Datenströmen gleichgesetzt ist, gerechnet werden.

'Draußen' geschieht noch weiterhin all das Vertraute, das uns die Evidenz vermittelt, in Tokyo, Los Angeles, Berlin oder Stockholm zu sein. Bürgermeister besuchen Altenheime, Besucher stehen vor Originalen in den Museen, Kleingärtner ziehen Mohrrüben, Kinder spielen auf Plätzen, Hunde pinkeln an Straßenbäume, Restaurants bieten Speisen an, junge Leute tanzen, Parks laden zum Verweilen, es regnet, die Temperatur sinkt und steigt, LKWs fahren Güter hin und her, Passanten strömen zur U-Bahn, tausende von Paaren treiben Sex, Wein wird getrunken, Bauarbeiter errichten Gebäude, Müll wird entsorgt, Blätter gilben und fallen im Sturm von den Bäumen, - kurz, der gesamte kulturelle und naturale Metabolismus, der Stoffwechsel der Städte läuft weiter und bietet ein Bild, in welchem unsere Sinne wie in etwas Immerwährendem sich niederlassen können. Dies ist so - und doch hat sich auf eine kaum sichtbare Weise ein tiefgreifender Wandel vollzogen.

Niemals zuvor waren die Städte in einem solchen Ausmaß unterlegt und überwölbt, durchdrungen und vernetzt von einem System, das nur noch locker mit dem materialen Körper der Stadt verbunden ist und dennoch jeden relevanten Vorgang in ihr aufnimmt, digital repräsentiert, verarbeitet, bewertet, steuert, verwaltet. Und dies an tausenden von Stellen, die ihrerseits kaum miteinander koordiniert sind, die semiautonom arbeiten, bestimmte Sektoren überpräzis erfassen und alles andere absolut ausblenden, aber immer und nur eins tun: rechnen und auf dem Interface lesbare symbolische Repräsentationen schaffen, die ihrerseits weder das Innere des Rechners noch das Äußere der Stadtwirklichkeit abbilden.

Immer wurden Städte erobert. Nicht nur von fremden Herrschern und ihren Heeren; gewiß auch von Epidemien (bis heute); sondern auch von der Landbevölkerung, die massenhaft in sie flüchtete und so ihr hybride Größe erzeugte; von den Eisenbahnen, die die Städte herrisch durchschnitten und ihre Topographie neu regulierten; von den Autos, welche jede andere Population (auch die Menschen) verdrängten und jeden Raum an sich rissen; von den Maschinen, die dutzendweise in die Haushalte einzogen und millionenfach die Lokalitäten der Produktion, Distribution und Konsumtion besetzten; von den hunderttausende von Kilometern langen Leitungen des Wassers, des Gases, der Elektrizität, der Telefone, der verkabelten Radio- und TV-Geräte, schließlich der vernetzten Computer. Die letzte, finale Eroberung der Städte fand durch die Computer statt. Je besser sie wurden, je leistungsstärker die Speicher, je raffinierter die Programme, je organisierter die Datenbanken, je vernetzter das System, umso gefräßiger schluckten die Rechner sämtliche stadtrelevanten Prozesse in sich hinein, sofern sie zu 'Daten' zuzurichten waren, und rissen alle Funktionen und Steuerungsprozesse des adminstrativen, sozialen, ökonomischen und konsumtiven Lebens der Städte an sich. Man kann atomfreie Städte fordern, aber keine computerfreien. Vom Rechner her gesehen, sind die Städte zu medialen Projektionen, zu materialen Entäußerungen der unsichtbaren Welt der Daten geworden.

In den letzten Jahrzehnten ist unzweifelhaft eine dritte Welt neben der ersten (der Natur) und der zweiten (der Zivilisation, der Städte) entstanden, wodurch diese zu bloßen Substraten der dritten Seinsschicht, nämlich der digitalen Zeichenprozesse, geworden sind. Man könnte dies einen grandiosen Sieg des Platonismus über die Materie nennen, wenn nicht der Geist selbst, jedenfalls als das Vermögen menschlicher Einzelwesen, im Verhältnis zu dieser Schicht der Idealität zum 'Außen', bestenfalls zum Zaungast am Interface geworden wäre. Wir erleben schon jetzt, daß die architekturale Physiognomie der Städte von diesem Prozess der Verlagerung des Stadt-Geistes in die Rechner verändert wird. Was uns als symbolisch relevante Augenpunkte der Städte erinnerlich ist - Schlösser, Industriegiganten, Bankenpaläste, Bankentürme, Parlamente, Bibliotheken... -, geht über in das, was Martin Pawley treffend "Stealth-Architektur" genannt hat.

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In Analogie zum Stealth-Bomber, der für Radar 'unsichtbar' bleibt, versteht Pawley darunter die zunehmende Anzahl von 'repräsentativer' Architektur, deren Äußeres mit dem, was in ihr geschieht, in keinerlei Vermittlungszusammenhang steht. Ein prominentes Beispiel dafür ist der Berliner Reichstag, dessen Außenhaut stehenbleibt, um irgendeine Symbol-Politik zu visualisieren (in diesem Sinne ist der Reichstag ein Screen), während im Inneren das Gebäude vollständig neu konstruiert wird - natürlich als medien- und computertechnisch hochgerüstete Kommunikationsmaschine, die nichts und gar nichts mit der Gründerzeit-Hülle zu tun hat. Ähnlich aber deutet Pawley auch die gewaltigen Bankentürme, deren Höhe und architektonische Superklasse keinerlei Ausdrucksfunktion mehr gegenüber der Tatsache haben, daß Banken zu Datenbanken und zu Relais im Netz geworden sind. In welcher Weise sich das Verhältnis von Architektur und digitaler Zeichenwelt verschoben hat, drückt sich z.B. auch darin aus, daß die Investitionssumme für die Datenverarbeitung im Neubau des Tokyoer Rathauses genauso hoch ist wie die gesamten Baukosten. Volker Grassmuck spricht auf der Basis solcher Beobachtungen von der "Stadt als Terminal" und vom "Terminal als Stadt". Für die in Stein, Stahl und Glas gefaßte Symbolstruktur der Städte hat dies ebenso große Folgen wie für die archtekturale Physiognomie einer Universität, wenn z.B. die Columbia-University in New York auf einen Bibliotheks-Neubau verzichtet, um mit dieser Summe eine virtuelle Bibliothek von 10 Millionen Bänden aufzubauen. Solche Beispiele sind Indikatoren dafür, daß die materialen Städte von der 'dritten' Welt der Datenströme nicht nur durchdrungen und medialisiert, sondern auch in ihrer architekturalen Physiognomie verändert werden - wenn man nicht, wie gegenwärtig vielerorts in Berlin, auf Stealth-Architektur setzt und damit dem neuen Verhältnis von Sein (Daten) und Stein (Stadtkörper) nostalgisch begegnet.

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Der zweite Prozeß, der die Städte nicht unwirtlich, sondern unwirklich macht, ist der Cyberspace selbst. Vermutlich ist es der sinnenhaften Körperlichkeit des Menschen geschuldet, daß Cyberspace, der strukturell nur im Modus nicht-linearer Zeit und nicht dem des Raumes arbeitet, zunehmend topo- und kartographisch eingerichtet wird, so daß man darin flanieren und navigieren, surfen und suchen, rasen und verweilen kann wie in einem Raum. Die Räumlichkeit von Cyberspace ist dabei, so zeigen bereits einige Entwicklungen und so prophezeien es erst recht seine delirierenden Priester, ebenso immateriell wie sinnlich: es werden zunehmend virtuelle Habitate 'gebaut', die dem Modell Stadt entliehen werden. Aus Algorithmen eine Stadt! Via Internet-Zugang sollen oder können - bald auch: müssen? - sich Menschen, die ihren Körper als physische Restmasse vor dem Keyboard zurücklassen, eine artifizielle Existenz geben (heute Avatar genannt), die in virtuellen Städten und Kommunen alles tun, wofür man in den irdischen Städten seinen Leib in Bewegung setzen mußte: man besucht Ämter, um administrative Formalitäten zu erledigen, man geht in die Börse und tätigt Geschäfte, man besucht Cafés, um sich mit Leuten (anderen Avatare) zu treffen und zu plaudern, man besucht virtuelle Theater, Museen, Städte, unternimmt Reisen zu kulturell wertvollen Relikten der Vergangenheit (und schont so die Umwelt, wie uns die Propagandisten einreden), man beschläft ein weibliches Avatar im virtuellen Tokyo und erprobt als virtuelle Jungfrau die ersten Schritte auf dem Feld des Sex mit einem Verehrer aus Melbourne (3 Minuten später), man besucht eine virtuelle Universität mit Bibliothek, Hörsälen, Sprechzimmern von Professoren aus aller Welt, man erledigt beim Finanzamt seine Steuererklärung usw.

Was geschieht? Noch steht man am Anfang und die Bildqualität der virtuellen Städte lassen zu wünschen übrig. Interessant aber ist, daß zu älteren Prognosen (von etwa 1980), wonach man wesentliche Funktionen vom Computer aus erledigen werde, etwas hinzugekommen ist: nämlich das theatrale und performative Moment. Cyberspace ohne die Dimension der Darstellung scheint zu abstrakt, zu langweilig, zu calvinistisch, als daß man nicht über das Faktum hinaus, daß es dort eine für uns wichtige dritte Welt, die der digitalen Zeichen gibt, nach einer räumlichen Inszenierung ihrer Prozeßhaftigkeit gesucht hätte. Die Lösung wird gegenwärtig in Richtung auf eine Re-Spatialisierung der 'an sich' raumlosen Datenprozesse angestrebt. Die Welt des Internet ist dabei, zu einem theatrum mundi zu mutieren (wenigstens in Teilen), genauer: zu einem fiktiven Stadt-Universum. Tatsächlich ist es das Urbane, das in virtuellen Architekturen kreiert wird, so daß man sich mit seinem Daten-Ich in pseudovertrauten Stadtlandschaften bewegen kann, um dort seinen beruflichen wie amüsanten Tätigkeiten nachzu'gehen'. Dieses Daten-Ich, das an keine biologische, keine kulturelle Identität gebunden ist, verfügt gegenüber dem Menschenfleisch vor dem Interface über den Vorsprung spielerischer Wandelbarkeit. Das Daten-Ich ist ein ständig mutierender Mutant. Und als solcher kann er nicht nur in Schemata agieren, die dem irdischen Bewohner der Städte verwehrt sind, sondern sich auch ubiquitär telepräsent machen, d.h. in fortgesetzten und manipulierbaren Ekstasen leben (Ekstase i.S.v.: über sich hinaus sein, hinausragen). Natürlich wird es in Cyber-Cities Regeln geben, also auch Ausschlüsse, Verbrechen, also auch Polizei, Indiskretionen, also auch Tabus, anarchische Vorgänge, also auch Administration und Legislative, Wettstreit, also auch Betrug; Feindschaften, also auch Krieg: alles dies werden wir wiederfinden (und einiges mehr), aber in virtueller Form.

Irgendwie wird alles so ähnlich sein wie in den realen Städten und Gesellschaften, aber doch entlasteter, schöner, freier, spielerischer, kommunitärer, sauberer, effektiver, demokratischer, dialogischer, partizipatorischer etc. etc. - wie es uns gegenwärtig die Trunkenen des Cyberspace, seien es MIT-Deans wie William J. Mitchell oder Daten-Junkies, Hohepriester wie Hans Moravec, Marvin Minsky oder Timothy Leary oder anonyme Cyber-Gnostiker, seien es das VR-Evangelium herunterbetende Professoren wie Peter Weibel oder Norbert Bolz oder Cyber-Artisten wie Stellarc. Kaum einmal wird das kritische Niveau von den Cyberpunk-Romanen eines William Gibson, Bruce Sterling oder Neal Stephenson erreicht. Umso mehr aber wird die virtuelle Stadt zum Schauplatz einer Tempelgründung, zur religiösen Kreation eines Neuen Jerusalem, das nicht als das Reich Gottes 'kommt', sondern per Datenautobahn erreicht werden kann. Cyberspace wird eschatologisch aufgeladen, mit dem Unterschied, daß das Reservat Gottes in die Machbarkeit der VR-Virtuosen zu rücken scheint.

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Gegenwärtig finden ungesteuerte, doch mächtige Re-Mythologisierungen der Technik statt, eine Verwandlung der technischen Rationalität in eschatologisches Heilsbotschaften. Darin gibt es keine einheitliche Form und keine bevorzugte Stelle. Das Religiöse und Mythologische, das im Schutz des HyperKult blüht, ist synkretistisch, ein patchwork ohne theologische Strenge und ohne institutionelle Verfaßtheit. Das Flottierende und Hybride, Ephemere und Metamorphotische, das zu den Avatar-Existenzen ebenso gehört wie zu den Cyber-Cities, könnte positiv als eine Form der Globalisierung und Multikulturalität des Netzes verstanden werden, wenn nicht das Religiöse und Mythologische dabei nicht bloß willkürlich und zitatenhaft, in einer Mischung aus sektiererischem Fanatismus und dem Werbedesign von Artdirektoren synthetisiert würde. Wenn man Cyber-Cities mit dem Neuen Jerusalem in Beziehung setzt, oder Avatare mit der Idee ewiger Wiedergeburt, oder die Ubiquität und Instantialität im Cyberspace mit Seins-Qualitäten Gottes in der mittelalterlichen Theologie, oder die Kreierung intermedialer Seinsformen mit dem Dogma der unbefleckten Empfängnis, oder die grenzenlose Kommunikation im Internet mit den Überlieferungen der Sprache der Engel und Geister etc. etc. - so soll man dabei nicht übersehen, daß man keine dieser 'Parallelen' wirklich ernstnehmen kann, weil sie bloße Spielformen religiöser Energien sind. Und doch kann man alle zusammen gar nicht ernst genug nehmen. Denn die religiöse Bebilderung des abstrakten Cyberspace zeigt insgesamt an, daß die technischen, insbesondere die virtuellen Welten alte Religionsformen teils absorbieren, teils wiederholen und fortsetzen, teils verändern und transfigurieren. HyperKult und Cyberspace sind zu einem mächtigen Verstärker, zu einem gewaltigen Mischpult der Religiosität verschiedenster Kulturen geworden. Es gibt keine authentische Religion mehr - aber es gibt, durch und im Cyberspace, eine endlose Kette von Remakes und Remix. Konnte man schon den Film, insbesondere Hollywood, als eine exhaustive Bebilderung der mythischen und religiösen kollektiven Phantasien ansehen, so scheint es heute, daß Cyberspace den Film darin übertreffen wird. Es wiederholt sich dabei eine wenig beachtete Regel: jede bedeutende, gar epochale Erfindung wird zum Tummelplatz kultureller Symbole, zu deren Eigenart es gehört, daß sie umso überlebensfähiger sind, als sie, die alt und uralt sind, sich des Allerneuesten als ihres Mediums bedienen.

Die Naturwissenschaft, die seit Francis Bacon sich als Gegenpart oder als Überwindung der Religion verstand, hat ein religiöses Fundament, ja, sie ist fundamentalistisch, indem sie - anders als die klassischen Religionen - eine strikte Trennung der göttlichen und irdischen Sphäre nicht kennt, sondern in diesem Saeculum, auf Erden, die Träume, aus welchen die Religionen sich speisten, zu verwirklichen unternimmt. Darum ist es angesichts von Cyberspace und Neuen Medien, Gen-Technologie und Bio-Engineering an der Zeit, die religiösen Dynamiken der technischen Revolutionen, die religiösen Rhetoriken der neuen Propheten und, mittels einer Art Cyber-Ethnologie, die Populationen der immateriellen Welt zu analysieren. Man wird dabei auf kein System stoßen, sondern auf hybride, synkretistische Formen.

Denn charakteristisch für die Nach-Aufklärung ist es, daß religiöse Motive und theologische Denkfiguren aus ihrer dogmatischen oder institutionellen Bindung herausgebrochen und dadurch wild geworden sind (so wie Philippe Ariès vom Wildwerden des Todes sprach). Diese religiösen Kräfte flottieren, switchen und shiften, zucken und wuchern durch die Systemebenen postmoderner Gesellschaften, sie bilden keine Diskursordnungen, sondern - mit Michel Foucault zu sprechen - den bebenden Sockel der dem Scheine nach religionsfreien Diskurse und wissenschaftlichen Entwicklungen. Man könnte dies die Religionsform nach dem Todes Gottes nennen.

Es ist auffällig, daß von allen Theoretikern Cyberspace als eine immaterielle Sphäre beschrieben wird, die dem gegenwärtigen Weltzustand entgegengesetzt wird - als seine Überschreitung oder seine Erlösung. Der Weltzustand wird als die Sphäre der Materie, der Umweltverschmutzung, der sinnlosen Verschwendung, der Kriege, der Gewalt, der Überbevölkerung, des Egoismus, der Steuerungslosigkeit, des Niedergangs, der Anomie und des Todes charakterisiert. Das sind Deutungsfiguren, in denen sich soziologisch-ökologische Befunde mit apokalyptischen Topoi mischen. Auffällig sind dualistische Oppositionen: ist die Erde dem materiellen Elend zugeordnet, so Cyberspace der entweder problementrückten oder problemlösenden Sphäre des Geistes; ist die Erde mit Schmutz konnotiert, so Cyberspace mit Reinheit; ist die Zeitform der Erde durch Entropiezuwachs, Sterblichkeit und Endlichkeit charakterisiert, so ist die Zeitform von Cyberspace die der Omnipräsenz, der Entgrenzung und der Abwesenheit des Todes.

Es ist der alte Gegensatz von Geist und Materie, Form und Stoff (philosophisch gesehen), der Gegensatz von Reinheit und Unreinheit, Jenseits und Diesseits, Unsterblichkeit und Sterblichkeit (religiös gesehen). Das 'Neue Jerusalem' war ein strenges, aber doch rein immaterielles, darum heiliges Gespinst aus Zeichen. Darum mag es als Metapher des Cyberspace taugen - wenn man dessen eingedenk bleibt, daß diese Metapher dabei aus den theologischen Bindungen der jüdischen und christlichen Religion gelöst und in einer Art semantischer Wucherung in die hypertechnischen Medien der immateriellen Urbanisierung eindringt.

Cyberspace wird dabei verstanden als das Medium von Weltflucht wie zugleich als das Medium, um sich immer und überall in der Welt präsent zu machen. Cyberspace ist die technische Form Gottes - nämlich seiner Ubiquität und seiner Fähigkeit, alles zu prozessieren - also das 'kreative Programm' der Dinge zu sein, und dennoch in jeder Form des Erscheinens zugleich der Entzug des Erscheinens zu sein: Cyberspace ist ubiquitäre Gegenwart in der Form abwesender Anwesenheit.

Natürlich hat Cyberspace mit Gott selbst so wenig zu tun wie jede andere profane oder sakrale Einrichtung. Cyberspace ist ein menschliches Medium, mehr nicht. Neben all seinen rationalen Verwendungsarten wird Cyberspace jedoch auch propagiert und längst auch schon verwendet als Instrument der Weltflucht. Gott ist kein Flüchtling. Flüchtling freilich ist der Mensch - nicht nur, aber vor allem in der Gnosis. Aus einem heillosen Verhältnis der Weltfremdheit heraus ist die in der Gnosis einzig opportune Bewegung die der Weltflucht. Flucht aus der Welt des Elends, des Schmutzes, des Verfalls, des Schmerzes, des Todes, Flucht also aus der Leiblichkeit und ihren Bedingungen, aus der babylonischen Verwirrung der Städte. Der Flüchtling überläßt das, woraus er flieht, seinem Schicksal, um dorthin zu kommen, wo genau diejenigen Übel nicht bestehen, um deretwillen er flieht. Die religiösen Dynamiken des Cyberspace führen dazu, die Welt ihrem Elend zu überlassen und Cyberspace als Möglichkeit des Entkommens in eine Sphäre des Reinen anzubieten - jenseits des verletzlichen Körpers und der sterbenden Erde.

Viele Cyberspace-Theoretiker meinen noch, daß Cyberspace eine Funktion der Problemlösung der irdischen Nöte und Dilemmata sei, und zwar die einzige Strategie, die die Welt vor dem Untergang ins Chaos noch retten kann. Auch dies ist ein religiöses Erlösungsversprechen, das schon mehrfach an technische Innovationen wie die Dampfkraft, die Elektrizität oder die Atomkraft geknüpft wurde und sich regelmäßig blamierte. Jenseits der politökonomischen Funktionen des Cyberspace dagegen, die ihn als eine Kapitalstrategie erweisen, zielen die tiefenstrukturellen Antriebe von Cyberspace jedoch keineswegs auf Zuwendung zur Welt, sondern auf den Ausstieg aus ihr. Cyberspace ist die aktuellste Form der Gnosis perennis - und zwar nicht, weil es im Internet unterdessen ein paar Cybergnosis-Gemeinden gibt, sondern weil seine Grundstruktur gnostisch ist. Die Propagandisten des Cyber-Paradieses sind Gnostiker in dem Sinn, daß sie programmatisch die Welt der Materie und der Leiblichkeit hinter sich zu lassen beabsichtigen, um eine 'reine', von keiner Stofflichkeit kontaminierte Sphäre des Geistes zu kreieren. Das Platonismus zu nennen, tut Platon Unrecht, der ein politischer Philosoph war. Es sind religiöse Fundamentalisten, welche die Verkettung der menschlichen Geschichte mit den biologisch-evolutionären Bedingungen strategisch aufzulösen sich sehnen. Es sind Transzendenz-Sehnsüchte und keineswegs Problemlösungsstrategien, welche an der Behebung des Weltelends interessiert wären. Der Schrotthaufen Erde und der kranke, unvollkommene menschliche Leib sind vielmehr das Opfer, das dem Ausstieg aus der Bioevolution umso leichter gebracht werden kann, als Erde und Leib insgeheim mit dem religiösen Stigma der Heillosigkeit und der Verdammnis belegt sind. Babylon ist global; schaffen wir also eine Globalität jenseits des Globus!

Cyberspace wird als evolutionärer Sprung aus der Enge des Leibes, aus der Begrenztheit der Intelligenz und der Hinfälligkeit der Materie ausgegeben. Als technisches Medium spaltet es unseren traditionellen Welt-Begriff auf in zwei systematisch getrennte Sphären, die eine religiöse Gliederung von 'Oben' und 'Unten', von 'Himmlischem' und 'Irdischem', von 'Unendlichem' und 'Endlichem', von 'Erhöhung' und 'Erniedrigung' verbergen.

Gegenüber den als Wissenschaftler auftretenden Propheten des Cyberspace sind die Autoren der Cyberpunk-Romane die größeren Realisten. In ihren Romanen findet man als durchgängige dualistische Grundstruktur einen Weltzustand radikaler Verelendung und Verrohung, von dem sich die Sphäre des Cyberspace in gottgleicher Reinheit abhebt. Hacker-Punk zu sein heißt, zu den "Verdammten der Erde" zu gehören und doch im materiefreien Raum der Zeichen einen schwerlosen Heroismus und divinen Dandyismus zu zelebrieren. Er löst sowohl den Flaneur wie den Outdrop der großen Städte ab. Der anarchische Cyberpunk ist indes keine Sozialfigur mit Zukunft. Er ist ein literarisches Konstrukt, um die Spaltung der Weltsphären, wie sie mit Cyberspace gesetzt ist, erzählbar zu machen. Gegenüber Figuren wie Minsky, Moravec, Leary, Mitchell, Benedict u.a. sind die Cyberpunk-Autoren die schamlosen, schwarzen Engel der neuen Gnosis. Sie erzählen rücksichtslos die Destruktion der Erde und die Auflösung aller kulturellen und politisch-sozialen Traditionen als die Kehrseite des mystischen Glanzes von Cyberspace. Es wäre danach mit folgender Logik zu rechen: die technische Umsetzung des alten Traums, den menschlichen Leib und das irdische Jammertal in Richtung auf den homo secundus deus zu überschreiten (Vinzenz Rüfner), bringt mit dem Cyberspace zugleich die Vermüllung der Erde und der traditionellen menschlichen Kultur hervor. Selbstvergottung setzt die Apokalypse der Erde voraus. Darum gehören die Cyber-Cities und die verelendeten 20-Millionen-Städte der realen Erde zusammen, als Kehrseiten desselben Phänomens.

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