In: ZDF-Nachtsudio (Hg.): Mensch und Tier. Geschichte einer heiklen Beziehung; Frankfurt am Main 2001, S. 233-258.

Hartmut Böhme

Im Zwischenreich: Von Monstren, Fabeltieren und Aliens.


Wer nach Paris kommt, sollte nicht versäumen, die Stiegen auf das Dach der Kathedrale Notre-Dame zu klettern und dort die steinernen Monstren, Fabeltiere und Dämonen zu besichtigen, durchaus Meisterwerke gotischer Steinmetz-Kunst. Noch immer kann man die Blicke imitieren, die Mitte des 19. Jahrhunderts den Künstler Charles Meryon (1821-1868) zu seinen Radierungen inspirierte: mit ihnen versetzte er die "Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts" (Walter Benjamin) unter die Zeichen eines fremdartigen und unheimlichen Tierkreises, der nicht die Ordnung des Himmels, sondern das nächtliche Gewimmel einer dämonischen Gegenwelt wiedergab. [1] Seltsam genug ragten seit Jahrhunderten die Lamien und Empusen, die Keren und Chimären, die Teufelsfratzen und Basilisken, Drachenköpfe und Kynokephalen über das Häusermeer der Metropole, die sich gerade anschickte, zum Labor der urban-industriellen Moderne zu werden. Die steinernen Monstren, die oft auch die Westportale besetzt hielten, weil von dort der Angriff der Dämonen zu erwarten war, dienten im Mittelalter als Wächterfiguren, welche den heiligen Raum des Kirchenbaus vor dem Eindringen der satanischen Rotten zu behüten hatten. Apotropäisch hielt man den andrängendem Mischwesen des Bösen ihre eigenen Larven entgegen. Nun, bei Charles Meryon, markierten sie die perennierende Nachtseite der Moderne, welche von dem Gelichter der dämonisch gebannten Phantasie sich gereinigt zu haben glaubte. Wenig vor dem Einsatz der modernen technischen Medien, insbesondere des Films, in dem die Phantasmagorien aller Zeiten zu immer perfekteren Wiedergängern archaischen Schreckens reanimiert werden, bevölkerte Meryon den Himmel über Paris noch einmal mit den grotesken Idolen der mittelalterlichen Nacht. Paris träumt wie ein Patient Sigmund Freuds – und herauskommt nicht die achsiale Ordnung der Hausmann'schen Stadtarchitektur, nicht die Transparenz von Eisen und Glas, nicht das disjunkte Regime des Klassengesellschaft und die regulierte Zirkulation der Kapitalflüsse, sondern die wiedererweckten Zeichen des Bösen und des Unheils, die Fratzen der Nacht und des Unbewußten, die wilden Schwärme geflügelter Unholde, die über den Palästen der Macht ihr Unwesen treiben. Man lese Viktor Hugo, Charles Baudelaire, Joris Karl Huysmans. Unverwandt die Basiliskenblicke der steinernen Monster, die das Leben der Stadt erstarren lassen. "Der Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer", hatte schon Francisco Goya (1746-1828) seine vielleicht berühmsteste Radierung betitelt. Sie zeigt über einem entsetzt das Gesicht in den Armen bergenden Mann eine aufflatternde Staffel fledermausartiger Dämonen. Die symbolistischen Künstler und phantastischen Realisten Frankreichs in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten besser als die heutigen Aufklärer verstanden, was der vertrackte Sinn der Goya'schen Radierung war: nicht nur, daß dort, wo die Vernunft nicht wachsam ist, die Dämonen des Aberglaubens wieder erwachen; sondern vor allem erregte die Sensibleren unter den Künstlern, daß es die Rationalität der Moderne selbst ist, die die Monstrositäten hinter ihrem Rücken ausbrütet. Wir sind sie nicht los.
Dabei hatte Carl von Linné nicht nur die Pflanzen, sondern auch die Tiere in einem System klassifiziert, welches für das Zwischenreich der Unholde keinen Platz mehr ließ. Als zweiter Adam benannte und ordnete der Zoologe das Universum der Tiere, das weder mit der geschichtlichen Welt der Menschen noch mit der imaginären Welt des metaphysischen Bestiariums im Austausch stand. Charles Darwin verband die klassifikatorische Ordnung dann mit dem genealogischen Prinzip: alle Tiere – die Gattungen, die Arten und die Individuen – entstammen, nach einem einheitlichen Prinzip, der genetischen Ausdifferenzierung und Selektion. Was wir jetzt an Tieren beobachten, wurzelt in der Tiefenzeit der Naturgeschichte – und nur darin. Fabelwesen, bei denen sich gute oder böse transzendente Mächte verrückend und verzerrend im Fleisch der Tiere verkörpern, kann es nicht geben. Was allenfalls blieb, waren die Irrläufer der Genetik, wie es Irrsterne, die Kometen und Meteore, gibt: bedeutungslose Singularitäten in der unerschütterbaren Ordnung des Himmels, die nichts mehr anzeigen und folglich keine Monstra sind, keine Vor-Zeichen eines kommenden Ereignisses. So war auch im Reich der Tiere kein Raum mehr für Monstren. Denn es gibt keine theromorphen Verkörperungen von Bedeutungen mehr, sondern nur punktuell entgleiste Erbströme, also Mißgeburten, Krüppel, Freaks. Diese wurden zwar – neben rassistischen Völkerrevuen – auf Jahrmärkten schaugestellt, doch waren sie nicht mehr Akteure auf einer metaphysischen Bühne. So glaubte man – und hatte damit doch nur die Faszinationsgeschichte der Monstren und Fabelwesen unterschätzt, denen im 20. Jahrhundert eine glänzende Konjunktur bevorstand, von der sich kein Aufklärer etwas träumen ließ. Sie erhält neuerdings durch die Cyborg- und Biogenetik-Phantasmen weiteren Schub. Wir werden die Monstren nicht los – nein, wir wollen es nicht einmal. Sie gehören zu uns. Von lange und weit her.

Über die altsteinzeitlichen Imagologien der Jäger und Sammler wissen wir wenig. Kannten sie, die gemeinschaftlich Tiere jagten und aßen, aber auch verehrten, Monster und Chimären? Es fällt auf, daß in den Höhlenmalereien zwischen 40000 und 10000 zwar alle für die Jäger-Kultur relevanten Tiere mit großer pikturaler Perfektion gezeichnet werden, aber keine Fabelwesen. Gehen wir weiter zu den sog. Hochreligionen, die nicht nur die agrikulturelle Wende (Bauern und Hirten), sondern auch Stadt- und Staatsgründungen, Machtkonzentration und Verwaltung, Ausdsifferenzierung von Klassen und Berufen, institutionalisierte Priesterschaften und Kriegerkasten, ausgedehnten Handel und entwickelte Feuertechniken voraussetzen, so erkennen wir eine andere Lage: die Bildzeugnissen wie auch die ältesten religiösen Schriftquellen – in den mittelorientalischen Kulturen, im alten Ägypten, später dann in der altisraelitischen wie in der griechischen Religion, aber auch im indischen und asiatischen Kulturraum – zeigen überall eine steigende Fülle von Mischwesen. Sie figurieren göttliche oder dämonische Potenzen, die aus heterogenen tierischen und immer wieder auch menschlichen Elementen synthetisiert sind. Das Transzendente beginnt nicht mit anthropomorphen oder gar abstrakten Göttern, sondern mit Tierdämonen und mit – Toten, die ihren eigenen Raum beanspruchen und behaupten und immer wieder auch eine unheimliche Präsenz und Macht mitten in der Sphäre der Lebenden demonstrieren (von dieser wichtigen Quelle des Dämonismus ist im folgenden nicht die Rede). In den orientalischen Kosmologien und Sukzessionsmythen mit ihren gewaltgesättigten Kämpfen finden sich bereits urweltliche Tiermonster, deren Ermordung oder Verbannung ins Unterirdische erst den Aufstieg zu einer kulturellen Ordnung erlaubt. Die eingesperrten, immer wieder mit Ausbruch drohenden Monster Behemoth und Leviathan in der jüdischen Bibel (Hiob 40,15 - 41,25) sind offensichtlich Spuren dieser Tradition: sie gehören einer Schicht vor der Schöpfung der geordneten Welt durch Jahwe an; und erst recht haben sie nichts mit dem 5. und 6. Tag des Schöpfungswerkes zu tun, als Gott die See-, Luft- und Landtiere schafft, welche letztere er später Adam zur Benamung vorführt (Gen 2, 19-20). Offenbar waren Behemoth und Leviathan immer schon da wie das Tohuwabohu des Urwassers, das ihre Sphäre darstellt und das ebenfalls dem Werk Gottes vorausliegt. Es bedurfte größter Anstrengungen der Priester und Propheten Jahwes, um die rituelle Verehrung von Tier-Idolen zu brechen und den Brauch der Tier-Opfer in eine mit dem monotheistischen Glauben vereinbare Form zu gießen. Man denke nicht nur an das goldene Kalb, sondern etwa an den dreiköpfigen, syrisch-kanaanäischen, zur Unzucht verlockenden Gott Baal, dem die Kinder Israels immer wieder nachlaufen.

Auch für den von den Musen selbst geweihten Dichter Hesiod (um 700 v.Chr.), der ebenfalls von orientalischen Mythen beeinflußt ist, ist das "Chaos" der Anfang aller Dinge und die Monstren, Unholde, Giganten, Ungeheuer und Dämonen werden, entsprechend dem bei Hesiod dominanten Muster der Genealogie, meist durch gewaltförmige Sexualakte zwischen antipodischen Göttern erzeugt. – Aufschlußreich und durchaus typisch ist auch der Gründungsmythos der Stadt Theben: sie wird durch Kadmos dort errichtet, wo er einen vorweltlichen, später Ares zugeschriebenen Drachen tötet, dessen Zähne von Kadmos im Erdreich ausgesät werden: daraus erwachsen die Spartoi, die sich sogleich gegenseitig umbringen – bis auf fünf; sie stellen die Urväter des thebanischen Adels dar, der auf immer das archaische Erbe der Gewalt und der Zwietracht in sich trägt, die Züge des Monstrums und der chtonischen Herkunft: niemals, so belehrt die Mythe von Kadmos bis zu Ödipus und seinen Nachkommen, wird Theben frei werden von den Malen seiner monströsen Genealogie.

Wahrlich explosiv vermehren sich im Zwischenreich, das sich zwischen die sterblichen Menschen und die olympischen, durchweg anthropomorphen Götter schiebt, die monströsen Wesen. Nicht immer sind sie tierförmig und nicht immer bösartig, aber deutlich genug zeigen sie an, daß zwischen Menschen, Göttern und Tieren ein metamorphotischer Austausch herrscht. Oft genug werden Menschen strafweise zu Tieren verwandelt oder fallen ihnen, wie Aktaion oder Adonis, zum Opfer. Das Meer birgt bedrohliche Wasser-Ungeheuer, aber auch die im Element spielenden, halb göttlichen, halb tierischen Attributfiguren: die Nereiden, Tritonen, Naiaden und Dryaden im Zug des Poseidon. Dieser nahm sich die schöne, schlangenhaarige Medusa zur Geliebten, derem Blut bei ihrer Ermordung durch Perseus die Flügelrosse Pegasus und Chrysaor entspringen. Als große Vögel mit Mädchenköpfen, denen ein zauberhafter Gesang entströmt, dem kein Seefahrer widerstehen kann, treiben Meerdämoninnen, die unseren gefahranzeigenden Sirenen ihren Namen leihen mußten, ihr tödliches Verführungsspiel. Die liebliche Nymphe Skylla wird von der eifersüchtigen Kirke in ein kynomorphes, sechsköpfiges, zähnefletschendes Ungeheuer verwandelt, das sich verzweifelt, der wasserverschlingenden Charybdis gegenüber, ins Meer stürzt und zum dauerhaften Schrecken der Seefahrer wird. Die Lüfte werden von gefährlichen Sturm- und Hageldämoninnen durchbraust, den unstillbar gefräßigen Harpyien und den erntevernichtenden Stymphaliden, abstoßende Mischwesen aus Vogelleibern und Mädchenköpfen. Pferdegestaltige Winde beherrschen den Luftraum und Gespanne mit gewaltigen Flügelrossen ziehen am Himmel. Archaischen Schrecken löst der hundertköpfige, aus Schlangen und Drachen collagierte Typhon aus, urtümlicher Sproß der sexuellen Vereinigung von Gaia und Tartaros, der Unterwelt. Entsetzlich auch die mit dem bösen Blick begabten Telchinen, die wie die ungestalten Zyklopen Dämonen der Feuer- und Schmiedekunst sind. Spielerischer dagegen die Hybridwesen, die aus menschlichen und Pferde- oder Bocks-Körperteilen zusammengesetzt sind, Kentauren, Silenen, Satyrn und Faune: sie bevölkern die geheimnisvollen Wälder und mischen sich unter die Züge des orientalischen Stier- und Rauschgottes Dionysos. Zu ihnen gehört auch der von Hermes und einer Nymphe gezeugte Pan, der als Mißgeburt zur Welt kommt: mit Ganzkörperbehaarung, Ziegenhörnern und Ziegenfüßen. Gerade als solcher gefällt er dem Dionysos, dem er sich anschließt, der Ziegengott und Flötenvirtuose, zu dem Pan wird, als er, in der Gier des Bockes, die Nymphe Syrinx verfolgt, die seiner Geilheit nur entgeht, indem sie in einen Schilfbusch verwandelt wird, aus dem Pan sich die berühmte Flöte (die "Syrinx") schneidet. Immer unruhig unter dem geballten Druck ihres schweifenden Verlangens suchen die aus Bock und Mensch gemischten Hirtengottheiten überall sexuellen Verkehr mit Ziegen, Nymphen und Menschenfrauen. Diese begatten sich ihrerseits mit Tieren, welche nicht selten die Masken von Göttern sind, etwa wenn Zeus sich als Schwan, Stier oder gar als Wachtel tarnt. Berühmt ist die einem archaischen Stierkult entstammende Mythe von der Helios-Tochter Pasiphae, der kretischen Königin, welche den Ingenieur Daedalos beauftragt, eine künstliche Kuh zu bauen, unter der sie sich verbirgt, um mit dem von Poseidon geschenkten weißen Stier Geschlechtsverkehr treiben zu können: daraus entstammt das Menschenopfer fordernde Misch-Monster Minotaurus, um den herum Daedalos das berühmte Labyrinth bauen mußte. Die löwenleibige Sphinx, aus Syrien stammend und in Ägypten weit verbreitet, wird von den Griechen als grausame Würgerin mißverstanden, die von den Thebanern ihren Tribut an Menschenopfern fordert. Die zuerst von Homer erwähnte Chimäre, aus Löwe, Ziege und Drachen gemischt, leiht einer ganzen Gattung von Mischwesen ihren Namen. Während der Greif, halb Adler, halb Löwe, von Persien, Mesopotamien, Ägypten über Israel bis nach Griechenland seine internationale Präsenz behauptet – nachweisbar schon 3300 v.Chr. Es führt zu weit, all die mythischen Fabelwesen nennen zu wollen, die den östlichen Mittelmeerraum bevölkern und die alles andere als Phantasiegebilde sind, sondern zum selbstverständlichen Wirklichkeitsbestand der griechischem Kultur gehören.

Vielmehr gilt es einzuhalten und nach der Bedeutung der Tiere in den frühen Religionen zu fragen. Zunächst fällt auf, daß Monster niemals aus Pflanzen generiert werden, obwohl Bäume oder Haine als heilige Orte verbreitet sind und im Rahmen der Vegetations- und Kornkulte vor allem Göttinnen verehrt werden. Genügte dies nicht, um Monstren zu zeugen? Es scheint so, daß der agrarischen Verbindung von Göttern, Menschen und Pflanzen auch dann keine monströse Zwischenwesen entstammen, wenn Vegetationskulte dem Sexuellen als verwandt vorgestellt werden. Pflanzen fehlt die Lokomotion und es fehlt ihnen derjenige physiognomische Ausdruck, der die für Monstren so wichtige Trieb-Dynamik sinnfällig machen könnte: ihre unersättliche orale Gier, ihre zur Fratze geronnene Wut, ihre verfolgende Aggression oder ihre bedrohliche Sexualität. Dies alles sind Merkmale, welche den basalen Triebdynamiken des Menschen entnommen sind, an Tieren wenigstens ähnlich wahrgenommen werden können und darum geeignet sind, zu einer teils verlockenden, teils paranoisch strukturierten Vorstellungswelt verdichtet zu werden, die mit Mischwesen gefüllt wird. Das Standortgebundene und hinsichtlich von Sexualität und Aggression Unauffällige und Undramatische des Pflanzenlebens bietet keine performativen Körper- und Handlungsschemata für mythische Urszenen der Angst und des Schreckens, der Vernichtung und der Gewalt, der Gier und der Verschlingung, des sexuellen Verlangens und des hingerissenen Rausches.

Man hat hinsichtlich der Agrikultur vom sylvano-pastoral-ruralen Dreieck gesprochen, das sowohl die Landschaftsmorphologie wie die Vorstellungswelt der frühen seßhaften Kulturen geprägt habe. Hinsichtlich der Entstehung monströser Zwischenreiche ist festzuhalten, daß weder der Feldbau noch die Garten- und Baumkultur eine imaginative Dynamik in einer Richtung freigesetzt haben, in der die Menschen mit den Gefahren und Ängsten vor der Natur und/oder mit den ihnen selbst zugehörigen Triebmächten dramatisch konfrontiert würden. Garten und Feld sind eingehegte Kultur, auf Ständigkeit und Stetigkeit, Rhythmus und Wiederholung abgestellt. Treten hier Krisen oder Katastrophen ein, so nicht von innen her, sondern von außen: die hagelstürmenden Stymphaliden zerstören Blüte oder Ernte; der aggressive Glutwind Typhon dörrt das Land aus; ein feindlicher Flußgott läßt das Wasser versiegen oder die Felder überschwemmen. Auch Vegetations- und Korndämonen figurieren nicht eine monströse Seite von Pflanzen und Getreide selbst, sondern nehmen diese, meist auf unheilvolle Weise, zu ihrem Wohnplatz.

Anders steht es um die pastorale Seite der Agrikultur. Um 1000 beginnt, vermutlich zwischen dem Libanon und dem Nordirak, als ein Abzweig der Jagd die Hirtenkultur. Es fällt auf, daß die mythischen Mischwesen sehr oft aus Körperteilen solcher Tiere synthetisiert werden, welche durch Maßnahmen der Zucht und der behüteten Beweidung die Grenze von Wildnis zur Zivilisation überschritten haben: Ziegen, Schafe, Hunde, später dann Kühe und Stiere. Mit ihnen lebten die Hirten in einer langsam, aber stetig dichteren kulturellen Symbiose (Pferde kommen hinzu). Doch muß man annehmen, daß während jahrtausendelanger Zwischenzeiten die künftigen sog. 'Haustiere' halbwild blieben und so auch lebten. Die aus Mensch, Bock, Hund, Pferd, Stier figurierten Monstren kehren zum einen die wilde Seite ihrer Herkunft hervor: das macht sie geeignet, das bedrohlich Wilde des Menschen selbst darzustellen, besonders die sexuelle und orale Gier. Zum anderen zeigen die Mischwesen gewissermaßen das 'Entsprungene', ja Obszöne der Mensch-Tier-Symbiose an. Keineswegs sind Tiere nur Nutzgegenstände zur Milch-, Käse und Fleischversorgung oder bloße Fell- und Lederlieferanten. Sondern die Dichte der Beziehungen macht sie auch zu Objekten des Begehrens, der Projektion, des Austauschs und der Gefühle. Dies gewinnt in den Monstren sowohl morphologische Gestalt wie performative Kraft. Kein Wunder also, daß die (im Sinne Freuds) 'unheimliche', historisch noch niemals zuvor erreichte Nähe und Intensität der Mensch-Tier-Beziehung sexuelle 'Hybriden' und 'Monster' hervorbringt, die durchweg im Geschlechtsverkehr gezeugt und dann 'autonom' geworden sind: gleichsam externalisierte Marker in den liminalen Zonen zwischen Menschen, Tieren und Göttern.

Die sylvanische Seite schließlich des agrikulturellen Dreiecks bezeichnet die kultivierten Bäume und Büsche, die Olivenbaum-Pflanzungen zum Beispiel und die Weinberge, die vielfach genutzten Eichen und die geheiligten Haine. Mit dem wie immer auch genutzten und marginal kultivierten Wald grenzt die chaotische Wildnis an die verstetigten Kulturräume an. In den Wäldern treffen die Jäger auf jene Tiere, die wild sind und bleiben, gefährlich und kraftvoll, unberechenbar und den Menschen auf Leben und Tod stellend. Womöglich bewegt sich der Jäger zudem im Raum eines Gottes oder einer Göttin, der alles Wild gehört. In Schluchten, im Dickicht, in düsteren Senken, in Höhlen, an versteckten Quellen oder überraschenden Lichtungen finden die unheimlichen Begegnungen der Jäger mit dem Anderen statt: ist der Wald ohnehin eine Sphäre der Angst, die zu überwinden die Beute zum Preis hat, so ist er, ähnlich wie das Meer, ein Raum, der das Fremde und Ungeheure in sich birgt, das selbst den Mutigen erschauern läßt. Dort erblickt der Jäger, was noch niemand sah: wilde Schwärme von Mischwesen und vor allem: den Drachen, dessen zähnebewehrtes Fletschen und menschenfresserisches Schlingen zu den entsetzlichen Konfrontationen mit der oralen Wut gehört, die die energiegeladenste und exzessivste Aggression ist, die wir kennen.
Die Begegnung mit dem vorweltlichen, menschenfressenden Drachen zu Lande und zu Wasser ist gewiß ein Extrem monströser Heimsuchung. Man hat Drachen aufgrund mancher Ähnlichkeit mit den Dinosauriern als mythische Erinnerung an das Zeitalter der Großechsen zu verstehen versucht, oder als hypertrophe Imaginationen, in welche Elemente von Schlangen, Echsen, Krokodilen und Greifvögeln eingegangen sind. Wichtiger ist vermutlich etwas anderes: die häufige und tödliche Begegnung zwischen Drache und Kulturheros deutet darauf hin, daß hier eine mythische Kulturentstehungs-'Theorie' vorliegt. Kultur kann sich erst dort entfalten, wo der 'Drache' (das Vorzivilisatorische und Barbarische) besiegt ist. Dies gilt für die Kulturheroen und Monster-Besieger gleichermaßen, sei es Kadmos, der den urweltlichen Drachen mit Steinwürfen erlegt; Apollon, der die drachen- und schlangengestaltige Python, Wächterin am Orakel ihrer Mutter Gaia, ohne Rücksicht auf die Heiligkeit des Ortes grausam umbringt; Theseus, der als athenischer König den Tribut an Menschenopfern für den Minotaurus durch dessen Ermordung beendet; Perseus, der nicht nur die Medusa enthauptet, sondern auch das Meerungeheuer Ketos tötet, das die Königstochter Andromeda zum Opfer verlangt; oder sei es der paradigmatische Kulturheros überhaupt, Herakles, der gleich eine ganze Reihe von Monstren erlegt: wenig nach seiner Geburt die zu seiner Vernichtung ausgesandten Schlangen, später dann u.a. den nemeischen Löwen, die neunköpfige, Menschen und Vieh vertilgende Hydra oder die menschenfressenden Stymphaliden, die Hageldämoninnen. Selbst Ödipus nimmt als Sieger über die Menschenopfer verlangende Sphinx (die 'Würgerin') die Rolle eines Kulturbringers ein, auf die auch schon die Zeichen (monstra, prodigia) seiner Geburt hinweisen, die ein Überleben extrem unwahrscheinlich machen: doch gerade dies zeichnet den kommenden Heros aus. Die 'monströsen' Umstände der "Geburt des Helden" (wie Otto Rank schon 1909 feststellte) fallen bei Apollon, Herakles, Perseus, Theseus oder Ödipus strukturverwandt aus. Das Muster ist: es muß Monster geben, damit es Kulturheroen gibt. Ihre extreme und rücksichtslose Gewaltanwendung gegen die Fratzen urweltlicher Gewalt, die oft die Form menschenfresserischer Gier hat, qualifiziert die Heroen zu mythischen Stiftern menschlicher Kultur.

Der Drache ist dabei häufig eine menschenfeindliche archaische Gottheit, die zerstückelt werden muß, damit die Menschen leben können: das ist die Gründungsgewalt des Kulturbringers. Deutlich ist, daß der Anfang der Kultur mit Gewalt zusammengedacht wird. Aber dies bedeutet auch, daß jede Gewalt gerechtfertigt ist, damit 'Kultur' werde: eine heimliche Doktrin, die bis in unsere Tage gilt. Man kann dies auch so wenden: der barbarische 'Anfang', der Drache also, wird so gewaltgesättigt und monströs phantasiert, um damit die ungeheure Gewalt der eigenen Kultur zu erklären. Psychoanalytisch gesehen ist der Drache ein Container, in welchem das Unerträgliche der eigenen oralen Aggression und die Bereitschaft zur brutalen Vernichtung des Anderen 'untergebracht' und 'verstaut' werden – es ist 'draußen', ja, das 'Draußen', nämlich das Wilde und Unmenschliche, das uns bedroht (nicht: womit wir drohen), das Barbarische und Monströse 'jenseits der Grenze'. Den Drachen töten, heißt die eigene Kultur einzuhegen gegen eine Gewalt, die eben jener selbst eigentümlich ist.

Ein anderer Aspekt von Tiermonstern hängt mit dem zusammen, was man das Erbe der steinzeitlichen Jäger nennen kann. Die Hominisation ist mit dem Übergang vom Vegetarismus zur Allesfresserei verbunden, und folglich mit der habituellen Tötung von Tieren. Die Mythen lassen erkennen, daß dies als ein archaischer Schuldzusammenhang verstanden wurde. Weder im Paradies der Bibel noch im Goldenen Zeitalter Hesiods, Ovids oder Vergils frißt der Mensch Tiere. Diese zu töten ist indes ein Sakrileg. Die Opferpraxis dient vor allem der Entschuldung der habituellen Tötung im Dienst unserer Fleisch-Gier. Sowohl das Menschenopfer wie auch das Tieropfer wurde vermutlich zur Beschwichtigung, zur Sühne, zur Wiederherstellung der verletzten Ordnung, zur Erinnerung an das Gründungsopfer des Kulturheros oder zur Kanalisation der kollektiven Schuld (Sündenbock) eingerichtet. Der Mensch wird, indem er ißt; und indem er ißt, wird er schuldig. Wir essen den Tod der anderen und schlingen dabei die Schuld in uns. In der Nutrition herrscht eine schreckliche Nemesis – und auch dies war der Grund dafür, sich für immer vom Garten Eden oder vom Goldenen Zeitalter ausgeschlossen zu wissen. Das Orale ist die Wurzel aller Schuld – und darum sind deren Gegenbilder, das Schlaraffenland und der Garten Eden, von der Lust-/Schuld-Ambivalenz entlastet. Im heiligen Fasten oder (heute) in der Anorexie herrscht die Sehnsucht nach Schuldlosigkeit und Reinheit, die nur durch Nicht-Essen erreichbar scheinen.

Eine besondere Last ist es, daß die Jagd sich gerade auf solche Tiere richtet, die Grünfresser sind (was sie, neben ihrem Herden-Verhalten, zu ihrer späteren Verhäuslichung tauglich macht; ihre 'Unschuld' verstärkt unsere 'Schuld'). Aufschlußreich ist, daß die Mischwesen und Drachen sehr oft durch zwei ins extrem getriebene Triebhaftigkeiten charakterisiert werden: die hemmungslose sexuelle Gier, deren 'Normalform' die Vergewaltigung ist, und die vernichtende Verschlingungslust, deren 'Normalform' die Menschenfresserei ist. Drachen und Mischwesen sind die in phantastischen Tierfigurationen hinausverlagerte, orale und genitale Gewalt. Es ist die ebenso anarchische wie archaische Gewalt des Menschen selbst, die wiederum in Formen einer rituellen Gewalt 'getötet', d.h. historisch überwunden werden muss, damit in einer Welt im Zeichen der Eris (des Streites, wie es Hesiod sieht) überhaupt eine Aussicht auf Kultur besteht. Diese kulturstiftende Gewalt ist darum heilig (René Girard). Tiere, insofern sie zu 'Containern' zügeloser Sexualität wie oraler Gier und Agression des Menschen werden, tragen mithin die 'Schuld' des Menschen, der eben darum sie wiederum zu töten und zu essen sich berechtigt sieht: was ihn erneut verschuldet, so daß entschuldende Opferriten eingeführt werden müssen, welche die Gewalt wiederum nur verlängern, die sie unterbrechen sollen. In das Verhältnis von Mensch und Tier ist mithin eine unendliche, tragische Verkettung eingelassen, weil der Mensch real der Paradoxie des Fleisch-Essens so wenig entkommt wie er symbolisch die Tiere zu Monstern zu machen nicht unterlassen kann, solange er an sich selbst die monströse Gewalt der vergewaltigenden Sexualität und oralen Wut nicht verlöschen spürt.

Es gehört zum uneingeholten Scharfsinn der griechischen Kultur, daß sie diesen Zusammenhang von Sexualität, Oralität und Gewalt in ihren Mythen von Monstern und Heroen zu einer gültigen Gestalt hat werden lassen. Wir heute dürfen von uns nicht annehmen, daß wir über diese Mythen hinaus wären. Als unlängst die Bilder der hunderttausendfach verbrannten Rinder und Schafe mit ihren Rauchfahnen über einer friedlich scheinenden Agrikultur-Landschaft tage-, ja wochenlang auf unseren Bildschirmen erschienen, da stellte sich, jenseits aller seuchenhygienischen Rationalität, die wir im Schnellkurs zu lernen hatten, ein mythischer, im wörtlichen Sinn panischer Schrecken ein. Man sah, was 'Holocaust' bedeutet: 'Ganzverbrennungs-Opfer'. Die vegetarischen Tiere, die nur den einen Sinn haben, von uns gefressen zu werden – z.B. 1,3 Milliarden Rinder weltweit –, waren, durch eine in jeder Hinsicht furchtbare 'Tierhaltung' unserer Gesellschaft, zu gefährlichen Monstern geworden, die uns bedrohen. Das Monströse, das aus den Bildern von BSE-Rindern, MKS-Schweinen oder Creutzfeld-Jakob-Schafen uns ansieht, ist die Monstrosität unseres Umgangs mit Tieren. Sie werden zu den Symptomträgern ('Containern') der menschlichen Barbarei. Als solche müssen sie massenhaft verbrannt, zu-nichts-gemacht werden und bezeichnen damit umso mehr, was sie sind: Objekte der menschlichen Unersättlichkeit oder Nichts. Sie werden in einem gewaltigen Brandopfer getötet, damit oder besser: 'als ob' damit eine Wende zu einer besseren Kultur, zu einer höheren Agri-Kultur gelegt wäre. Eine neue Ministerin, deren Kindheit die größte Unwahrscheinlichkeit enthält, jemals an der Spitze der Landwirtschaft zu stehen, wird zur Hoffnungsträgerin einer neuen Kultur. Das ist so schön, wie es schön war, daß die 'unwahrscheinlichen' Kulturstifter menschenvernichtende Ungeheuer erlegten. Der Name des Ministeriums wird geändert: von 'Landwirtschaft' (= 'Agrikultur') in 'Verbraucherschutz'. Das sagte, noch während die Rauchzeichen der Brandopfer unserer Schuld über das Land wehten: es geht um den Menschen. Es wird also bleiben, wie es ist: die Tiere tragen die Schuld der Menschen, die damit nichts zu tun haben wollen. Der Vorhang, der für einen Augenblick über einer Szene von mythischer Gewalt, unersättlicher Gier und Opfer-Ritualen geöffnet war, schließt sich wieder, um die Schuldverstrickung der Carnivoren in verbesserten Mechanismen des gewaltsamen Tier-Verbrauchs verschwinden zu lassen. Je dichter der Vorhang über der eigenen Gewalt, um so sicherer die Entstehung von Monstern. Das können und wollen wir aus BSE und MKS nicht lernen.

Das westliche Christentum hat an anfänglichem Zögern, weil nicht nur künstlerische Bilder, sondern auch alles Dämonische unter dem Verdacht heidnischer Idolatrie standen, das Universum der Zwischenwesen enorm vergrößert, beschrieben, bildkünstlerisch dargestellt, in Stein gehauen, aktenkundig und zum Gegenstand gelehrter Abhandlungen gemacht. Es dürfte weltweit keine Kultur geben, die eine derartige Menge von Traktaten und Diskursen über Dämonen und Fabelwesen erzeugt hat, wie Westeuropa zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit. Dabei wurde nicht nur das Pandämonium der griechisch-römischen Kultur nahezu vollständig übernommen oder umgedeutet, sondern eine wahre Flut neuer Hybridwesen geschaffen. Von Süditalien bis Schweden besetzten Monster und Chimären die Kirchenbauten an allen sog. Marginalien; sie zogen als Randzeichnungen und Initialen in die Codices ein; sie durchwimmelten die Predigttexte und theologischen Abhandlungen, die Bestiarien und Dämonologien, die Visionsliteratur und Apokalypse-Kommentare, aber auch die großen Epen und Reisebrichte und okkupierten zunehmend nicht nur die Einbildungskraft, sondern auch den Alltag der Menschen. Wahrscheinlich nirgends so wie hier liegt der Zusammenhang zwischen kollektiven Ängsten (und deren Regie durch geistliche und weltliche Eliten) und der Imagologie von Dämonen und Tiermonstern derart deutlich zutage. Die Tiere hatten dabei nichts zu lachen, so wenig wie die Menschen. Denn die Welt war derart, daß sie überall Ritzen, Durchschlupfe, Eingänge, Löcher zeigte für den Ansturm der monströsen Rotten. Und nicht nur die Welt insgesamt, sondern jedes Lebewesen, Tier oder Mensch, konnte unversehens durchdrungen werden von Dämonen, die sich der lebenden Körper als Larven bedienten. Sie lauerten überall und fuhren, mit wahrlich penetrierenden Gewalt, in Körper und Seelen ein, um von ihnen parasitär Besitz zu ergreifen. Die Angst, in den Fallstricken der Dämonen gefangen und von den Masken des Bösen getäuscht zu werden, war ubiquitär. Radikale Frömmigkeitsbewegungen mit strikt dichotomischen Weltbildern, durch die das Dämonisch-Böse zu einer autonomen, weltbeherrschenden Kraft wurde, trugen ebenso zur Ausbreitung des dämonischen Gelichters bei wie offizielle Kirchenreformen, etwa die vom Benedektiner-Kloster Cluny und dem Zisterzienser-Abt Bernhard von Clairvaux ausgehende Askese. Spätestens seit Isidor von Sevilla und Hrabanus Maurus war die Beschäftigung mit Monstern und Dämonen eine Angelegenheit seriöser Theologie, aber auch der Naturkunde, oft unter fleißiger Benutzung antiker Schriften wie dem "Physiologus" und der "Historia Naturalis" von Plinius d.Ä.

Entscheidender aber war die langlebige Konjunktur, welche die Hölle und mit ihr Satan und sein dämonischer Herrschaftsapparat erfuhren, so wie auch die apokalyptischen Imagologien, welche in der Offenbarung des Johannes ihren auch noch kanonisierten Master-Text und Quell-Code hatten. Wenn irgendwo, so bestätigt sich hier der "Primat der Angst" in der Entstehung der Religion (A. Michaels). Die monströsen Tiergestalten und höllischen Mischwesen waren aufgrund vielfacher Textzeugnisse nicht weniger beglaubigt als die Realität der Tiere, welche Gott einst geschaffen und über die er den Menschen zum Herren eingesetzt hatte. Der Aufstieg Satans aber, dessen Figurationen Elemente von Bock, Stier, Drache, Schlange aufweist, der aber seine bestialische Morphologie unentwegt ändern konnte, begünstigte die Vermehrung eines unheimlichen Hofstaates, einer subterranen Gegenregierung, die über die Erde und die Menschen eine fast unbeschränkte Macht erlangte. Weil Satan selbst aus dem Sturz des rebellischen Lieblingsengels Gottes, Luzifer, und die Dämonen aus seinen gefallenen Mitstreitern hervorgegangen waren, so konnte die Ausbreitung der Hölle und ihrer Macht über die Erde als gottgewollt angesehen werden. Die Erde wurde zum Schauplatz eines metaphysischen Kampfes, den die Kirche gegen die Invasoren des Dämonenreiches zu bestehen hatte. Auch darum wurden die Kathedralen zu Festungen Gottes, bewehrt mit apotropäischen Monstern, die dem Ansturm der Dämonen entgegengehalten wurden. Jeder einzelne Mensch war in diesen Kampf verwickelt und mußte sich mit festen Riegeln der Abwehr (das ist der Glaube und der gottesfürchtige Lebenswandel) gegen den Einfall der höllischen Mächte in Körper wie Seele wappnen. Die Gottesfurcht fand in der universalen Angst vor dem Bösen ihre Stütze.

Es geht hier nicht um die Nachzeichnung einer Geschichte der Hölle im Zeitalter der großen Angst. Sondern es soll hier nur in wenigen Strichen verdeutlicht werden, in welcher Weise die Tiere herhalten mußten, um diese Angst zu bebildern und zu vertexten. Auf der Basis ihrer vorgängigen Zerstückelung und der daraus gewonnenen synthetischen Monstrosität wurden Tiere zu Medien einer projektiven Paranoia im Gewande der Theologie. Man darf wohl sagen, daß jener Mensch, der sich an die Stelle des täglichen Lamm-Opfers am Altar Jahwes setzte; daß jener Jesus also, der mit dem einen und letzten Selbst-Opfer die Kette der Opfer zu beenden trachtete; daß das Lamm Gottes, dessen Blut wir im Abendmahl trinken und dessen Leib wir essen in Wiederholung jenes Ur-Opfers überhaupt, in welchem Gott gegessen wird –: man darf wohl sagen, daß dieser Mensch Jesus, der die Angst "in der Welt" von uns nehmen wollte (Joh 16,33), gescheitert ist. Denn in den Jahrhunderten, in denen die großartigen Phantasmen der Hölle von den Menschen Besitz ergriffen, hat es, im Namen des geopferten Christus, eine beispiellose Vermehrung der Angst und eine ungeheure Vermehrung der Opfer gegeben. Die Hölle hatte ihr Maul geöffnet und hielt die Welt zwischen den Zähnen.

Synthetische Misch-Monster sind in Höllenvisionen die Regel. Sie stehen zu Satan im selben Verhältnis wie die Engel zur Trinität: sie sind Attribut- oder Assistenz-Figuren. Diese wiederholen dabei nur die bestialische Anatomie der Hölle selbst. Was wir an den menschenfresserischen Drachen der Griechen beobachtet hatten, wird hier extrem ausgestaltet: die Hölle insgesamt ist ein gewaltiger Freß-Organismus. Die Menschen werden von einem unersättlichen Maul verschlungen und verschwinden in den düsteren Kammern einer Verdauung, in denen sie auf ewig zersetzt werden, ohne doch von ihren Qualen befreit zu werden. In manchen Texten, wie der "Visio Tnugdali" (1149) erscheinen riesige vogelartige Schlingmonster, welche die unkeuschen Sünder zu nichts (ad nihilum) verdauen, um sie dann über den Darmausgang wieder auszustoßen in ein wogendes Eismeer hinein – eine die christliche Resurrektion obszön pervertierende Wiedergeburt. Im Inneren der Vogel-Bestie werden die Sünder irgendwie befruchtet – und die Leibesfrüchte, welche von innen her die Körper zerbeißen, brechen unter Gebrüll überall aus den Körpern der schwangeren Frauen wie Männer heraus. Der Fötus ist ein Alien – und zurecht fühlt man sich an die seit 1979 produzierte Film-Serie "Alien" erinnert, die die zwischenzeitlich erlahmte Konjunktur des Horrors u.a. auch dadurch wiederbelebte, daß die extraterrestrischen, in ihrer Materialität schleimig-klebrig diffusen Aliens in die Körper von Menschen auf grauenhafte Weise hineinflitschen, dort sich vermehren und in einer tödlichen Geburt aus dem Menschenkörper wieder herausbrechen.

Symptomatisch ist, daß in den mittelalterlichen Höllenvisionen eine enge Fusion von oral-aggressiven, sadistischen, sexuellen und gebärenden Abläufen vorgenommen wurden, eine totale Grenzauflösung der differenzierten Körperfunktionen, einhergehend mit einer hybriden Symbiose der eigentlich getrennten Morphologien von Tier- und Menschenformen: genau dies ist das Monströse der Hölle. Sie ist selbstverständlich voll von sexuellen Perversionen aller Art – und hierbei spielen die tierhaften Monster, die Strafexperten Satans, eine erfindungsreiche Rolle, wenn sie jede vergewaltigende, anal- oder oralsadistische, sodomitische, kannibalische, zerstückelnde Sexualpraktik in Szene setzen.

Anders als die griechischen Tiermonster sind die Unholde der Hölle reich mit Techniken und Instrumenten ausgestattet – und der Mensch ist nackt: keine dem Mittelalter bekannte Technologie und Gerätschaft, wenn sie irgend zum Einsatz der Folter sich eignet, ist der Hölle unbekannt. Man findet hier – völlig entgegengesetzt zur agonalen Begegnung zwischen bewaffnetem Heros und Tiermonster in der Antike – erstmals das Phantasma eines technisch-industriellen Großbetriebs der Folter, der auf seltsame Weise mit Körperbildern thero- und anthropomorpher Herkunft sowie subterranen Verließ-Architekturen kombiniert wird. So setzt die Hölle alle Künste der aus Metallurgie und Montanbau bekannten Verbrennungstechniken ins Werk, implantiert diese jedoch in einen Innenraum, der zwischen der Verdauungs- und Sexualkloake eines gigantischen Monsters und unterirdischen Straflabyrinthen undeutlich changiert. Dieses Rauminnere wird überfüllt von den wehrlosen Leibern der Straffälligen und den Horden der polymorphen, halb tierischen, halb menschlichen Monster, Experten der Folter, die den gewaltigen Apparat der Grausamkeit ununterbrochen in Gang halten. Unendliche Heere von Abgesandten der Hölle, auch sie Hybriden aus Tier und Mensch, durchfliegen als Dämonen den oberirdischen Luftraum der Erde, ständig lauernd auf jede klaffende Öffnung im Gefüge der menschlichen Ordnung, in die sie eindringen können, um auf einem Terrain oder in einem Menschen sich brückenkopfartig einzunisten. Alles, was je zur visuellen Gestalt des Dämonischen ersonnen wurde, wird hier in grandiosen Szenen rekombiniert und gesteigert: die vogelartigen Bestien, die Schlangen, Echsen und Drachen, die aus Tier- und Menschenleibern kombinierten Hybrid-Monster, zottige, gehörnte, krallenbewehrte oder behufte, feuerspeiende, heulende und kreischende, kraftstrotzende und mit unverwüstlichem Vernichtungstrieb ausgestattete Ungeheuer bilden den Stab und das Heer Satans. Und überall: die gorgonisch blickenden, wüst behaarten, mit drohenden Zahnreihen besetzten, fletschenden, unförmigen Fratzen der lüsternen Quälfreude, die grausamen Tatzen und reißenden Krallen, die gefräßigen Mäuler auch dort, wo sonst die Genitalien von Mensch oder Tier sitzen.

Wenn man hier die Container/ contained-Theorie auch nur flüchtig zur Anwendung bringt, so haben wir es bei der Hölle mit einem 'Gefäß' zu tun, in welchem die schier unerträgliche Energie eines sadomasochistisch-paranoischen Wahnsystems 'lokalisiert' und 'untergebracht' wird. Hier werden die orale Agression, die Verschlingung und Zerstückelung, die sexuellen Wüstheiten aller nur denkbaren Perversionen kombiniert mit entfesselter Grausamkeit: ein imaginärer Raum, in welchem die fürchterlichsten Elementarängste mobilisiert werden, aber auch: Gestalt und Form finden. Niemals zuvor und danach wurde mit derartiger Intensität das Formenreich der Tierwelt in so rigoroser Weise in den Dienst einer Ästhetik des Horrors gestellt. Eine psychische Wirklichkeit, mit der jahrhundertelang gelebt haben zu müssen, zu den Erbschaften auch der säkularisierten Gesellschaften gehört. Die Hölle, heißt es zurecht, sind die Menschen sich selbst. Doch hat unsere Kultur bis heute mit großartigem medialen Aufwand ein Zwischenreich geschaffen, zu dem die Tiere und Monster ihre Physiognomie hergeben mußten, um zu verbergen, daß aus allen Figurationen und Fratzen des Dämonischen immer nur der Mensch selbst uns anblickt. So sehr die fremdartigen Bilder suggerieren, daß in den Monstern und Dämonen ein Tierhaftes, Unbekanntes, Transhumanes, der Alien also begegnet, so gewiß ist, daß hier ein kulturelle Extremform der Selbstbegegnung vorliegt. Ein Fremder ist sich immer nur der Mensch selbst. Das Monster: Ecce Homo.


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Anmerkung
[1] Die berühmteste Radierung von Meryon "Le Stryge" zeigt eine allerdings erst 1850 angebrachte Steinplastik an der Balustrade des Nordturms. Schwarze Raben flattern über der Stadt. Die Subscriptio, die Meryon unter das Bild setzt, lautet: "Insatiable Vampiur, l'éternelle luxure / Sur la granbde Cité convoite sa pature." Damit ist der steinerne Dämon nicht länger apotropäisch gegen das höllische Unheil gerichtet, sondern stellt umgekehrt die Stadt, in einer eigenartigen Fusion von mittelalterlicher Todsünden-Theologie (luxuria) und dem zeitgenössischen Vampirismus