Hartmut Böhme: Natur und Subjekt. Frankfurt am Main 1988.
II. Subjektgeschichte


Eine Zeit ohne Eigenschaften.

Robert Musil und die Posthistoire

I.

Wir alle kennen den Bestand der Szene: "ein schöner Augusttag des Jahres 1913" [1] , meteorologisch bestimmt; eine Stadt in der Physiognomie futuristischer und kubistischer Bilder; ein dynamisches Feld aus Geräuschen, Bewegungen, optischen Zeichen, Rhythmen, Verdichtungen, Bündelungen, Auflösungen, Serien und Sprüngen, Leerstellen und Häufungspunkten, Energieflüssen und Statiken; und darin plötzlich "eine quer schlagende Bewegung", der berühmte Unfall, eine Synkope in der diffusen Ordnung der Dinge, ein "Loch" ins Bodenlose oder ein aufflackernder Irrsinn; dann die Entsorgung des "verunfallten" Verkehrsteilnehmers durch die "Rettungsgesellschaft", die Schließung der Lücke, das Weiterfließen der augenblickslang unterbrochenen Energieströme. Und die Menschen? "Fußgängerdunkelheit bildete wolkige Schnüre", ein Kraftfahrer "grau wie Packpapier", ein "Mann, der wie tot dalag", ein flanierendes Paar, dessen Identifizierung als Personen versucht und sogleich storniert wird, ein Paar, gesichtslos wie Figuren auf Bildern August Mackes, Skizzen aus sozialen und sprachlichen Stereotypen; selbst die "feinen Unterschiede" (Bourdieu) sind differentielle Effekte des Feldes, nicht der Inkommensurabilität von Personen. Es scheint, "daß sich ein gesetzliches und ordnungsmäßiges Ereignis vollzogen habe". Es scheint so.

Es scheint, daß von den makrokosmischen Verhältnissen der Wetterlage bis zu den mikrologischen Strukturen in der "feinen Unterwäsche des Bewußtseins" ein Gewebe identifizierbarer Kräfte die Szene in Bewegung hält. Menschen und Dinge sind im strukturalen Feld der Fixpunkte und dynamischen Relationen homogenisiert. Der Anthropozentrismus des Erzählens ist aufgehoben, Menschen haben in diesem Kraftfeld keine strategische Position mehr inne, sondern werden wie die Dinge zu Elementen natürlicher und sozialer Systeme. So handelt es sich beim Unfall auch nicht um ein Ereignis im emphatisch subjektiven Sinn, der sich in Erfahrung und symbolisch vergewisserte Bedeutung übersetzt. Wenn Musil im Tagebuch einen ähnlichen Unfall, ein Fahrstuhlunglück, beschreibt, so wird dieser im Verlauf der Geschehnisse "immer mehr ein Stück Ordnung mit ihren technischen und administrativen Begriffen" (T I/772). In dieser Perspektive bleiben die Bedeutungen, die der Unfall für den Verletzten oder Kraftfahrer im lebensgeschichtlichen Kontext hat, so unbeleuchtet wie die erdabgewandte Seite des Mondes. Und auch die, die die Anfangsbuchstaben ihres Namens "bedeutsam" auf die Wäsche gestickt tragen, bleiben namenlos und ohne Identität, empfinden "Unangenehmes in der Herz-Magengrube" oder sondern Sätze aus statistischen Jahrbüchern ab: das ist es, was Benjamin "Erfahrungsarmut" nannte. Bilden sich in den transsubjektiven Feldern der sozialen und natürlichen Vermittlungen überhaupt noch Bedeutungen, die an Erfahrungen geknüpft sind? Und wenn nicht, wie verläßlich ist die "Feldbindung", die an die Stelle intersubjektiver Beziehungen tritt? Wie wirklich ist, mit Ulrich zu fragen, die Wirklichkeit?

Die Wirklichkeit, so könnte vom I. Kapitel her geschlossen werden, gibt es nicht. Analysiert man ihre textuelle Verfassung, so bemerkt man schnell, daß der Text in keinem mimetischen Verhältnis mehr zu irgendeiner Realität steht. Es gibt nur Zeichen Diskurse, Stile, allgemein: das Semiotische - und um dessen Struktur bewegt sich der Text. Der Erzähler montiert meteorologische und alltagssprachliche, statistische und anthropologische wissenschaftlich-technische und soziologische Diskurse und blendet in dieses diskontinuierliche Feld der Diskurse noch ästhetische Wahrnehmungsstile, etwa kubistische oder futuristische hinein. Dadurch entsteht das eigentümtlich Schwebende, Arbiträre, Zwiespältige des Textes. Das rührt daher, daß der Text nicht mehr zentriert ist auf eine ideale Erzählsituation, von der aus die Repräsentation von Wirklichkeit gesichert wäre. Der Text erhält keine beglaubigte Dignität, etwa als Effekt wissenschaftlicher Wahrheit, lebensgeschichtlicher Identität oder ästhetischer Autorität. Der Text ist von Beginn an selbstreferentiell oder metareflexiv in dem Sinn, als er es mit der strukturellen Unsicherheit aufzunehmen versucht, die die moderne Kunst insgesamt auszeichnet: Was sichert überhaupt noch die Erzeugung von sprachlichen Bedeutungen, wenn das Verhältnis von Wort und Ding nicht mehr ein das Ding im Wort Repräsentierendes ist, wenn also ein realistisches Erzählen sich ebenso aufgelöst hat wie in der Wissenschaft das Vertrauen darauf, daß diese es objektiv mit der Wirklichkeit zu tun habe? Womit es dann der Text zu tun hat, das sind nicht Realitäten, sondern Diskurse, nicht Dinge, sondern Zeichen, nicht Erfahrungen, sondern Stile, nicht Ereignisse, sondern Perspektiven - er bewegt sich folglich in einem imaginären Raum, der durch das Repertoire historisch abgelagerter und gegenwärtig eingespielter symbolischer Verständigungsformen und Wissensdiskurse gebildet wird.

Der Unfall ist darum als Geschehen auf der Ebene der Dinge im wörtlichen Sinne "nichtig", weil nicht einmal zu sagen wäre, was denn diese Ebene der Dinge überhaupt sein soll. Der Unfall ist ein diskursives Ereignis, eine Synkope im Fluß der symbolischen Ordnungen, die für einen Augenblick die Bodenlosigkeit der diskursiven Zugriffe aufreißen könnte, wenn irgendein Beobachter ihn derart festhalten würde - nämlich, mit K. H. Bohrer zu sprechen, in der Ästhetik der Plötzlichkeit des Augenblicks, des minimalen Schocks, in welchem das Gewebe der sprachlichen Vermittlungen sich in die Unendlichkeit des Schweigens, des Sprachlosen, der enigmatischen Bedeutungslosigkeit öffnet. Ein solcher Beobachter ist im 1. Kapitel nicht präsent - der Roman wird ihn aber sogleich als den "Mann ohne Eigenschaften" einführen. Noch vor seinem Auftritt arrangiert der Erzähler die diskursiven Dispositive so, daß gänzlich im Zweifel bleibt, ob zwischen Sprache und Wirklichkeit eine feste Brücke besteht, oder nicht vielmehr ein Bruch; ob nicht die Sprecher (wie der Erzähler) sich in den Gehäusen sprachlicher Deutungsmuster bewegen wie Fische im Glas; ob nicht das Erzählen in der Moderne angesichts des Entgleitens der Wirklichkeit selbst nur noch ein gewissermaßen metadiskursives Glasgehäuse sein kann, in welchem die Frage nach dem Sinn unerlöst hin und her bewegt wird; ob nicht das Erzählen ein Warten auf den Sprung, das Klirren und Splittern des Augenblicks ist, in welchem die Eingeschlossenheit in die imaginäre Welt referenzlosen Sprechens aufgesprengt wird; und ob nicht dann vielleicht Dinge und Menschen, Wolken und Leiber in ihrer Namenlosigkeit sprachlos leise zu sprechen beginnen. So gesehen, wäre der Augenblick, in dem "etwas aus der Reihe gesprungen" ist, wäre die Katastrophe das, worauf die Erzählkunst zielt, der Kollaps, die Diskontinuität, das Aussetzen der Ordnungsstrukturen; der Nicht-Unfall wäre dagegen die Katastrophe, daß nichts geschieht bzw. daß "Seinesgleichen geschieht", der infinite Leerlauf der Ordnungen und Sprachen. Darum unterhält der Roman eine anarchische Sympathie für jenen Unfall des Kapitels I, der von den hieran Beteiligten in aller Eile in die Ordnung des Diskurses verscharrt wird. Der Roman hält dagegen eine Treue zum Untreuen, zum Verbrechen, zum Wahnsinn, zur Unterbrechung, zum Unfall, zur Katastrophe bis hin zum Krieg. Ihm gilt die Sprache der Ordnung als totes Sprechen. Ulrich streicht sich zu Beginn als historisch und sozial bestimmtes Subjekt durch, um in die dezentrale Position eines Denkens zu rücken, welches die Zeichen der Katastrophe zu dechiffrieren vermag. Er ist der Experimentator, der die Diskurse wie in einem Unfall zusammenstoßen läßt, um ihrer Zersprengung die verborgene Energie der Dinge und die sprachlose Sprache des mystischen Nu abzulocken. Damit wird er zum Paradigma der Kunst der Moderne, welche eine Kette von Katastrophen erzeugt, um die eine Katastrophe, den Bestand nämlich der Ordnung, zu verhindern. Das I. Kapitel demonstriert dabei, daß die Chancen dafür nicht schlecht zu stehen scheinen - das ändert sich im Laufe des Romans. Die Ordnung der Diskurse ist nicht unverbrüchlich, lückenlos, unerschütterlich. Wer die Diskurse, wie der Erzähler, ins Spiel bringt, steht vor der ebenso überraschenden wie beunruhigenden Tatsache, daß sie sich als eigenartig ordnungslos, porös, instabil, diskontinuierlich, brüchig entlarven. Die Überschrift "Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht" akzentuiert das Ins-Leere-Laufen von Sinnentwürfen, die anscheinend im Wirklichen ihr Wesen treiben und doch von allen Geistern verlassen sind wie Ruinen. So läßt Musil in den Sinn sich das Fragmentarische einnisten, den Zerfall. Wie der Witz die Ordnung der Diskurse unterläuft und blamiert, so treibt der Roman diese in den Unfall. So kennt der Roman keine Treue als die eine zum Verrat. Im Verrat des "Seinesgleichen geschieht" wird das Ereignis gesucht, das nicht etwa die Verhältnisse umwälzt (die Idee der Revolution ist verabschiedet), wohl aber die Diskurse zerbricht. Mehr will Literatur als Kritik symbolischer Ordnungen und als Arbeit an einer Sprache "wie am sechsten Schöpfungstag" nicht. An den Bruchstellen der Ordnungsdiskurse, ihren Sprüngen und Rissen läßt die Literatur die Sinnformationen und Sprachluster der kommunikativen Maschine verunglücken. Nur im ersten Ansehen zeigt darum das Kapitel I das Funktionieren der Ordnung gerade im Unfall. Das Kapitel als ganzes ist selbst der Unfall, den es darstellt. Es ist die Subversion der Ordnung, der Absturz in das "Rätsel", wer wir denn sind, und in die "Tiefe des Loches". das im Augenblick des Zerreißens sich öffnet. Es eröffnet den Roman mit einer Paradoxie: ist jeder Anfang des Erzählens auf einen Sinn bezogen, so ist der Anfang dieses Anfangs ein dekonstruierendes Spiel mit den Konstruktionen des Sinns.

II.

Ich breche hier ab, um durch einen Umweg über die Fragen der Musil-Auslegung an Strukturen der Postmoderne heranzukommen und damit auf den Zusammenhang und die Differenz, die zwischen dem Mann ohne Eigenschaften und unserer Gegenwart bestehen. Ich überspringe dabei viele Ansätze der Musilphilologie und gehe von Fragen aus, die vom gegenwärtigen, als postmodern bezeichneten Stand der Theorieentwicklung bestimmt sind.

Von Arnold Gehlen [2] ist die Kategorie der "Posthistoire" in die deutsche Diskussion eingeführt worden. Sie bezeichnet, wenig empiriehaltig, bestimmte abstrakte Strukturen mindestens der Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Institutionen, die den Handlungszusammenhang einer Gesellschaft in ihrem Verhältnis zu Natur, Triebbasis und Zusammenleben der Menschen obligatorisch regeln, zeigen einen eigentümlichen Widerspruch: durch die Effektuierung und Rationalisierung sind sie von äußerster Stabilität und Einheitlichkeit, befinden sich aber aufgrund der eingetretenen Aushöhlung der "ideativen" Funktionen im unaufhaltsamen Niedergang. Diesen Zustand der Institutionen bezeichnet Gehlen als "Kristallisation" -: stabile, transparente und rationale "Zwischenwelten", die gleichzeitig starr, tot und dennoch den Individuen gegenüber von unausweichlicher Macht sind. Geschichte ist am Ende. Das erinnert an das "eherne Gehäuse", womit Max Weber metaphorisch die modernen Industrienationen bezeichnete. Der Zusammenhang zu Musil ist deutlich: seine Metaphern von der "erkaltenden Muschel Stadt" (152), dem "erkaltenden Mond aus Erde, Häusern, Sitten, Bildern und Büchern" (131/32) stehen für zahllose Stellen, an denen Musil den institutionellen Handlungszusammenhang unter den Titel eines Gesetzes der "Verfestigung" bringt, die der Rationalisierung irreversibel innewohnt. Das Dynamische an Geschichte annihiliert sich im Starrwerden der Impulse und der Versteinerung der Verhältnisse. Bei Gehlen funktioniert die mediale Zwischenwelt der Institutionen für die Individuen als Entlastung - Niklas Luhmann würde sagen: als Reduktion von Komplexität -; sie erfüllen also ihre Funktion. [3] Jedoch hat dies einen hohen, für Gehlen selbstverständlichen Preis. Subjektivität nämlich ist nichtig. Menschen sind unausweichlich Funktionäre der institutionell geregelten Handlungsvollzüge, als Individuen also disfunktional. Dieses Ortloswerden des Subjektiven hat freilich zwangsläufig ein Wildwerden der Subjektivität gerade aufgrund der Rationalisierung zur Folge - wofür freilich Gehlen sich gar nicht, Musil dafür um so mehr interessiert. Bei Musil sind exzellente Analysen zahllos, in denen in soziologischer, psychologischer, funktionalistischer Perspektive die Aura der Personhaftigkeit destruiert wird. Die erzwungene Abdankung des Menschen als "Souverän" seines Handelns, die Auflösung des "anthropozentrischen Verhaltens" (150) vollendet sich in der Konzeption der "Welt aus Eigenschaften ohne Mann" in nicht geringerer Rigorosität als bei Gehlen - weit über jene Entsubjektivierung des Ich hinaus, die Ernst Mach in seiner sich selbst mißverstehenden Empfindungslehre vorgelegt hatte. Was Musil demgegenüber beobachtet, ist ein unbeabsichtigter Effekt dessen, was Gehlen den Niedergang der ideativen, sagen wir: sinnkonstitutiven Funktionen der Institutionen nennt: nämlich das Flattern und Flottieren, Irrlichtern und Flirren, Aufliegen und Abstürzen, sich rauschhaft Steigern und das abrupte Zerstückeln des Individuums - als Reaktion auf die blockhafte Stabilität der übermächtigen Institutionen. Die Schließung der Gesellschaft gegen subjektive Antriebe und Phantasien dissoziiert diese, läßt diese herumwirbeln, hinunterwürgen oder sich zu wahnhaften Obsessionen verdichten - wie bei Clarisse, Moosbrugger oder dem Arbeiter in der Begegnung mit der Staatsmaschine. Sie verrücken sich in einen imaginären Raum, der, weil er ein Effekt der Ausgrenzung ist keine Vermittlung und Rückkopplung zu der gegebenen Realität erlaubt. Musil macht gewissermaßen die Gegenrechnung zu Gehlens Institutionenlehre auf: die Erfahrung des Abprallens der von Gehlen sogenannten "Fakteninnenwelt" an den rationalisierten Institutionen produziert erst jene Wildheit, archaischen Durchbrüche (Unfälle), die Gewaltexzesse, die obsessiven Phantasien und die "Menschenfresserei" als Modalitäten der subjektiven Abseiten. Kristallisiert die Gesellschaft im Kältetod, so schlagen aus den Subjekten die Flammen. Ulrich wird denn auch von Figuren der unfreiwilligen Selbstverbrennung umgeben. damit sein Programm Profil erhält. Er will "sein Feuer, den winzigen Glutkern nicht abgeben" (153), aber auch nicht in Flammen aufgehen. Er ist, was alle sind, Mann ohne Eigenschaften; jedoch entschieden und mit äußerstem Bewußtsein, um der Gewalt der Ausgrenzung nicht durch Ver-rückung (Clarisse) oder Zer-stückelung (Moosbrugger) antworten zu müssen, wenn diese Ausgrenzung nur als Zwangsvollstreckung erlitten und im chaotischen Wirbel abgewehrt werden kann. Ulrich vollzieht die Ausgrenzung, die generell herrscht, an sich selbst - das ist der Sinn des "Urlaubs vom Leben" -, um die Folgen dieser Nichtigkeitserklärung des Subjektiven kontrollieren zu können; doch auch um Alternativen zur Hölle der Normalität zu suchen, Subjektformen, die nicht zwangsläufig in Selbstdestruktion, Verbrechen, Wahnsinn, Ideenflucht, Perversion, Paranoia enden - alles Reaktionen, die Musil exemplarisch vorführt.

III .

Nimmt man derart den Roman in Gehlenscher Perspektive wahr, liegt, vielleicht überraschend, eine poststrukturalistische Konsequenz nahe: die Strategie der Macht und die Taktik der Subversion. Subversion, so listig widerständig oder partisanenhaft sie sein mag, resultiert aus der Preisgabe der Revolution und der Anerkennung der Macht. Nimmt man den Klassiker des Poststrukturalismus, Michel Foucault [4] zum Ausgang, so ergeben sich die Bezüge zu Musil aus der Vernunftkritik und der Verabschiedung der subjektzentrierten Bewußtseinsphilosophie. Die Philosophie Nietzsches bildet dabei für Musil wie Foucault die Fluchtlinie, in der die Analyse der Macht sich zu einem Begräbnis der Aufklärung wandelt. Darum muß an die Stelle eines evolutionistisch gedachten Fortschritts die Taktik des Partisanen oder des intellektuellen Nomaden treten, der die herrschenden Diskursformationen zu sprengen sucht. Foucault zeigt in seinen historischen Untersuchungen (zum Wahnsinn, zur Delinquenz, zur Klinik, zur Sexualität) nicht nur inhaltliche Parallelen zu Musil, sondern auch verwandte Strategien.

Wissenschaftliche Diskurse werden nicht rekonstruiert als evolutionäre Ausdifferenzierung zunehmend rationalerer Geltungsansprüche, also wahrheitsgeschichtlich. Sondern Diskurse sind für Foucault Ereignisse auf der Bühne der Macht, gesättigt von Energien, die das Wissen mit dem Willen zur Macht verschmelzen. Auflklärung legitimierte sich als Kritik, insofern sie die kontingenten Impulse des Willens systematisch von Wissen und Wahrheit trennte und das Ideal der ausstehenden, von der Seuche des opaken Willens gereinigten Wahrheit gegen die vor der Instanz der reinen Vernunft blamierten Legierungen von Macht und Wissen ausspielte. Im Gefolge Nietzsches rechnet Foucault mit kalter Lust der Aufklärung jedoch vor, daß ihre Revolutionen des Wissens auf einer ungleich komplexeren Ebene, als sie je in der Vormoderne erreicht war, zu einer Raffinierung der Machttechnologien führen. Die philosophische und wissenschaftliche Auszeichnung des Vernunftsubjekts wird mit der Ausgrenzung und Durchdringung des Anderen der Vernunft, des Abweichenden und Wahnhaften, des Phantastischen und Perversen identifiziert. Vernunft, die ihre ersten Triumphe in der Physik des Himmels feierte, vollendet sich als Mikrophysik der Macht, worin die Wirrheiten subjektiver Impulse und sozialer Peripherien zu Aufführungsorten des zu infinitesimaler Feinheit und geometrischer Transparenz gesteigerten "Willens zum Wissen" werden. Hatte Aufklärung aber nie eine andere Evidenz als das machtfreie, darum versöhnungsfähige Argument, so muß der Nachweis der strategischen, nicht nur historischen Verwebung von Vernunft und Macht in der Destruktion des Programms der Aufklärung terminieren.

Bei Musil entspricht solcher Auffassung das, was er unter die Metapher des "Baums der Gewalt" (591 ff.) subsumiert: die harte, lückenlos logische, messerscharfe, auf Überwindung und Beherrschung zielende, unbewegte, kalte, nüchterne, böse, kriegerische, steinerne, sich zur Omnipotenz aufspreizende, gefühlsneutralisierende Rationalität. Diese herrscht bei Musil als ubiquitärer "Geist des Kapitalismus", in der Logik des Erpressers wie des Bankiers, des Wissenschaftlers wie Ingenieurs, in den Verwaltungsapparaten und Organisationen, im Staat wie schließlich auch in der inneren Polizei des Individuums. Wie Foucault verfolgt Musil in mikrologischen Feinanalysen die Verästelungen der die Körper und Institutionen vernetzenden Macht. Der betrunkene Arbeiter zappelt ebenso an den "hervorstehenden Ausläufern des eisernen Hebelwerks Staat" (156), wie Moosbrugger die Mechanismen der psychiatrischen und juridischen Wissenschaften wie einen "langen Strick um den Hals" empfindet und nicht sehen kann, "wer daran zieht" (533). Wie bei Gehlen, so bildet auch bei Foucault und Musil die Rationalität die historische Endstufe institutionalisierter Macht, neben der das Individuum von "kolloidaler Substanz", also "gestaltlos" ist, wie Musil sagt, ein "Gas", ein "haltloser Nebel", der seinen "Augenblick des Seins" zwischen "Zerpreßtwerden und Zerfliegen" (131/32) findet. Rationalität in der Gestalt der Wissenschaft und der durchorganisierten Institution, der Wahrheitsdiskurse und moralischen Zwangssysteme diese Rationalität funktioniert subjektlos, so daß weder Gehlen noch Foucault noch Musil einen Anlaß haben, dem Subjekt einen Ort im Diskurs oder in den gesellschaftlichen Apparaten einzuräumen. Als Idealfolie ihres Begriffs von Macht kann Musils Entwurf einer "überamerikanischen Stadt" (31/32) angesehen werden, der weit genug reicht, um das Foucaultsche Panopticum der rationalen Kontrollmechanismen ebenso abzudecken wie den konservativen Gehlenschen Entwurf der Gesellschaft als "Kristallisation", die Architekturen des Archipels Gulag wie der zerebralen Metropole Brasilia. Das Phantasma der Macht ist die Herstellung der Posthistoire, die Erzeugung dessen, was man den lebendigen Tod nennen kann: die Verbindung von höchster Effizienz mit absoluter Entwicklungslosigkeit, die Verräumlichung der Zeit zum Tableau, höchste Beweglichkeit auf der Stelle, Weltrekorde der Leistung durch Phantome.

Foucault kennt gegenüber dieser kristallinen Geometrie der Macht keine Gegenstrategie mehr. Was ihm bleibt, ist das, was die Struktur des I. Buches des Mann ohne Eigenschaften ausmacht: das Spiel der Diskurse und Aktionen mitspielen, doch es analytisch auf die Spitze treiben; die Desubjektivierung, die sich an den Menschen vollstreckt, in Taktik verwandeln: nicht identifizierbar sein, untertauchen im "Seinesgleichen geschieht" wie ein Partisan der Alterität; leben wie die Figur in einem Buch, sich also zur Fiktion machen, zur Simulation, zum Phantom werden; sich preisgeben und darin der Verhaftung zuvorkommen; die Eigenschaftslosigkeit zum Programm erheben, beweglich anschmiegsam und ironisch negierend zugleich sein; das Wissen versammeln, aber keine Überzeugung aufführen; Spuren in der Wirklichkeit hinterlassen, doch das Niemandsland der Reflexion abschirmen Nomade werden in den Überbauten und Hinterwelten der Diskurse; keine Ansicht haben, sondern viele Perspektiven; nicht kämpfen, doch aufs äußerste trainiert sein; den Spektakeln des Begehrens folgen, aber die Abneigung dagegen nicht verraten; die Raffinements der Diskurse gegen diese selbst wenden- im Schatten bleiben, gegen sich selbst leben und sich selbst nicht lieben- kalt sein und von konzentrierter Aggressivität; ein Gespür für die Anzeichen von Rissen und Porosität in den Gebäuden der Wahrheit entwickeln - das ist das Dispositiv eines Mannes ohne Eigenschaften, der sich das Arsenal subversiver, satirischer, ironischer und ideologiekritischer Taktiken erhält, ohne Alternativen zu haben und ohne sich zwischen Affirmation und Negation zu entscheiden. Freilich und das unterscheidet Foucault, der sich von aller Positivität als bloßer Sinnillusion verabschiedet, von Musil -, daß dieser subversiver Vernunft- und Sinnkritiker ist in der nie aufgegebenen Hoffnung, daß es das Glück, die Liebe, den erfüllten Augenblick, das Leben des Lebens gibt. Hat bei Foucault die Vernunftkritik die äußerste Grenze erreicht, noch abstinent gegenüber der Utopie zu bleiben, weil diese selbst eine Figur der Macht sei, so wird bei Musil die Vernunftkritik radikal, weil er Utopist bleibt.

IV.

Am preiswertesten sind die Parallelen zu Jean Baudrillard [5] zu haben. Er überholt die Marxsche Wertanalyse und Verdinglichungstheorie durch die Radikalisierung dessen, was bei Marx den Schein bildet: der Fetischcharakter der Ware, ihr vexierender Charakter als "sinnlich-unsinnlich Ding" mit seinen "theologischen Mukken" (Marx) wird zum Nonplusultra der Wirklichkeit, d. h. es gibt keine Wirklichkeit mehr als die der Simulacren. In der linkshegelianischen Variante der subjektzentrierten Bewußtseinsphilosophie herrschte ungeschmälert die Annahme der Sinneinheit von Geschichte; diese erlaubte, in der praxisbezogenen Perspektive Marxens, die Unterscheidung von Wesen und Erscheinung, damit die Sonderung von Ideologie und Wahrheit sowie die Rekonstruktion der Geschichte als Prozeß der Subjektwerdung der Menschengattung, worin sich schrittweise die Aneignung von Natur die Emanzipation von Herrschaft und das strukturelle Reflexivwerden des Wissens durchsetzt. Unverkennbar ist dies, wie Habermas immer wieder gezeigt hat, als höhere Stufe der Aufklärung und des "Projekts der Moderne" zu verstehen. Die scheinbar totale Blamage des Marxismus in den pervertierten Gestalten seiner Realisierung ebenso wie die scheinbar unbegrenzte Fähigkeit des Kapitalismus zur Absorption von systemimmanenten Widersprüchen lenkt den postmodernen Blick weg von den klassischen Begriffsinventarien hin auf die phantasmagorische Seite der hochentwickelten Gesellschaften. Vielleicht darf man sagen, daß das Basis-Überschau-Schema sich in der Weise umkehrt, daß die imaginative und theatralische Potenz des Überbaus die Basis penetriert hat. Lebendige Arbeit, Wertproduktion, soziale Zusammenhänge, Subjektformationen werden zu beliebig austauschbaren Aufführungsorten permutativer Simulationen, die in ihrer rasenden Entfesselung nur eines noch enthalten: die Sinnlosigkeit und das Leben als aufgeschobenen Tod. Alles ist Oberfläche, bebende Haut ohne das tragende Skelett des Sinns; referenzlose Zitate eines Sinns, der sich längst der "Furie des Verschwindens" (Hegel) prostituiert hat. Die subversive Gegenstrategie Baudrillards ist eine Strategie des Todes. Erhält sich das endlose Band der Simulationen, das nur scheinbar ein Pulsieren der Zeit, in Wahrheit aber ein emblematisches Tableau des Todes ist, nur dadurch, daß wir gegen den sofortigen Tod ein totgeborenes Leben eintauschen (ohne dies zu bemerken), so wäre die Kontraindikation dieser "fatalen Strategien", das System mit dem absolut entäußerten Leben, mit dem Opfertod, dem Selbstmord, dem terroristischen vabanque zu injizieren. Darin, so glaubt Baudrillard, wird der Tod als Umschlagplatz der Sinn-Simulationen durch die finale Inszenierung des leergeräumten eigenen Lebens so ausgehebelt, daß das System kollabiere.

Es geht hier nicht um die Beurteilung dieser allerneuesten Robe aus der postmodernen Haute-Couture. Sondern darum, daß in ihrer Perspektive diejenigen Momente, die dem ideologiekritischen Verfahren nach 68 als Phänomenalismus und Vernachlässigung der Kategorie Arbeit zum Opfer fielen, durch eine Volte des Zeitgeistes zum allermodernsten werden.

Bei Musil hat, wie bei Baudrillard, das Paradigma der lebendigen Arbeit, von dem aus die Moderne die Geschichte rekonstruierte, ausgedient. Daran ist vieles wahr, wie wir heute angesichts der Dezentrierung des Menschen in der dritten Industriellen Revolution erkennen. Auch Habermas erkennt in der Krise des Paradigmas Arbeit den Grund, warum man die Postmoderne von der Moderne trennen kann, ohne daß er jedoch die Konsequenzen der Poststrukturalisten teilte. Bei Musil führt die Verarbeitung des Ersten Weltkriegs, an dem neben dem Kollaps traditioneller Kultur auch der destruktive Charakter der Arbeit ins Bewußtsein trat zur Aufgabe dialektischen Denkens. Nimmt man das Begriffspaar "Wesen und Erscheinung" dafür zum Beispiel, so kann man sagen daß, von Platons Ideenlehre bis zur Marxschen Wertanalyse, der Vordergrund der wechselnden Erscheinungen immer als Schauplatz wesenhafter Bedeutungen, die in jenen verhüllt zur Aufführung kommen, verstanden wurde. Bei Musil nun sind die Phänomene die letzte Wirklichkeit. Die Eigenschaften der Dinge sind nicht Akzidentien einer Substanz; in den Ketten der Signifikanten zirkuliert kein Signifikat; in den Rollen stellt sich keine Identität dar; in den Dramen der Geschichte drückt sich kein historischer Sinn aus.Das "Theorem der menschlichen Gestaltlosigkeit", das an die Stelle einer arbeitszentrierten Gattungstheorie tritt, bestimmt nicht allein den Menschen, sondern auch die sozialen Situationen als leere Fläche, auf denen sich Zeichen eintragen, Attitüden, Szenen, Rollen, Schemata des Handelns sich wieder löschen, anderen Zeichen Platz machen, ohne daß Erfahrung und Erinnerung zu einem Text sich kumulieren würden. Das Leben wird zur Bühne pulsierender Zeichenoperationen, in denen kein Sinn, kein Zusammenhang, keine Einheit sich darstellt, die also anomisch sind So wird im Mann ohne Eigenschaften alles zum Simulacrum, zum Schatten, zum Zitat, zum sinnentleerten Schauplatz, auf dem mal die "Kritik der reinen Vernunft", mal "Menschenfresserei" gegeben wird. Clarisse simuliert Nietzsche oder Jesus; Diotima simuliert die gebildete Salondame; Moosbrugger ist die Simulation der "Gedankenmorde" und "Phantasieschändungen" der Normalbürger (653); Arnheim simuliert den Reichtum als Charaktereigenschaft, ohne die er ein "Nichts" (419) ist; Leona zitiert für Ulrich "alte Photographien oder. . . schöne Frauen in verschollenen Jahrgängen deutscher Familienblätter" und wird, während sie gleichzeitig gravitätische Essenszeremonien aufführt, zur "Leiche fruherer Gelüste in der großen Wesenslosigkeit des Liebesbetriebs" (22). Die Mode ist das Paradigma dafür, daß der Mensch nicht Subjekt seines Körpers, sondern die Leerstelle ist, auf die sich die semiotische Haut der Kleider stülpt. Diese bilden den phantomatischen Leib des Menschen, der nicht ihnen, sondern den sinnlosen Simulationen von Moden, Stilen, Attitüden, Ausdrücken, Reizen angehört. Gegen die Körpersimulationen die Authentizität des Leibes auszuspielen, ist sinnlos. Denn im "eigentlichen" Körper trifft man, wie im Subjekt überhaupt, nichts Authentisches, sondern "Reize und Reflexbahnen, Einbahnung von Gewohnheiten und Geschicklichkeiten, Wiederholung, Fixierung, Einschleifung, Serie, Monotonie!" (378) "Man ist" wechselt . . . ebenso schnell wie "Man trägt"" (453), und dieser Wechsel ist auf keine Sinnentwicklung beziehbar. Die kolloidale, gestaltlose Struktur des Menschen kann eine andere Form als die der semiotischen Codierung nicht haben, mit Musil zu sprechen: die "Persönlichkeit (wird) bald nicht mehr als ein imaginärer Treffpunkt des Unpersönlichen" (474) sein.

Ist der Mensch die weiße Einschreibungsfläche signifikatorischer Akte, die ihrerseits Elemente eines "Barocks der Leere" (265) sind, so sind auch das Handlungsgefüge und die Geschichte nicht länger Erscheinungen einer Sinnschrift, sondern planlos-hektische Inszenierungen, deren Redseligkeit das Schweigen des Todes und des Nichts verdrängen sollen. Die Geschichte entsteht aus der Schwäche des Menschen, daß er keinen Sinn hat (1235). "Ich bin nur zufällig, feixte die Notwendigkeit" (128). "Zeiten und Jahrhunderte stehen mit aufgestemmten Beinen da, aber eine Stimme flüstert hinter ihnen: Unsinn! Noch nie hat die Stunde geschlagen, ist die Zeit gekommen!" (1128) Die stolze Geschichte in ihren Gesten aufgespreizten Sinns: sie ist "eine zur Steinkette gewordene Wankelmütigkeit" (1127). Wenn von hier ausgehend Ulrich die Geschichte als Leerlauf von Theaterstücken beschreibt, die sich gegenseitig zitieren, als wirre Textfolge ohne Autoren (360/ 61), so hat er den Schlüssel dafür gefunden, die Parallelaktion und Kakanien insgesamt als Schrift ohne Sinn, als leerlaufende Zeichenproduktion, als theatralische Veranstaltung und Simulation zu entziffern. Kakanien "als besonders deutlicher Fall der modernen Welt" (A 1577) ist das Land "der unzureichenden Gründe der eigenen Existenz" (635)- In Kakanien ist die Simulation zum allgemeinen Staatsprinzip erhoben, bei dem es allein noch um die Erzeugung von Zitaten, Zeichen, Szenen geht.

Musil hat dies als Form irreversiblen Sinnverfalls in der Moderne reflektiert. Das Kapitel "Die Entthronung der Ideokratie" schildert, daß der "Geist" als Zentrum der Sinnproduktionen "an die Peripherie" (408) gerutscht ist. An seine Stelle rückt die "Allegorie" (407). War die barocke Allegorie, wie Benjamin gezeigt hat, als die endlose Versenkung in den Abgrund der Bedeutungen bereits von der Melancholie geprägt, daß die den Dingen angeheftete Signatur einer unaufhaltsamen Mortifikation unterliegt, so war doch diese Mortifikation als Peripetie des metaphysischen Spektakels auf dem tbeatrum mundi dramaturgisch bestimmt. Die Allegorie der Moderne bei Musil bedeutet dagegen, daß der Prozeß der Signifikation an keinem Signifikanten mehr Halt findet, sondern diese in einem endlosen Taumel von Auftauchen und Abbrauchen kreiseln. Die sozial erzeugten Bedeutungen bilden eine "ungeheure Oberfläche, die aus Ein- und Ausdrücken, Gebärden, Gehaben und Erlebnissen besteht. Im einzelnen und Äußeren sehr gestaltet, gleicht dieses Geschehen einem lebhaft kreisenden Körper, wo alles an die Oberfläche drängt und sich dort untereinander verbindet, während das Innere ungestalt, wallend und drängend zurückbleibt." (408) Eben dies meint Musil mit Allegorisierung die für ihn zur melancholischen Stilfigur sinnlos produktiver Signifikationen und Simulacren wird.

Anders als bei Benjamin, der später an Baudelaire die Allegorie als Figur des abstrakten Wertgesetzes entwickelt hat, ist bei Musil das allegorische Tableau seines Romans die Signatur endgültig stillgestellter bzw. sinnlos kreisender Geschichte. Allegorie ist die Stilform der sinnverlassenen Welt, die die schweigende Sprache des Todes, welcher Ausgangszentrum und Telos der Geschichte zugleich ist, im "anfeuernden Geschnatter" ihrer Zeichenproduktionen übertönt: "um die Zeit totzuschlagen, weil eine dunkle Gewißheit mahnt, daß endlich sie uns totschlagen wird" - ""Was ist", so fragt Ulrich vor dem allegorischen Taumel der Geschichte "was ist alles das andres als die Unruhe eines Mannes, der sich bis zu den Knien aus einem Grab herausschaufelt, dem er doch niemals entrinnen wird, eines Wesens, das niemals ganz dem Nichts entsteigt, sich angstvoll in Gestalten wirft, aber an irgendeiner geheimen Stelle, die es selbst kaum ahnt, hinfällig und Nichts ist?" (1745)

Diese Beendigung des geschichtlichen Sinns ist zweifellos der Punkt, worin Musil den postmodernen Zeitgeist am nachhaltigsten affiziert. [6] Es scheint, als habe Kakanien uns endgültig eingeholt. Einzig der Grad an Hektik und Anomie unterscheidet unsere Kultur von der Kakaniens. Das drückt sich im Fehlen irgendeiner Stildominanz, Problemkontinuität oder richtungweisenden Originalität aus - ohne daß die Produktionsapparate kultureller Symbole auch nur eine Sekunde ins Stocken gerieten. Im Gegenteil. Dies ist die Stunde postmoderner Modisten. Der allgemeine Verzicht auf Botschaft oder Sinn wirkt produktionsstimulierend. Im fröhlichen Zynismus ist alles möglich. Wie in seinen Phantasien seiner Hauseinrichtung dem Geist Ulrichs sich "alle Stile, von de Assyrern bis zum Kubismus" (19) anbieten, so herrscht heute neohistoristischer Stilpluralismus, ein Zitaten-Wirrwarr, ein Elektizismus, der distanzlos und gleich weit zu allem, von Altägypten bis zur elektronischen Bildanimation, von der unterkühlte New-Wave-Ästhetik bis zur Ornamentik der postmodernen Architektur, von neokonservativen Salonphilosophien aus Paris bis zum Warschauer Ghetto als Show-Revue in Berlin und Hamburg alles erlaubt und ermöglicht. Die Kultur ist der Taumel durchs musee imaginaire aller Zeiten und Räume. Und in einer solchen Zeit beerdigter Verbindlichkeiten kommt es nur darauf an, in der ständigen "Renoviersucht des Daseins" (132) sich geistesgegenwärtig zu halten. Aus sämtlichen Stilen und Ausdrucksgesten der Geschichte sowie den neuesten Möglichkeiten massenmedialer Zeichenproduktion wird eine augenblickliche "Technik des Seins" collagiert, auf die sich "wie die Spatzen von den Dächern, wenn man Futter hinstreut, die jungen Seelen" (131) stürzen können. Freilich geschieht dabei etwas, was die Postmoderne von Musil unüberbrückbar trennt.

Bezeichnet der Zitat- und Simulationscharakter der gegenwärtigen Kultur - das Ende der Avantgarde-Funktion der modernen Kunst, wovon Musil zweifelsohne bereits eine Ahnung besaß, so insistiert dieser doch auf einem ehernen Prinzip der Moderne Diese bewegte sich selbst beim rasanten Wechsel der Ismen innerhalb einer Kontinuität, nämlich der Unhintergehbarkeit der Revolutionen. Sie alle bezogen sich auf einen Fortschritt in der Eroberung neuer Stoffe und Materialien bzw. der radikalen Ausschöpfung der ästhetisch-technischen Mittel. In diesem Fortschritt hätte Musil auch sein eigenes OEuvre eingereiht. Der Widerstand der Ästhetik gegen die Verdinglichungen des Spätkapitalismus drückte sich auch dort aus, wo das Kunstwerk nicht inhaltlich, wohl aber in der Immanenz seiner Formstrukturen und der "zwecklosen Zweckhaftigkeit" (Kant) sich gegen seine rückstandslose Vernutzung abdichtete. Heute dagegen scheint es keine Avantgarde mehr zu geben, sondern nur noch den Stoffhunger der Medienapparate. Der freie Autor oder Künstler, so wußte schonusil, ist eine antiquierte Illusion. Gefragt ist der "Großschriftsteller", der selbst ein Simulacrum des Kulturmarktes ist, oder der Komparse der Schrift als Anhängsel der Medien. Die Kulturgeschichte ist nicht mehr Ort der Erfahrung und kritischen Selbstbefragung der Gegenwart, sondern eine Requisitenkammer medialer Aneignungen ohne Geltungsansprüche. Der Geist ist nicht der Musilsche "Jenachdem-Macher" in der fluktuierenden Beweglichkeit der Subversion, sondern der Alles-Macher in Anpassung an die Imperative der kulturproduzierenden Apparate. Noch scheint sich in den gegenwärtigen Spektakeln der Kultur die sprachlose Trauer über den letzten Rest von Produktionsautonomie zu verbergen, die die Bedingung von Kritik, ästhetischer Erfahrung, Verarbeitung des Leidens und neuen Lebensentwürfen darstellte. Postmoderne entspringt der blamierten Moderne und damit der verdrängten Trauer, daß die Innovationspotentiale der Moderne durch die sinnleere Dynamik der Medientechnologien endgültig liquidiert scheint. Dies aber stellt einen Bruch zu Musil dar, der gegen diese, zu seiner Zeit schon absehbare Tendenz sein Schreiben richtete, vielleicht vergeblich.

So gilt es am Ende, unter Bezugnahme auf einen anderen Vordenker der Postmoderne, Georges Bataille, die insistierende, bittere und stolze Geste Musils festzuhalten, mit der er versuchte, die Sinnentzüge der Moderne in deren Katastrophe umzuwandeln, um eben ihr, der Katastrophe, den mystischen Funken zu entlocken.

V.

Das Durchdenken der Wirklichkeit als kristallisierte Institution, als Verfassung der Macht und schließlich als sinnleeres Tableau von Simulationen terminiert am Ende des I. Buches im Satz: "man muß sich wieder der Unwirklichkeit bemächtigen; die Wirklichkeit hat keinen Sinn mehr!" (575) Im folgenden geht es um den "anderen Zustand" als den Zustand des Anderen der Vernunft. Ulrich weiß davon wenig, Erfahrungen hat er kaum (die Frau-Major-Episode, 120ff., einige Inversionserlebnisse, 631, 663f. u. ä.). Sein Begriff von Kunst deutet das Risiko an, das ihn erwartet: Kunst sollte "ein unsagbar rücksichtsloser und grausamerer Umsturz sein, als es je eine politische Revolution gewesen ist!"(367) Das Programm des "anderen Zustands" folgt der Nietzscheanischen Linie, "den ursprünglichen Zustand des Lebens" (574) wiederherzustellen. Dieser zeigt sich Ulrich zunächst in der Struktur des Ästhetischen als "ursprünglicher Lebenszustand des Gleichnisses" (582) -: gegenüber der Vergitterung der Welt in der Eindeutigkeit des Begriffs meint das eine Gestalt des Wirklichen in der Form der Metapher, der Metonymie, der Analogie, der Nachbar- und Verwandtschaft der Dinge, der sympathischen Partizipation als Struktur des Handelns nicht nur, sondern des Seins. Was Ulrich vorschwebt, wird seit Herder als Konzept der poetischen Sprache gesucht.

Es geht um die Frage, ob gegenüber den ausgrenzenden oder komprehensiven Strategien des abgewirtschafteten Subjektivismus, der vom Kosmos bis zu den Verästelungen der Gefühle alles reifiziert, ein Anderes möglich ist. Gibt es zwischen den überlieferten Gestalten der Vernunft und dem "schatten- und traumhaften... anderen Baum", der sich rhizomartig verzweigt und nur noch an "Zeichen" (592) zu erkennen ist, eine Form der Vermittlung oder Versöhnung, die in der Figur dialektischer Aufhebung denkbar wäre? Wäre Vernunftkritik ein Moment der sich selbst kritisierenden Vernunft, die dadurch dem Anderen nicht länger imperativ, sondern anerkennend begegnen könnte? Dies wäre die Habermassche Linie des philosophischen Diskurses der Moderne; vorwegnehmend ist zu sagen, daß Musil zu ihr nicht gehört. Das Andere der Vernunft widersetzt sich bei ihm prinzipiell der Aneignung durch Philosophie.

Nach den diskursiven "Unfällen", die Ulrich im I. Buch inszeniert, geht es nun, in der Begegnung mit Agathe, auch um reale Subversionen: Ehebruch, Verbrechen, Inzest - und damit um die Überschreitung des Normengefüges, auf dem die Familien- und Eigentumsordnung der europäischen Gesellschaften beruht. Agathe ist der "zum Aufruhr geborene Mensch" (859). Von der "Gesetzlosigkeit ihres Wesens" (746) strahlt eine elementare Faszination auf die nüchterne, vorsichtig beobachtende, wissenschaftlich disziplinierte Rationalität aus, die Ulrich aufrechtzuerhalten sucht (753, 874 u. ö.). Diese Angst ist wohl auch eine des Autors. Musil will die transgressive Radikalität der Novellen Vereinigungen (1911) mit ihren den Autor fast tötenden Wirkungen nicht wiederholen. Diese Angst also ist die Hemmung vor den subjektauflösenden Effekten, die unausweichlich in den subversiven Ekstasen des Anderen aufbrechen. Musil möchte, das ist zunächst sein Programm, die Vernunft und ihr Anderes, "Rationalität und Mystik" (770), dialektisch aufheben - und daß dies scheitert, und damit der Roman, bezeugt die ästhetische Widerständigkeit, vielleicht sogar ontologische Exterritorialität des "anderen Zustands".

Aus der Lebensfeindlichkeit der Subjektphilosophie hatte Nietzsche nur einen Ausweg gesehen: den dionysischen Rausch, die orgiastische Entgrenzung des Subjekts. In Nietzsches Nachfolge stehen sowohl Musil wie Georges Bataille [7] , der etwa zeitgleich seine Theorie des Heterogenen, der Souveränität, des Heiligen und des Eros, der Verausgabung und Verschwendung zu entwickeln beginnt. In den Ritualen des Opfers entziffert Bataille die Ursprungsfigur einer Überschreitung. In ihr findet der Mensch, der in der homogenisierten Welt der Arbeit und im Zwang zur Individuation verdinglicht wurde, in die archaische Intimität mit Natur zurück - in der zerreißenden Ambivalenz des Faszinosums und Tremendums, die ebenso in der Begegnung mit dem Heiligen wie in der Erfahrung des Erotischen widerfährt. In Scheu und Abscheu, Ekel und Gier, Verlockung und Andacht, Entäußerung und Verausgabung, in der Verschwisterung von Eros und Tod lösen sich die Spastiken der subjektzentrierten Vernunft und gehen in der unwiderstehlichen Entfesselung des Exzesses und der befreienden Preisgabe des Selbst unter. Fragmentierung und Zerstückelung des Homogenen, Vermischung und Legierung des Heterogenen, Wiederholung des Verfemten und Tabuierten stehen im Dienst der Befreiung der verlorenen Souveränität des Menschen aus der zur "zweiten Natur" gewordenen Verdinglichung alles Lebendigen.

Es geht also nicht nur um Ästhetik. Und nicht um den gezähmten Anschluß Musils ans Programm Neuer Mythologie und des "kommenden Gottes", wie es Manfred Frank unlängst nahelegen wollte. [8] Die Musil-Philologie perpetuiert oft die Hemmungen und Verzögerungen, die Angst und Zurückhaltung, die Musil selbst vor dem "anderen Zustand" hatte und von dem er seit den Vereinigungen wußte, daß er mehr als eine "Reise an den Rand des Möglichen" (761), nämlich eine darüber hinaus sein kann. Wenn Ulrich bereits im Wörtlichnehmen und körperlichen Spüren konventionalisierter Metaphern ("etwas erhebt dich, nimm es wörtlich, daß dich ein Gedanke ergreift", 748) sich "schon in den Grenzen des Irrenreichs" fühlt, wo die "Welt ein Tollhaus", ein "Rausch" ist (749), dann werden die Gewalten spürbar, die im "ursprünglichen Lebenszustand des Gleichnisses" schlummern. Dies war die Erfahrung der Vereinigungen, die Ulrich gewissermaßen innewohnt als Erklärung seiner abwartenden Skepsis und rationalen Distanz. Weit gefährlicher für den Bestand von Ich-Grenzen ist der "andere Zustand", wenn er nicht nur auf die Entfesselung des sprachlichen Feuers im Gefängnis der Sprachkonventionen und abstrakten Begrifflichkeiten zielt, sondern den Einsatz der Existenz fordert. "Unsere Kultur ist ein Tempel dessen, was unverwahrt Wahn genannt würde, aber gleich auch seine Verwahrungsanstalt" (768), meint Ulrich. Musil wußte, daß ein anderer als der kulturell gezähmte Ausdruck, etwas anderes also als eine Ästhetik des "anderen Zustands", nämlich die leibliche Preisgabe an ihn, mit der Verrückung ins Exterritoriale bezahlt wird.

Die Suche nach einer mystischen Lösung des "anderen Zustands" ist innerhalb eines profanierten Christentums nach dem Tod Gottes der Versuch, die destruktiven Seiten des "anderen Zustands" zu vermeiden und doch seine Struktur zu retten. Über weite Strecken kreist der Roman um die Sprachlichkeit und Gefühlsqualität einer Beziehungsform, in der die unversöhnlichen Trennungen zwischen Subjekt und Objekt aufgehoben werden, um "in dem weichen Spiegel einer Wasserfläche mit allen Dingen verbunden zu sein", ein Gefühl also "der Entgrenzung und Grenzenlosigkeit des Äußeren wie des Inneren" (764/65). Doch dies bleibt im Imaginären, ja ist Zitat und Simulation von Erfahrungen, die Mystiker im Schutz des zur Unzerstörbarkeit hypostasierten Selbst-Objekts, im Schutz Gottes gemacht haben. Doch es entgeht Musil nicht, daß nach dem Tod Gottes das Heilige in seiner subjektauflösenden Ambivalenz nur in der Gestalt des Verbrechens, des Eros, des Wahnsinns - und vielleicht in einer "anderen" Sprache [9] der Kunst begegnet.

Bereits die Testamentsfälschung läßt in Agathe "eine Gerechtigkeit mit Flammen statt mit Logik" auflodern, ein "Irrsinn erster, noch mit nichts vergleichlicher und an keinem Maß zu messender Schöpfung" (798). Dies ist der willenlose Durchbruch des Archaischen, die Auflösung der Integrität des kognitiv und moralisch abgegrenzten Subjekts. Die Zivilisation verschwindet in der Leere und Namenlosigkeit der Schöpfung vor Auftritt des Menschen. So auch, wenn Agathe sich mit dem "alten Spruch" identifiziert: "Wirf alles, was du hast, ins Feuer bis zu den Schuhen. Wenn du nichts mehr hast, denk nicht einmal ans Leichentuch und wirf dich nackt ins Feuer!" (863) Für einen Moment wird hier der Vorhang vor der Szene des Opfers geöffnet. In ihm wird wie Bataille zeigt- das Fest des Todes gefeiert, um in letzter Entäußerung und Verausgabung des Ich die in der Individuation unterbrochene Kontinuität des Seins wiederherzustellen (Der heilige Eros). Es ist dies der Fluchtpunkt aller Ekstasen, um die es im Mann ohne Eigenschaften geht.

Ulrich und Agathe versuchen, die mystische Erfahrung durch eine Verräumlichung der Zeit zu erreichen. Zeit ist im Roman die Dimension, in der sich der Zwang zur Indivuation als unwiderstehlich setzt. Das mystische Nu ist das Stillhalten des Flusses; er verwandelt sich in ein "Meer der Reglosigkeit" (801), in welchem die Dinge zu geschwisterlicher Innigkeit verschmelzen. Die vielfach erlebte "Bildwerdung" der Geschwister terminiert in der "unheimlichen Kunst des Stillebens oder der Nature morte" (1230), worin "das erregende, undeutliche, unendliche Echo", die "nicht antwortende Einöde des Meers" (1230) herrschen, mit seltsamen Beziehungen zum Tod, zum Imaginären der unendlich wiederholten Spiegelungen, doch ebenso zur menschenlosen Wüste der Welt vorm sechsten Schöpfungstag. Dies ist die zutiefst inhumane archaische Landschaft, die die Umgebung ebenso für die Reise in den Wahnsinn mit Clarisse wie für die Reise in den Inzest mit Agathe bildet.

Entgegen den endlosen Versuchen seiner Zähmung verringert sich niemals der Preis des "anderen Zustands", der nur um eine Aufkündigung der menschlichen Ordnungen zu haben ist. Der "andere Zustand" ist darin verwandt den surrealistischen Experimenten der zwanziger Jahre, in denen die Sprengung des rationalistischen Gefängnisses in einen Anti-Humanismus umschlug: versteht man unter Humanismus den Selbstentwurf des neuzeitlichen Menschen, den dieser sich in der Perspektive sittlicher Vernunft gegeben hat. "Das Ich geht verloren bis auf die leere Hülle" (1191), weiß Ulrich, als er über die Ekstase nachdenkt.

Diese notwendig katastrophische Struktur des "anderen Zustands" wird, außer in der "Widerweltlichkeit" und "Unmenschlichkeit" des Geschwisterinzests, noch um zwei Varianten erweitert: Clarisse und den Krieg. Schon Moosbrugger konnte man als den Zusammensturz von Gewalt und Mystik, "Gotteskindschaft" und Mord, im Sinne Batailles also als Exposition des "heiligen Eros" lesen. Der lodernde Wahnsinn Clarissens, in welchem (auf der "Insel der Gesundheit") die Gehäuse der symbolischen Ordnungen und der Sprache in Flammen aufgehen, ist nicht als Wiederkehr des Verdrängten, sondern Einbruch des Heterogenen zu verstehen, das durch keine Dialektik der Vernunft mehr einzuholen ist. Kein Zweifel, daß Clarisse das "Weltbild der Ekstase" (1192), von dem Ulrich nur schreibt, am preisgegebensten darstellt. An ihr vollzieht sich schubweise die Fragmentierung des Vernunftsubjekts, bis sie wie ein Irrlicht durch die Ordnungen der Geschlechter, der Sprache und des Geistes tanzt.

Im Weltzustand fortschreitender Rationalisierung bildet die Kunst den einzigen Ort der Verausgabung und Überschreitung des Ich - dicht angrenzend an den Wahn, das Verbrechen, den Exzeß. Auf der "Insel der Gesundheit" entwickelt Clarisse eine Zeichensprache, eine Semiotik der Farben und eine lyrische Sprachzertrümmerung (174S ff.), die deutliche Bezüge nicht nur zur Kunst zwischen Expressionismus und Surrealismus haben, sondern auch Verwandtschaft zur sprachtheologischen Konzeption der "Namensprache" beim frühen Benjamin aufweist, die ihrerseits über Herder und Hamann auf Konzepte einer Natursprache von Paracelsus und Jacob Böhme zurückgeht. [10] "Alle physikalischen, chemischen usw. Reize, die mich treffen - erklärte sie -, verwandle ich in Bewußtsein; aber niemals ist noch das Umgekehrte gelungen... Also stört das Bewußtsein beständig das Kräftesystem der Natur. Es ist die Ursache aller nichtigen, oberflächlichen Bewegung, und die " Erlösung" verlangt, daß man es vernichtet." (1754) Diese Idee, die Bataille sehr nahe kommt, interpretiert das Bewußtsein - oder das vernunftzentrierte Subjekt - als eine ewige Verwandlung von Natur in Geist, "aus dem es keine Rückkehr gibt". Die Sprache der Intersubjektivität und Konvention stellt für Clarisse ein solches Aggregat von Energien dar, die der Natur entzogen werden. Ihre Zeichensprache, diese "Feuerflocken aus dem Vulkan des Wahnsinns" (1753), repräsentiert so gesehen den "ursprünglichen Lebenszustand des Gleichnisses" (582) am radikalsten. Die aus den "Urelementen" (1754) der Sprache neu komponierten Gebilde wie auch die privatsprachlichen Signaturen, mit denen Clarisse die Insel wie mit einer enigmatischen Chiffrenschrift überzieht, wiederholen die voraufklärerischen Konzepte vom Buch der Natur, von der Natursprache und der Signaturenlehre nunmehr in dem der nachaufklärerischen Epoche entsprechenden Status: dem Wahnsinn mit seinen Verzweigungen in den exzessiven Alchemien der Sprache am äußersten Rand der Kunst, in der Avantgarde.

Schließlich hat Musil wohl als erster, noch vor Bataille, die beängstigende Verwandtschaft der eruptiven Entledigung des Ich mit dem Krieg begriffen. Er hat diese Einsicht im Durchdenken des Rausches entwickelt, der den Ausbruch des Ersten Weltkrieges wie eine "Massensuggestion" begleitete. Das Scheitern des Romans, so scheint es, liegt wesentlich darin begründet, daß der Versuch Musils, dem "anderen Zustand" eine ästhetische Gestalt abzugewinnen, an seinen Legierungen mit den Exzessen des Krieges, der Gewalt (Moosbrugger) und des Wahnsinns (Clarisse) zerschellte. Musil hat den Ersten Weltkrieg als das archaische Ritual von Gewalt, Sexualität und Tod begriffen: das ist eine Quintessenz des "anderen Zustands", die die "taghelle Mystik" ebenso vermeiden wollte wie den Feuersturm des Irrsinns und des Mordes. Die Ohnmacht der Ästhetik muß für Musil, der in der "aZFrage" "den Motor der schriftstellerischen Existenz RM" [11] erkennt, so niederschmetternd gewesen sei, daß er über Jahre diese Erfahrung immer wieder verdrängte und verschob: ins Infinitesimale des Romans. Und doch ist unabweisbar, daß die Realisierung des "anderen Zustands" nach dem Scheitern seiner ästhetischen wie erotischen, kriminellen und psychopathologischen Varianten (sowie nach dem Kollaps der Politik) mit gnadenloser Logik auf die Katastrophe des Krieges als rituellem (Massen-)Selbstopfer zusteuerte - und dies angesichts des Faschismus und des Zweiten Weltkriegs, wo in einer neuerlichen Katastrophe die Liquidation abendländischer Zivilisation ins Werk gesetzt wurde. Es gibt eine fürchterliche, tief zurückreichende Verwandtschaft der Musilschen Idee des 1000jährigen Reiches mit der Barbarei des Faschismus. Das gilt, obwohl es nicht die Spur einer politischen Verdächtigung gibt, die Musil in die Nähe des Faschismus rücken würde. Vielmehr entdeckt Musil - wie Bataille -, daß in unserer Kultur der Exzeß und der Tod, die Gewalt und der Eros, die Rituale der Selbstauflösung und der Entgrenzung exiliert werden in den Wahnsinn, das Verbrechen und die Kunst. Dies aber ist die Fortsetzung von deren Verfemung auf anderen Ebenen - und wenn diese zur Selbststabilisierung der Vernunft ex negativo nicht mehr ausreichen, dann gilt: "Alle Linien münden im Krieg." (1902) - Die Frage bleibt, ob die Zeit, in der wir leben, solchermaßen mit jener Vorkriegsphase des Romans übereinkommt, die Musil mit den Formeln "Untergangsbereitschaft" und "Selbstmordwilligkeit" (1456) kennzeichnete.

Die sozialen und kulturellen Strukturen, die heute zur Begründung der Postmoderne aufgeführt werden, hat Musil, ein Klassiker der Moderne, weitgehend bereits in sein Romanprogramm integriert Von hier aus kann es zweifelhaft sein, ob die Postmoderne eigentlich die Ablösung der Moderne ist oder nicht vielmehr deren innerer Dialektik angehört. Bei Musil ist unübersehbar, daß er noch in den vernunftkritischen Attitüden und erst recht in der Ästhetik des "anderen Zustands" dem utopischen Programm einer "Suche nach dem rechten Leben" verschrieben bleibt. Die Kategorie des Sinns wird bei ihm um so weniger aufgegeben, je nachdrücklicher jedes einzelne Sinntableau vom "Unsinn" durchstrichen wird. Die utopische Gesinnung, die den Mangel erfahren, die Kritik sich installieren und die Gestalten möglichen Sinns sich ins Werk setzen läßt, trennt Musil deutlich von den fröhlichen bis apokalyptischen Zynismen der Postmoderne. Ebenso aber ist er von den Theoretikern einer sich fortwährend selbst reflektierenden Aufklärung getrennt. Für Musil wird die Inkommensurabilität des Anderen zur Verzweiflung einer diesem gegenüber vermittlungslosen Vernunft, zur Quelle namenlosen Glücks und namenloser Gewalt, die sowenig in Gestalten der Vernunft wie in Formen des sozialen Lebens übersetzt werden können. Die Strategien einer das Andere komprehendierenden Vernunft scheitern ebenso wie die Versuche, dem Anderen eine Unmittelbarkeit und einen Sinn abzugewinnen. So bleibt nur die Erfahrung ästhetischen Widerstands: die Hartnäckigkeit gegenüber der verlockenden Identifikation mit den flottierenden Sinnattitüden der Gesellschaft; die Verweigerung einer als allumfassend sich aufspreizenden Vernunft- das Ausharren in der Härte der unversöhnbar auskristallisierten Widersprüche die insistierende Trauer über den immer entgleitenden Sinn, die Treue zu einem Anderen, das so fern ist "wie die noch nicht erwachten Absichten Gottes" (16). Eine solche Haltung ist der Dürerschen "Melencolia I" näher als den Epidemien des Endes, von denen die Postmoderne fiebert.

Andererseits ist die heutige Situation gegenüber der Musilschen ungleich härter. Zwischen den Katastrophen des Untergangs, die er erlebte. erwuchsen auch die Revolutionen der Politik und der Kunst, die die Kontinuität der Aufklärung und des Fortschrittes zu belegen schienen. Angesichts des ungeheuren Anwachsens der Machtmonopole, der Vernichtungspotentiale und der Naturzerstörung ist heute das Vertrauen in die Problemlösungsressourcen der Vernunft oder die Gestaltungskraft der Kunst aufs äußerste gefährdet, wenn nicht schon obsolet. Wenn der Status der Vernunft und der Kunst aber überhaupt noch Indikator des gesellschaftlichen Trends ist, dann hieße das, daß die Postmoderne sich von allen vorangegangenen Epochen dadurch unterscheidet, daß ihre Katastrophe wäre, keine mehr verhindern, keine mehr gestalten und keine mehr überleben zu können. Der Krieg, anders als bei Musil, wäre die eine Linie mehr, worin alle münden: im Tod.



Anmerkungen

[ 1 ]
zitiert wird nach: Gesammelte Werke in zwei Banden, hg. v. Adolf Frise, Reinbek bei Hamburg 1978. - Bd. I: Der Mann ohne Eigenschaften, im Text abgekürzt zitiert durch einfache Seitenangabe in Klammern. Bd. a: Prosa, Stücke, Autobiographisches, Essays, abgekürzt zitiert durch (11 + Seitenzahl). - Robert Musil: Tagebücher, hg. v. A. Frise, a Bde. Reinbek bei Hamburg 1976 - abgekürzt zitiert als (1/11 + Seitenzahl). Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, hg. v. A. Frise, 5. Aufl., Reinbek bei Hamburg 1960 (= alte Ausgabe) - abgekürzt zitiert als (A + Seitenzahl).

[ 2 ]
Arnold Gehlen: Zeit- Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei, 2.bearb. Aufl. Frankfurt/Bonn 1965. Ders.: Über kulturelle Kristallisation, in: Studien zur Anthropologie und Soziologie, Neuwied und Berlin 1963, s. 31l-327. - Ders.: Das Ende der Persönlichkeit, ebd. S. 329-340. - Interessant ist, daß Gehlen sich in seinem Werk häufiger auf die Zeitdiagnosen Musils bezieht. - Zu Gehlen im hier besprochenen Zusammenhang: Wolf Lepenies: Melancholie und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1972, S. 229-253.

[ 3 ]
Zu Musil auf der Grundlage der Theorie von Niklas Luhmann vgl. Frithard Scholz: Freiheit als Indifferenz. Alteuropäische Probleme mit der Systemtheorie Niklas Luhmanns, Frankfurt/M . 1982, S . 235-263 . Zu Musils funktionalistischem Gesellschaftsbegriff s. mein Buch: Anomie und Entfremdung. Literatursoziologische Untersuchungen zu den Essays Robert Musils und seinem Roman "Der Mann ohne Eigenschaften.", Kronberg/Ts. 1974.

[ 4 ]
Hinsichtlich Michel Foucaults beziehe ich mich vor allem auf folgende Bücher: Die Ordnung der Dinge. - Archäologie des Wissens. Wahnsinn und Gesellschaft. - Überwachen und Strafen - Sexualität und Wahrheit, I: Der Wille zum Wissen, alle Frankfurt/ M. 1969-1977 Ferner: Schriften zur Literatur, München 1974. Dispositive der Macht, Berlin 1978. Zur Auseinandersetzung zwischen postmoderner Vernunftkritik und "kritischer Theoriea vgl. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M.1985. In dieser Auseinandersetzung findet auch dieser Aufsatz seinen Ort, wenn auch nicht an der Seite "komprehensiver Vernunft", wie ebensowenig im Beilager des Neuen Irrationalismus. Eine von Foucaults Diskurstheorie inspirierte Auslegung der Musilschen Textverfahren findet sich in: Walter Moser: Diskursexperimente im Romantext. Zu Musils "Der Mann ohne Eigenschaften", in: U. Baur/E. Castex (Hg ): Robert Musil. Untersuchungen, Königstein/ Ts., S. 170-197. - Eine von neoserukturalistischen Theorien beeinflußte, sehr konzise Gesamtdarstellung des Musilschen Werks legte jüngst vor: Hans-Georg Pott: Robert Musil, München 1984. - Von Jacques Derrida und Michail Bachtin ausgehend: Peter v. Zima: Robert Musils Sprachkritik. Ambivalenz, Polyphonie und Dekonstruktion, in: Josef und Johann Strutz (Hg.): Robert Musil - Theater, Bildung, Kritik (Musil-Studien 13), München 1985, S.185-203.

[ 5 ]
Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod, München 1982. - Ders.: Die fatalen Strategien, München 1984.

[ 6 ]
Vgl. zum folgenden jedoch: Jean-Francois Lyotard: La condition postmoderne (dt.: Das postmoderne Wissen, Wien 1982).

[ 7 ]
Georges Bataille: Der heilige Eros, Frankfurt/M./Berlin/Wien 1974. Ders.: Die Aufhebung der Ökonomie, 2. erw. Aufl. München 1985. Ders.: Die psychologische Struktur des Faschismus. Die Souveränität, München 1978. - Zu Georges Bataille vgl. vor allem Rita Bischof: Souveränität und Subsersion. Georges Batailles Theorie der Moderne, München 1984, und J. Habermas, Der philosophische Diskurs, a.a.O., S.248ff.

[ 8 ]
Manfred Frank: Auf der Suche nach einem Grund . Über d en Umschlag von Erkenntniskritik in Mythologie bei Musil, in: K. H. Bohrer (Hg.): Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion, Frankfurt/M. 1983, S. 318-362.

[ 9 ]
Zu einer in Ansätzen semiotischen Auslegung des "anderen Zustands" vgl. Claudio Magris: Musil und die Nähte der Zeichen, in: W. Freese (Hg ): Philologie und Kritik. Klagenfurter Vorträge zur Musil-Forschung, Musil-Studien 7, München/Salzburg 1981, S. 177-194.

[ 10 ]
Walter Benjamin: Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen. - Lehre vom Ähnlichen, in: Ders., Ges. Schriften, hg. v. R. Tiedemann/H. Schweppenhäuser, Bd. II/I, Frankfurt/M. 1977, S. 140-157, 204-210. - Dazu: Winfried Menninghaus: Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, Frankfurt/M. 1980 - Marlen Stössel: Aura. Das vergessene Menschliche. Zu Sprache und Erfahrung bei Walter Benjamin, München/Wien 1983. Den Bezügen zwischen Benjamin und Musil wäre einmal nachzugehen.

[ 11 ]
Aus dem Nachlaß Musils zitiert bei E. Kaiser/E. Wilkins: Robert Musil. Eine Einführung in das Werk, Stuttgart 1962, S. 297.




Zurück Inhalt Home Weiter


* * *

Home Kulturwissenschaftliches Institut