Hartmut Böhme: Natur und Subjekt. Frankfurt am Main 1988.
I. Naturgeschichte


Verdrängung und Erinnerung vormoderner Naturkonzepte.

Zum Problem historischer Anschlüsse der Naturästhetik in der Moderne.



Schöpfungs-Geometrie und Künstler-Ingenieur


Das 16. Jahrhundert erscheint von heute aus oft als das goldene Zeitalter einer Naturwissenschaft, die immer auch noch Kunst und Philosophie ist. Daß die Diskurse der Wissenschaft und die der Kunst noch nicht unwiderruflich auseinandergetreten sind, bedeutet zunächst, daß beide noch im Kontakt mit der griechischen Kosmos-Idee und der Schöpfungstheologie stehen. Die Natur als ganze ist ästhetische Ordnung, d.h. wohlgestaltete Vernunft, durchwaltet von einer Lebendigkeit, die mitten im Schoß der Materie die Spuren des Göttlichen trägt. Kein Künstler, kein Wissenschaftler, kein Arzt, dessen Handeln nicht im letzten von solchen Vorstellungen geleitet wird.

Reste davon finden sich noch bei Kant. In der Kritik der Urteilskraft entwickelt Kant unter dem Titel "Beschränkung der Gültigkeit des moralischen Beweises" (KdU § 88) die Idee eines "Endzwecks der Schöpfung" als notwendig für die theoretischreflektierende Urteilskraft. Vereinfacht gesagt, meint dies die Entsprechung des Endzwecks unserer selbst als Vernunftwesen, den wir mit objektiver Gewißheit ausmachen können, mit einer Vernünftigkeit, und d. h. Zweckmäßigkeit der Natur als ganzer. Dies nennt Kant: "Natur als Schöpfung betrachtet". Kant denkt an einen "Beitritt der Natur" zur Ordnung der Vernunft, was nichts weniger als die Möglichkeit einer prinzipiellen Übereinkunft zwischen der "Natur der Dinge" (KdU B 432) und der Sphäre der auf Freiheit gegründeten praktischen Vernunft enthält, was eine qualitative Erweiterung der Moral insofern erlaubt, als diese nicht allein auf die Beförderung des Guten im Menschen, sondern des Weltbesten verpflichtet ist (KdU B 429). Damit rückt die Kosmos-Idee aus ihrem schöpfungstheologischen Kontext, worin die Natur das wohleingerichtete Uranfängliche ist, in einen gewissermaßen futurischen - fiktionalen -Text: wenn als Prinzip der Urteilskraft die Natur betrachtet werden muß, "als ob" sie Schöpfung, d.h. nach einem Endzweck eingerichtet sei, so wird sie damit nicht nur analog dem höchsten moralischen Gut, sondern sie korrespondiert auch der Bestimmung der Kunst bzw. des Schönen. Der Natur, als Gegenstand der "technisch-praktischen" Vernunft (KdU B 432) gilt die Aufgabe, sie als einen "von uns zu bewirkenden höchsten Endzweck" (KdU B 459) allererst herzustellen; darin wird zugleich unser eigener Endzweck realisiert. Bei Kant sind dies Überlegungen, die natürlich jenseits der theoretischen ("reinen") Vernunft liegen. Man weiß, daß es der Kant der theoretischen Vernunft ist ö "wir schreiben der Natur die Gesetze vor" -, der wirksam geworden ist, nicht der Kant der Urteilskraft, die, eingeklammert in das fiktionale "Als ob", noch Anschlüsse an voraufklärerische Naturkonzepte wagt.

An Albrecht Dürer läßt sich demonstrieren, daß im selben Maße wie bei ihm Kunst und Wissenschaft in Übereinstimmung gedacht sind, auch die Trennung der Vernunftvermögen, wie sie von Kant paradigmatisch fixiert wird, nicht besteht. Hinsichtlich des Naturkonzepts heißt dies, von einer Einheit der Natur nicht nur als mathematischem Zusammenhang sprechen zu können, sondern Einheit gerade darin zu setzen, daß Mathematik und Kunst in der Übereinkunft des Schönen der Natur stehen.

Auf dem berühmten Selbstbildnis von 1500 legt Dürer seinem Gesicht, wie Winzinger gezeigt hat, ein strenges geometrisches Schema zugrunde [siehe Abb. 1 und 2]; er betont mit Hand und Auge die wichtigsten Organe des Künstlers und gestaltet das Porträt zum Zeugnis der Gottesebenbildlichkeit. Darin stilisiert Dürer sich in einem humanistischen Selbstbewußtsein: ist Gott der Erste Künstler, so erweist sich die Würde des Künstlers dadurch daß er, als Zweiter Künstler, der göttlichen Schöpferkraft am ähnlichsten ist. Dies ist die ästhetische Variante der Imago-Dei-Theologie. Charakteristisch hierbei ist die Verbindung von Schöpfungslehre, Geometrie und Selbstausdruck. Dürer gestaltet die christlich-neuplatonische Deutung der Schöpfung als geometrische und mathematische Ordnung hier derart, daß das zur höchstmöglichen Auszeichnung des Menschen stilisierte Porträt zugleich Schönheit und Geometrie verwirklicht: genau dies ist Kunst als Zweite Schöpfung [siehe Abb. 3]. [1]

Profanes Wissen und technisches Können werden legitimiert als ein Naturtrieb [2], der selbst gut sei und das Gute befördere weil durch ihn "wir destmer vergleicht [werden, H. B.] der pildnus Gottes, der alle ding kan". [3] Die "Lernung der Vernunft" [4] ist ein Weg des guten Lebens nicht nur, sondern auch das Medium der Schönheit und der Selbstvollendung des Menschen.

Zahl, Proportion, Geometrie bilden die Grundlage der göttlichen Weltkonstruktion ö darum die Bildtradition: Gott mit Zirkel, das Universum konstruierend [siehe Abb. 4] ö; ferner die Grundlage der Erkenntnis ö Bildtradition: der Astronom, der mit dem Zirkel den Himmel vermißt [siehe Abb. 5] - und Grundlage der Schönheit, weil die göttliche Schöpfung in harmonischen Maßen wohlgeordnet, im griechischen Sinn: ein Kosmos ist.

Ohne Einsicht in Proportionen und Geometrie keine Einsicht in die Ordnung der Dinge, kein Vermögen zur Naturgemäßheit der Darstellung und kein Wissen der Schönheit. [5] Kunst gründet auf Wissenschaft, die das Können an die Hand gibt, "newe creatur" [zweite Schöpfung!] hervorzubringen, "die einer in seinem hertzen schöpfft". [6] Geometrie ist der Königsweg der ästhetischen Erkenntnis, weil sie "die kunst in der natur" [7] offenbart und damit die Grundlage der ästhetischen Verfahren darstellt.

Dieser wissenschaftlichen Seite der Kreativitätstheorie entspricht eine strenge Orientierung an Natur: "Aber daz leben in der natur gibt zu erkennen die warheyt diser ding. Darumb sich sie fleysig an, richt dich darnach und gee nit von der natur in dein gut gedunken, daß du wöllest meynen das besser von dir selbs zu finden; dann du wirdest verfürt. Dann warhaftig steckt die kunst inn der natur, wer sie herauß kann reyssenn, der hat sie..." [8] Naturforschung und Schönheitslehre gehen hier noch zusammen. Auf der anderen Seite rechtfertigt Dürer, auf das durch Ficino vermittelte platonische Konzept des furor divinus zurückgehend, die Kunst als "van den öberen eingießungen" herkommend: "Dan ein guter maler ist jnwendig voller vigur. Vnd obs müglich wer, daz er ewiglich lebte, so het er aws den jnneren ideen, do van Plato schreibt, allbeg etwas news durch die werck aws tzwgissen." [9] Hiermit bezieht er sich auf das künstlerische Ingenium als einer besonderen,der vierten Form des göttlichen Wahnsinns, wie ihn Platon im Phaidros (244aff.) und Ion (533dff.) beschrieben hat.

Zwischen dieser Versenkung in die intuitive Wesensschau und der Strenge des Naturstudiums und der geometrischen Konstruktion besteht eine Spannung. Diese beruht teilweise auf einem modernen Mißverständnis: denn in neuplatonischer Auffassung enthält die höchste Form von Wahnsinn, die Erinnerung an die göttliche Schönheit, gerade durch ihren Bezug auf die wesenhafte Form, Zahl und Maß, Geometrie und Mathematik. [10] Zugleich gibt es einen reinen, göttlichen Begriff des Schönen, der jenseits des Men schen liegt und Gott reserviert ist. Diese Grenze der Schönheitslehre erklärt den keineswegs resignativen Satz Dürers: "Dy schönheit, was das ist, daz weis ich nit" [11]: es gibt einen reinen, göttlichen Begriff des Schönen, der jenseits der Grenzen des Menschen liegt. Geometrie und Naturwissen bleiben unverzichtbare Wege der Annäherung ans Naturschöne. So entwickelt Dürer eine Praxis, in der das technische Kalkül eines Ingenieurs und die Suche nach Gestaltung der göttlichen Schönheit aufs engste zusammengehören.


Handeln und Mit-sich-geschehen-Lassen

Bei Giordano Bruno ist das Wissen nicht Ergebnis von Apathie und methodischer Disziplin, sondern diese sind Mittel, den Furor des Unendlichen zu erreichen: darin wird das Subjekt zum Schauplatz der Erkenntnis, die sich seiner bemächtigt. Erkennen ist Erleiden der Erkenntnis, ist Schmerz und Lust in einem. In der Idee eines von Leidenschaft ergriffenen Liebhabers der Wahrheit konzentriert sich Brunos Konzept des nicht-kriegerischen Heros. Der Heros bei Bruno öffnet nicht Handlungsfelder kriegerischer Politik, sondern die "oberste Wölbung des Firmaments". [12] Der contemplator coeli ist der neue (zugleich antike, jetzt "wiedergeborene") Heros. Erkenntnis der wahren Weltstruktur ist für Bruno das Ereignis, das mit Kopernikus "wie die Morgenröte der aufgehenden Sonne" sich ankündigte, um in Bruno selbst im Lichtglanz des neuen Welttages zu erstrahlen. [13]

In der Schrift De gl'heroisi furori entwickelt Bruno das Modell der Naturerkenntnis durch die Neuinterpretation des Mythos von Aktaion [siehe Abb. 6]. [14] Aktaion ist jener Jäger, der zur Strafe dafür, daß er die badende Diana gesehen hat, in einen Hirsch verwandelt und von seinen eigenen Hunden zerrissen wird. Die Szene dieses Unterganges des schuldlos-schuldigen Opfers und der rächenden Göttin verändert Bruno radikal, um aus ihr das allegorische Tableau der Naturerkenntnis zu gewinnen. Aktaions Jagd ist Wahrheitssuche, bei der er die Hunde, seine Leidenschaft und seine Gedanken aussendet, um von ihnen dorthin geführt zu werden, wohin es den Jäger treibt: zum Ort der verlöschenden Differenz zwischen der menschlichen Vernunft und dem Göttlich-Einen der Natur (vgl. V,64). Die Epiphanie der nackten Göttin am spiegelnden Wasser löst verschiedene Inversionen aus. Zum einen erscheint das Göttliche an den Dingen selbst; die badende Diana ist Widerschein des Göttlichen in der Natur so, daß alle Dinge durch die sich fortzeugende Analogie des Seins zu Spuren und Zeichen der einen Wahrheit werden. Zum zweiten verkehrt sich im Anblick der Naturgöttin das Verhältnis von Subjekt und Obiekt: Aktaion ging aus, "um Beute zu machen, und wurde zur Beute infolge der Tätigkeit des Intellekts, mittelst derer er die begriffenen Dinge in sich selbst verwandelte". [15] Diese Introversion der Dinge löst eine Verwandlung des Subiekts aus: dieses wird in das Erkannte hinübergezogen; das jagende Subiekt transfiguriert sich ins gejagte Obiekt im selben Maße, wie das Obiekt ins Subjekt übertritt. Dieser chiastische Umschlag, das Außersich-Gesetztsein des Subiekts und die "Inverwandlung" (R. Musil) des Objekts ist für Bruno das zugleich erotische und erkenntnistheoretische Geheimnis der bei Ovid im mythischen Bann verbleibenden Metamorphose. Bruno zielt auf die Verwandlung der Göttin der Natur in das Bewußtsein der gottlichen Natur.

Leidenschaftlicher Heros wie Aktaion, also Philosoph der Natur zu sein, heißt mit der "Seele" den Widerspruch zwischen Erkenntnisrausch und Daseinsnot auszuhalten und "sich selber zerrissen und zerfleischt" (V,87; vgl. 42ff.) zu wissen. So ist Aktaion der Held Brunos, weil er in der Begegnung mit dem Naturschönen die contrarii affetti des Philosophen darstellt. Das Erkennen der Natur verlangt den "kleinen Tod" (H. P. Duerr) der Verwandlung ö der Erkennende stirbt als soziale Existenz und wird, wie Bruno sagt, ein "wildes Wesen", "obdachlos", "ungesellig". [16] Wie Diana im Mythos die "Göttin des Draußen" (Ranke-Graves) ist, so wird ihr Jäger, der Adept der Natur, ein exterritorialer Mensch. Weit entfernt sind wir noch von der Descartesschen Formel, daß der Mensch sich zum "Herrn und Besitzer der Natur" zu machen habe.


Das semiotische Universum

Ungeheuer die Anforderungen des Paracelsus an den Arzt: er muß sich von den Dingen, Tieren und Pflanzen belehren lassen, das "Licht der Natur" studieren, er muß Philosoph sein und die Wundersagen des Aberglaubens prüfen; er muß in Metallurgie und Alchemie beschlagen sein ebenso wie sich in den Berufen der Färber und Gerber, der Kräuterkundigen und Köche auskennen. Der Arzt soll das Wesen von Krieg und Frieden verstehen, die geistliche und profane Welt studieren, den Aufbau und Ursprung der Stände und die Differenz der Geschlechter kennen. Er muß das Sichtbare und das Unsichtbare an den Körpern und Dingen unterscheiden, den Aufbau des Kosmos und seine Einflüsse auf die Erde und die Lebewesen begreifen. Kläglich dagegen die heutigen Forderungen nach Interdisziplinarität.

Wichtiger jedoch ist die ö aus heutiger Sicht ö widersprüchlich scheinende sowohl chemische wie semiologische Interpretation der Natur. Paracelsus entwirft den kosmischen Lebensprozeß in einheitlichen chemischen Grundstrukturen und Operationen und er liest ihn zugleich als einen Text, als riesiges Gewebe von Zelchen, den signatura rerum. Die Trennung von naturwissenschaftlichen und hermeneutischen Verfahrensweisen, wie sie uns selbstverständlich ist, kennt Paracelsus nicht. Medizin wird vielmehr als das Feld bestimmt, auf dem sich alle Wissensformen überschneiden. Die Medizin wird zur Grundwissenschaft, weil ihr Gegenstand, der menschliche Körper, die komplexeste Versammlung von Bedeutungen im Reich der Natur und des Geistes darstellt. Das ist mit der Lehre des Mikrokosmos gemeint: in den menschlichen Leib bilden sich die Verhältnisse des Makrokosmos (der Umwelten) ein.

Die Alchemie bietet die "biochemische" Deutung dieses einheitlichen Zusammenhangs der materiellen Welt: sie identifiziert die Elemente, die Zusammensetzungen der Stoffe, die Operatoren, die Transformationsprozesse der Dinge in ihrer weiten kosmischenVerkettung. Der hermetische Grundsatz: "Was oben ist, das ist auch unten" formuliert dabei die kosmologische Grundanalogie, nach welcher sich die Dinge des Himmels und der Erde per analogiam ausdifferenzieren, doch nach grundsätzlichen einheitlichen Gesetzen. Diese "Lehre vom Ähnlichen" (Benjamin) leitet sowohl die empirischwissenschaftliche wie ästhetische Erschließung der Natur an. Gott wird bei Paracelsus zum Ersten Alchemisten und Ersten Autor.

Zunächst heißt dies, die Schöpfung der Welt läßt sich nur analog zum chemischen Opus denken. Die Lebendigkeit der Natur- das ist Natur als Retorte. Gott ist der große Separator, der in dieprima materia, die chaotische Urmaterie, die Trennung einführt und dadurch die Voraussetzung schafft für die Differenzierung von Elementen, Energien und Prozessoren. Diese erst bilden Objekte und Gestalten, das dynamische Gewebe der Weltkörper in ihrer systematischen Gliederung, einheitlich strukturiert von der "großen Welt" des stellaren Raums bis zur "kleinen Welt", dem Leibraum des Menschen. Die Würde des alchemistischen Arztes besteht darin, daß er zum Mimeten der Schöpfung wird. Was die Natur in langen Zeiträumen veranstaltet, beschleunigt der Alchemist durch Kunst im Experiment; er arbeitet an der Vollendung der Schöpfung, der perfectio naturae [siehe Abb . 7] .

Zwei Jahre nach dem Tod von Paracelsus, 1543, erscheinen in bedeutsamer Synchronie von Andrea Vesalius De humani corporis fabrisa ö die erste neuzeitliche physiologische Anatomie ö und De resolutionibus orbium coelestium von Kopernikus, von dem die mechanistische Formulierung des heliozentrischen Weltmodells ausgehen wird. Der Leib als Organmaschine und der Kosmos als Himmelsmechanik: damit wird im Fortgang die Physik zur Leitwissenschaft im Feld der Natur. Die biochemische Interpretation des Weltprozesses wie des Leibes, wie sie im paracelsischen Werk entworfen wird, wird in der Folge als "spekulativ" aus den Wissenschaften ausgegrenzt.

Zum zweiten aber ö Gott als Autor ö bezeichnet Paracelsus die Schaltstelle einer semiotischen Philosophie der Natur. "Denn das muß ein jeglicher Arzt wissen, daß alle Kräfte, so in den natürlichen Dingen sind, durch Zeichen erkannt werden. ... Denn nichts ist ohne Zeichen ... Der da die natürlichen Dinge beschreiben will, der muß die Zeichen vernehmen, und aus den Zeichen das selbige erkennen. Denn >signatura< ist scientia, durch die alle verborgenen Dinge gefunden werden." [17]

Paracelsus bewegt sich hiermit in einer theologischen Tradition die, insbesondere ausgehend vom Anfang des Johannes-Evangeliums, die Schöpfung Gottes durch das Wort so deutete, daß das ins Sein rufende Wort sich dem Seienden aufprägt: die Dinge sind wortförmig, oder: die Dinge sind Engramme, Gravuren Chiffre Gottes. Von daher entstand eine Zwei-Bücher-Theologiedie Offenbarung Gottes durch die Schrift (für die Gelehrten) und durch die Natur (für die Laien). Auch wenn es bereits im Mittelalter auf dieser Grundlage schon Rechtfertigungen einer laizistischen Naturkunde gab ö z.B . im Buch der Natur des Konrad von Megenburg (1309-1374) [18] ö so ist doch Paracelsus der erste, der das theologische Konzept einer lingua naturae zum Programm einer profanen Naturforschung umbaute. Der gesamte Raum der göttlichen Schöpfung wurde durch die paracelsische Semiologie dem "Licht der Vernunft" erschlossen. Die spekulativen Züge der Zeichenlehre führten jedoch dazu, daß Paracelsus in den Naturwissenschaften keine Autorität bilden konnte. Schon Galilei, der die Metaphern vom Buch der Natur noch rhetorisch benutzte, wußte, daß dieses nicht in linguistischen Zeichen, sondern mathematischen Formeln und geometrischen Figuren geschrieben ist. [19]

Dahingegen bleibt Paracelsus einflußreich nicht nur für medizinische Alternativ-Konzepte (Homöopathie, anthroposophische Medizin, Psychosomatik), sondern vor allem für die seit der Renaissance bis zur Goethe-Zeit starke Unterströmung der Naturmystik und Naturphysiognomik. In der Romantik schließlich wird die Natursprachenlehre transformiert in ein Konzept der "Sprache der Poesie", die ein Universum nicht-konventioneller, nicht-arbiträrer Zeichen, das "absolute Buch" zu entwerfen suchte, worin die "Chiffernschrift der Natur" und die "Sprache des Dichters" (Novalis) übereinkommen sollten. Die paracelsische Idee eines Universums der Zeichen könnte heute am ehesten dort, verändert und auf einem anderen Niveau, wiedererkannt werden, wo die Medizin deutlich Ansätze zu einer Re-Semiotisierung erkennen läßt oder der Inbegriff der Natur nicht mehr wie in der klassischen Physik als mechanisches Zusammenspiel der Kräfte, sondern als ein Makro- und Mikroraum von Informationsflüssen gedeutet wird.

In der Kunsttheorie bleibt die Idee der Natursprachenlehre über Hamann und Kant bis zu Benjamin und Adorno für die Ausarbeitung einer Ästhetik der Natur bestimmend. Ihr liegt, im Schmerz über das Obsoletwerden des Naturschönen, in Erinnerung an die spekulative Würde der Natur, im Wunsch nach einer von ästhetischer Urteilskraft miteingerichteter Erde, eine theoretisch wie praktisch prekäre Hoffnung zugrunde: daß Natur in den Dingen eine Sprache mit sich führe, die nicht in Worte, sondern stummen Zeichen spreche; daß der Mensch dafür nicht nur ein Sensorium, sondern in seiner Wortsprache ein Medium habe, das in seinen poetischen Möglichkeiten der Natur zum physiognomischen Ausdruck verhelfen könne. Das ist ein Optativ des unabgegoltenen Vergangenen.


Übergang: Vergangene und gegenwärtige Naturphilosophie

Bei Dürer wurde der Gedanke sichtbar, daß Wahrheit und Schönheit der Natur, Zahl und Zeichen, Geometrie und Kreativität in Ubereinkunft stehen ö eine Idee, die Kant wenigstens als formales Prinzip der Urteilskraft noch gelten ließ, ohne ihr theoretische oder praktische Bedeutung zu verleihen. Bei Bruno wurde deutlich, daß an jeder Beziehung zur Natur eine intentionale und eine nicht-intentionale Seite zu unterscheiden ist. Zielt die erste auf Erkenntnis, so enthält die andere ein Widerfahren der Natur. Ist die eine Bestimmung und Setzung, so die andere Unbestimmtheit und Erleiden. Entspricht die eine einer konzentrierten, so die andere einer porösen Subjektform. Diese zwei Seiten des Subjekts entsprechen zwei Seiten des Objekts: Natur ist erfahrbar in ihrem triftigen Sachgehalt und in ihren betreffenden Atmosphären. Beides ist gleichrangig, erst beides zusammen ergibt ein vollständigeres Bild von Natur.

Geht es bei Dürer um Wissen und Schönheit, bei Bruno um Subjekt und Objekt, so bei Paracelsus um Naturwissenschaft und Semiologie. Bei Paracelsus wird die empirische Erforschung des Materieprozesses so bestimmt, daß dieser einem Konzept der prinzipiellen Bedeutsamkeit der Natur nicht entgegensteht, sondern es fundiert. Ohne Zweifel muß Naturforschung eine Sinnonentierung enthalten, weil Natur auch ein qualitatives Wertgefüge darstellt, das sich der Lesekunst des Forschers zeigt.

Bei allen dreien, dem Maler, dem Philosophen, dem Arzt, ist selbstverständlich, daß Naturforschung in ihrer Zweckbestimmung den Menschen einschließt. Der Mensch, das Erkenntnissubjekt, kann prinzipiell nicht aus der Naturwissenschaft herausgenommen werden. Was uns Natur ist, als was wir sie erkennen was wir mit ihr technisch machen ö das entscheidet immer schon mit darüber, wer wir sind und sein wollen.

Mit diesen Bestimmungen sind implizit die normativen Prinzipien der Naturphilosophie gegeben. Daß Wissenschaft eine Unternehmung sein soll, von deren Ergebnissen wir wollen sollten daß sie Natur sind; und daß das, was wir in ihr hervorbringen Kunst sein sollte, ist in der Renaissance selbstverständlich Wenn Natur selbst schon als schöner Kosmos begriffen wird, bedarf es keiner gesonderten Auszeichnung einer werttheoretischen Ebene für den Umgang mit Natur. Die quasi objektive Ästhetik der Natur ist als Gegenstand ästhetischer zugleich Objekt moralischer Achtung. Natur durch Kunst und Technik übertreffen, heißt mit ihr im Können konkurrieren, nicht um Macht; und schon gar nicht kann als Können gelten, was wohl die eigene Macht befördert, darin aber zur Verhäßlichung oder Zerstörung der Natur führt. An der natura naturans, der lebendigen, "technischen" Produktivität der Natur hat man immer schon ein Modell dafür, was gutes, gelungenes technisches Handeln ist ö auch wenn Technik selbst Perfektionierung und gar Übertreffen der Natur ist. Dies jedoch immer in bezug auf Einzelaspekte, während ihr kosmischer Gesamttext unübertrefflich bleibt.

"Alle Wissenschaft hat ein Ziel, nämlich eine Theorie der Natur zu finden" [20], deklarierte Emerson, der darin, mitten im industriellen take-off des 19. Jahrhunderts, sich als Erbe der Romantiker zeigt. Natur, was Emerson darunter verstand ö Schöpfung, Schönheit, Geist, Geschmack, Leben ö, spielt endgültig für die Wissenschaften keine Rolle mehr. Durchgesetzt war, daß Natur als gesetzlich geregelter Zusammenhang von Erscheinungen zu gelten hatte, wobei diese Kantsche Fassung aufgrund ihrer allzu komplizierten Verknüpfung mit dem Erkenntnissubjekt, dem allererst etwas zu Erscheinungen werden kann, noch dahin vereinfacht wurde: daß man es mit der gesetzlichen Regelung von Fakten zu tun habe. Der Mensch kommt dabei allenfalls als affektneutralisierter Beobachter und Experimentator vor. Natur als Lebensraum für Lebewesen überhaupt bildete so wenig ein regulatives Prinzip wie als schöne oder erhabene Wirkungsmacht; der Mensch als konkretes Lebewesen figurierte nicht als Schema für die Bildung des Erkenntnissubjekts.

Es ging um die Beförderung der Macht, die Durchrationalisierung der Lebenswelt, die Ausbeutung der Natur, den Ausbau technischer Kompetenz, die Maximierung der Profite, die Effizienz von Kontrolle, die Stabilisierung sozialer Entwicklungen, die Stärkung des Staates. Gegen solche Imperative war jede Form qualitativer Naturphilosophie chancenlos, jedes Konzept des Menschen als zugleich Subjekt und Objekt des Naturprozesses war fortschrittsfeindlich. Jede Heteronomie durch Natur galt als Verletzung der prätendierten Souveränität des Menschen; das Eingedenken der Schonung und des Respekts als naturethischen Kategorien schien technosoziale Entwicklungen zu unterlaufen; Naturschönheit degenerierte zur Freizeit-Veranstaltung, Naturmacht zum besiegbaren Gegner; Erhabenheit war nicht die Atmosphäre des Großen der Natur, sondern die Attitüde des terrestrisch ausgedehnten Be-herrschungsvermögens des Menschen. Hier schienen die Traditionen der Renaissance auf immer zu versinken, zu versickern in Subkulturen, in die Kunst oder in das Unbewußte, das als Archiv der verdrängten Natur des Menschen zu funktionieren begann. Die offizielle Philosophie hat solchen Entwicklungen nichts entgegengesetzt.

Serge Moscovici vertrat 1968 die These, daß unser Jahrhundert dem "Problem der Natur" [21] seine ganze Kraft gewidmet habe ö so wie das 18. Jahrhundert den Problemen des Staates und das 19. Jahrhundert denen der Gesellschaft. Man darf das bezweifeln. Die Naturphilosophie, wenn man sie als Symptom dessen ansieht, ob gesellschaftliche Eliten dem Thema Natur überhaupt Wichtigkeit einräumen, hatte ihren Höhepunkt sicher nicht im 20. Jahrhundert. An der Naturfeindschaft der Moderne hatte die Philosophie ihren nicht zu überschätzenden, doch bedeutenden Anteil.

Nach der Phänomenologie und dem Existentialismus ö beides extrem anthropozentrische Philosophien ö dominierten Wissenschaftstheorie sowie, im Zeichen des linguistic turn, sprachanalytische Philosophie. Auch in der kritischen Gesellschaftstheorie, Ethik und Kommunikationstheorie wurde Natur kein Thema. Technik und Wissenschaft wurden allenfalls als Ideologie kritisiert, nicht als materiell gewordene Kräfte der Naturzerstörung. Ethik verstand sich als Grundlegung der Handlungsregulierung zwischen Menschen, nicht zwischen Mensch und Natur. Kommunikationstheorie war ein Entwurf sprachlich vermittelter Intersubiektivität; ausgeblendet blieb alles, was von diesem Ansatz her nicht Subjekt ist, das Menschensprache spricht ö also Lebewesen überhaupt und Dinge zumal. Das Zuspätkommen etwa der Habermasschen Theorie liegt wesentlich darin begründet, daß in einem Augenblick, wo philosophisch eine Kritik des Anthropozentrismus in der Perspektive einer Philosophie der Natur notwendig gewesen wäre, der Höhepunkt der Philosophie einmal mehr in einer, wenn auch kommunikativ geöffneten Reflexion des Menschen gesucht wird ö unter Ausschluß alles dessen, was nicht Mensch ist. Doch ist davon auszugehen, daß eine Philosophie der herrschaftsfreien Kommunikation nicht schon automatisch, gleichsam als erwünschte Nebenfolge, die Befreiung der Natur von der Last des Menschen befördert.

Das Verfehlen, Vergessen und Verdrängen der Natur aber ist ein Verfehlen, Vergessen und Verdrängen des Menschen selbst. Zerstörte Natur ist ein Indiz für ein gestörtes Verhältnis des Menschen zu sich selbst. Naturunfreiheit entspricht der Selbstentfremdung des Geistes. Derlei Prinzipien spielen in der Nachkriegsphilosophie keine nennenswerte Rolle, außer vielleicht bei Adorno und Bloch. An diesen beiden wie auch an Moscovici tritt jedoch der Abstand hervor, der uns heute von diesen avancierten Positionen von vor zwei Jahrzehnten bereits trennt. Dies liegt nicht etwa an besserer philosophischer Einsicht. Vielmehr hat die unübersehbare Tatsache, daß in die Entwicklung der Gesellschaft zwei katastrophische Dynamiken eingebaut sind, nämlich Krieg und Naturzerstörung, von außen her der Philosophie aufgedrängt, sich der historisch neuen Lage zu stellen, die in der Möglichkeit und Machbarkeit eines indirekten oder direkten Suizids der Gattung besteht.


Natur und Arbeit

Moscovici hat von der Formel des frühen Marx, der vom Entwicklungsziel einer Humanisierung der Natur und einer Naturalisierung des Menschen sprach, nur die erste Seite entwickelt. Er rekonstruiert Geschichte der Natur als die Umwälzung von Wissenstypen, Praktiken und Technologien, die historisch bestimmte Naturkonzepte enthielten und umsetzten. Naturgeschichte ist die Geschichte alles Nicht-Menschlichen, insofern es in die Regie des Menschen gefallen ist. Erste Natur ö die draußen wie die im Menschen ö entfällt sowohl kategorial wie auch als regulative Idee, weil von einer anderen Natur als der in den historischen Formen der Arbeit, des Wissens und der Technik angeeigneten sich nicht spre chen läßt. Die "Schöpfung der Arbeit" [22] gilt selbst wieder als Naturprozeß. Damit wird ein selbstimmunisiertes System geschaffen: Natur ist, was die Menschen im Gang der Geschichte arbeitend vergegenständlichen; der Prozeß der Vergegenständlichung ist selbst Natur.

Hiervon ist jedenfalls der Gedanke zu lernen, daß wir das, was uns heute als Natur entgegentritt, nämlich ihr lädiertes Antlitz, als eine Natur verstanden werden muß, die das Projekt der technischen Arbeit wiedergibt. Dies hatte Moscovici zwar nicht gemeint, doch, auf seiner Linie weitergedacht, ist es so: man kann als Prinzip festhalten, daß alles im Reich der Natur ö d.h. der Natur in mittlerer Größenordnung- ausgelegt werden muß, als ob wir es so und genau so gewollt hätten. Es gibt nicht die Entschuldigung der unbeabsichtigten Nebenfolgen und der unkalkulierbaren Fernwirkungen: Natur als ganze wird dem Menschen zugerechnet. Aus der Konstruktion Moscovicis, die Geschichte der Natur als die Geschichte zu lesen, in der der Mensch Subiekt und Schöpfer von Natur geworden ist, folgt unmittelbar das Prinzip der Verantwortung des Menschen für diese. Daraus entspringt, wenn man Kant so variieren darf, als erster kategorischer Imperativ der Naturphilosophie: Handle so, daß die materiellen Vergegenständlichungen deines Wissens jederzeit zugleich als Natur gewollt sein können.


Natur und Kunst

Adorno hat in seinem Kapitel über das Naturschöne zu Recht darauf hingewiesen, daß die Kategorie des Schönen der Natur, die bei Kant vor dem Kunstschönen den ersten Rang behauptete, seitdem einer wachsenden Verdrängung anheimfiel. [23] Diese Verdrängung erklärt Adorno damit, daß die Kategorie der Achtung auch in der Sphäre des Ästhetischen immer entschiedener dem reserviert wurde, was das Subjekt kraft seiner Autonomie sich selbst verdankt. Die Emanzipation von der Doktrin der Naturnachahmung hieß zugleich die Verschreibung der Kunst ans Artifizielle als der Nicht-Natur schlechthin und trägt darin die Male einer Gewalt, die notwendig um so massiver ist, je strikter auch im Kunstwerk allein das als würdig gilt, was Züge des in ihm erscheinenden Geistes trägt. Hier auch liegt der Grund, warum Adorno, bei aller Vorliebe für die hermetischen Artefakte der Moderne Kant gegen Hegel ausspielt und sich erstaunliche Anleihen an der Vormoderne erlaubt.

Dennoch hält Adorno von einer Flucht in eine vermeintlich erste Natur gar nichts. Wohl aber führt das Eingedenken der Natur in der Kunst zu Bestimmungen, die diese aus dem Bannkreis des Produktionsfetischismus lösen. So etwa, wenn die nicht gemachte, sondern gewordene Kulturlandschaft gerechtfertigt wird als Erfahrung eines Vergangenen, das nie war, was aber Natur, wenn sie hätte wollen können, als Versprechen trug. Natur als Schönes ist kein "Aktionsobjekt"; sie steht jenseits der Zwecke der Selbsterhaltung; sie weckt im Bild scheinbarer Unmittelbarkeit das Bild des gänzlich mit sich selbst Vermittelten; sie spricht nach dem "Modell einer nicht begrifflichen, nicht dingfest signifikativen Sprache"; sie enthält Chiffren eines Geschichtlichen und verweist auf die Möglichkeit einer Technik, die "unter veränderten Produktionsverhältnissen ... fähig (wäre), ihr (der Natur, H. B.) beizustehen und auf der armen Erde ihr zu dem zu verhelfen, wohin sie vielleicht möchte". Naturschönes deutet auf den Vorrang des Obiekts, das als nicht vom Menschen Gemachtes, gleichwohl spricht und als physiognomischer Ausdruck sich der Rezeptivität des Subjekts öffnet. Das Naturschöne ist bestimmt gerade durch seine Unbestimmtheit, einer des Obiekts nicht weniger als des Begriffs. [24]

Freilich übersieht Adorno bei solchen vorsichtig emphatischen Sätzen niemals das, wozu Natur im Außertechnischen wurde: Kitsch und Idylle. Er vergißt nicht die Unwiederholbarkeit verheißender Naturbilder, ja er verhängt ein striktes Abbildverbot und Schweigegebot als einzig dem Naturschönen gegenüber angemessene Haltung. Es herrscht hierin eine "Scham", mit Sprache das zu verletzen, was das "noch nicht Seiende" zum Ausdruck hat. "Noch nicht seiend": das ist Natur. Das Naturschöne ist das Nichtidentische an den Dingen. Dieses in Sprache zu holen, die Kunst ist und zugleich schweigender Ausdruck der nichtmenschlichen Natursprache dies macht authentische Kunst aus. [25] Trotz aller Skepsis also bei Adorno ein verhalten messianischer Ton, der von dem theologischen Konzept der Natursprachenlehre übergeht in die ästhetischen Techniken der Kunst. "Die subjektive Durchbildung der Kunst als einer nichtbegrifflichen Sprache", so heißt es, "ist im Stande von Rationalität die einzige Figur, in der etwas wie Sprache der Schöpfung widerscheint, mit der Paradoxie der Verstelltheit des Widerscheinenden. ... Ist die Sprache der Natur stumm, so trachtet Kunst, das Stumme zum Sprechen zu bringen, dem Mißlingen exponiert durch den unauflhebbaren Widerspruch zwischen dieser Idee, die verzweifelte Anstrengung gebietet, und der, welcher die Anstrengung gilt, der eines schlechthin Unwillentlichen." [26]

So bemerkenswert diese Rehabilitierung des Naturschönen ist, so auffällig doch auch, daß Natur unter dem Titel des Schönen, nicht des Erhabenen thematisiert wird. Natur bleibt soweit stumm und bedeutungslos, wie sie nicht in der Kunst ein "Nachbild des Schweigens" findet, "aus dem allein Natur redet". [27] Außerkünstlerisch ist Natur vollends opak ö und das wiederholt jene Spaltung, derzufolge Natur nicht anders zur Geltung kommen könne als entweder verkrüppelt in der Technik oder als sprachloser Ausdruck in der Kunst. Doch gerät dabei außer Sicht, daß Kunst nicht das einzige Medium ästhetischer Naturerfahrung ist. Alltags- und leibnahe Asthetiken sind denkbar, in denen Natur Raum und Ausdruck findet. Auch wird, wenn das Kunstwerk der letzte Ort des Naturschönen ist, die Natur insofern entmächtigt, als sie auf den Status des Opfers festgeschrieben wird. Weder wird ihr zugetraut, daß sie Wirkungsmächte zeigt, die auch ohne Vermittlung durch Kunst die ästhetische Rezeptivität erreichen, noch daß sie, gerade indem sie Opfer wird, in umschlagender Negativität sich in einer unwiderstehlichen Weise der Wahrnehmung der Menschen auf- drängt: als häßliche, vergiftete, unbewohnbare, sterbende Natur. Keinen Raum findet der Gedanke, daß eine Kunst, in welcher Natur ihr letztes Überleben findet, nur den äußersten Punkt der Zusammenkürzung der Natur bezeichnet. Dagegen besteht das Projekt einer menschlichen Natur nicht darin, Natur als Nichtidentisches in Kunst zu chiffrieren, sondern Kunst in die praktische Aufgabe einer ästhetischen Einrichtung der Erde aufzulösen. Eben dies ist der Punkt, der seit Adornos Tod ins Bewußtsein getreten ist. Die Theorie des Naturschönen bei Adorno räumt der gesellschaftlichen Entwicklung der Natur keinen Raum mehr ein.

Festzuhalten aber bleibt der Gedanke des Nichtidentischen und Nichthergestellten, des Unwillentlichen als des Anderen der Natur, wovon jedem Projekt der ästhetischen Einrichtung der Erde Grenzen gesetzt sind. Diese Grenzwahrung ist es, die die Erfahrung der Kunst unverzichtbar macht. Sie erfordert ein bisher; unabsehbares Maß an Re-Ästhetisierung der Technik als wesentliche Zukunftsaufgabe. Als zweiten Imperativ also könnte man formulieren: Handle so, daß die materiellen Vergegenständlichungen deines Wollens prinzipiell auch als Kunst gelten können.

Das will sagen: technische Naturaneignung hat die Intentionen der Menschen ebenso aufzunehmen wie das Nichtidentische, das als Eingedenken des Geschichtlichen wie des Nicht-Gemachten das in aller Technik schlechthin Unbestimmbare markiert. Vermutlich ist dies der Punkt, wo nicht etwa traditionelle Kategorien des Naturschutzes wie Pflege, Bewahren, Rücksicht, Liebe zum Zuge kommen, sondern der philosophisch erst zu gewinnende Begriff der Schonung: die Fähigkeit, das Andere anders sein zu lassen, Nicht-Identisches wahrzunehmen, Fremdes nicht zu entfremden, in Vielheiten und Dissonanzen, Widersprüchen und Brüchen zu handeln, den Schmerz, die Angst, das Vergehen nicht abzuwehren und darin anzuerkennen, was nur zu erleiden ist. Schonung wäre in allem Handeln ein Moment des Nicht-Handelns, das dem Anderen unserer selbst geschuldet ist. Das Prinzip des Nicht-Handelns in allem Handeln meint die Unbestimmtheit, die sich allen Vergegenständlichungen als ihre Anschlußhaftigkeit für anderes, andere oder nichts aufprägen kann.


Natur und Hoffnung

Während Adorno die metaphysischen Reste vorkritischer Naturphilosophie dadurch rettet, daß er sie in die Sprache der Kunst überführt, so steht Bloch mitten im Reich der Natur, als habe es die kantischen Kritiken nie gegeben. Bloch ist damit der letzte Metaphysiker der Natur, ein materialistischer freilich. Seine Hoffnungsemphase wird aus der Tradition der Renaissance und der Romantik, besonders Schellings, ebenso gespeist wie aus dem frühen Marx. Für Bloch steht außer Zweifel, daß Naturästhetik keine Angelegenheit nur der Kunst ist. Sie gehört vor allem in den Prozeß der Umarbeitung der Erde zu einem befreiten Stern. Sie geht ein in das Projekt einer Architektur des Weltgebäudes, worin der Mensch zum zweiten Schöpfer jedoch nur sich bilden kann, wenn er alliierende Anschlüsse findet an den Materieprozeß selbst; Anschlüsse, die sich als Real-Chiffren, Real-Symbole darbieten und somit eine Entzifferung der Richtung erlauben, wohin Natur von sich aus zielt. Natur ist dabei natura natarans, schöpferische Produktivität im Sinne Schellings, qualitative Prozeßgestalt des Materiestroms, niemals dumpfes Brüten in bedeutungslosen Kausal-Komplexen, nicht fixiertes Produkt stummer Energien. Anders als Adorno hält Bloch an einer technischen Lösung des Naturproblems fest. Kunst ist nicht Residuum möglicher Naturqualitäten, sondern das in ihr Technische ist praktischer Vorgriff auf die Syntheseform, die lebendiger Stoff und technische Idee in histori-

schen Allianzen annehmen könnten. Zukunftstechnik wäre ästhetisch dadurch, daß sie durch Enthüllung der "Sphinx-Natur" den "gefesselten Riesen Naturkraft" befreit - d. h. den mythischen Bann der Natur bricht, sie humanisiert und damit umgekehrt den "Einbau des Menschen in die Natur" [28] ermöglicht. Dieses Technik-Bild ist eine "ästhetische Theodizee" (Th. Saine). Es gehorcht dem Modell der Versöhnung und bindet den Materieprozeß mit den technischen Inventionen der Menschen dadurch zusammen daß beide auf die Produktion eines zweiten, poetischen Paradieses aus sind: dem Urbild des Naturschönen und der Heimat zugleich.

Für unser Bewußtsein heute ist dieses Modell Blochs zu technikgläubig. Bloch erkennt im destruktiven Charakter der gegenwärtigen Technik den Reflex der Produktionsverhältnisse, nicht aber technikimmanente Strukturen. Ohne Umbau der Technik selbst und nicht nur ihrer gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gibt es kein Prinzip Hoffnung. Eben das ist jedoch das Problem, weil es hier nicht um den Anschluß von Technik an das mögliche Natursubjekt geht, sondern um die Macht, die in Technik versammelt ist und die immer unwiderstehlicher zur Superstruktur der Gesellschaft wird. Technik ist längst kein beliebig umbaubares Subsystem mehr, sondern vielmehr tendieren alle sozialen Strukturen dazu, Technostrukturen zu werden. Seit dem 16. Jahrhundert ist die Gewalt gegen Natur, die ihr mit vollem Bewußtsein und strategischer Absicht zugefügt wird, legitimiert als eine Gewalt, in der das gattungsallgemeine Interesse des Menschen verteidigt wird. Dieser Technik Typ bestimmt heute nicht allein die gesellschaftlich notwendige Naturaneignung, sondern weitgehend die Reproduktions-, Organisations- und Verkehrssysteme der Gesellschaft selbst. In einer solchen Perspektive fällt es schwer abzusehen, wie die Bedingungen des Bauwerks einer Natur und Gesellschaft versöhnenden Erde aussehen würden, noch ob überhaupt Chancen zu dessen Verwirklichung bestehen, bevor Natur als Lebensraum kollabiert. Vielmehr ist die Gewalt, die als externe, der Natur oktroyierte den technischen Impuls trug, längst überführt in eine interne, die die sozialen Strukturen bestimmt. Jeder Versuch, die Technik grundlegend umzubauen, ist unmittelbar mit der zentralen Macht der heutigen Gesellschaften konfrontiert oder bloße Spinnerei. Diese Aussicht beflügelt kein Prinzip Hoffnung, sondern knüpft dessen Möglichkeit an die Bedingung, die Aussichtslosigkeit mitzudenken. Als dritten Imperativ möchte ich demnach formulieren: Handle so, daß jede auf die Utopie der Naturversöhnung zielende Vergegenständlichung vor dem Möglichkeitshintergrund der selbstgewirkten Auslöschung des gesellschaftlichen und natürlichen Lebens entworfen wird.

Ein solcher Imperativ steht dem memento mori der Vergangenheit fern, worin die Natur als Tod das letzte Wort des Lebens hatte und so alle Einzelakte in die Perspektive des Sterbenmüssens rückte. Dieses religiöse oder existentielle "Sein zum Tode" hat etwas Gemütliches im Verhältnis dazu, daß die Fragen der subjektiven Lebensentwürfe, der Gesellschaft und des Naturumgangs heute nicht mehr auf den Tod oder das apokalyptische Ende als verhängte Grenzen irdischen Daseins beziehbar sind und damit ein Bewußtsein der Endlichkeit von uns als Naturwesen erzwingen. Erstmals in der Geschichte hat der Mensch die Möglichkeiten technisch in der Hand, die natürlichen Bedingungen des Lebens zu zerstören oder die Gattung Mensch aus dem Plan der Natur zu löschen. Erstmals ist von der Natur prinzipiell nichts mehr zu fürchten und nichts mehr zu hoffen; es geht in keiner Hinsicht mehr um die Frage, ob die "guten" oder die "bösen" Seiten der Natur überwiegen und damit die geschichtliche Anstrengung eher fördern oder gefährden. Erstmals muß das Bewußtsein realisiert werden, in diesem Kosmos in absoluter Resonanzlosigkeit zu leben. Erstmals ist das auf Naturaussöhnung zielende Hoffnungsprojekt an die Gegenmöglichkeit zu binden, daß die Selbstabschaffung zum Telos einer möglichen Geschichte wird. Der Tod ö nach Bloch die härteste Nicht-Utopie ö wird vom Suizid als der härtesten Dystopie abgelöst.


* * *

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Anmerkungen


[ 1 ]
Fedja Anzelewsky: Das Selbstbildnis von 1500; in: Ders.: Dürer-Studien, Berlin 1983, S. 90-100.

[ 2 ]
Hans Rupprich (Hg.): Dürer - Schriftlicher Nachlaß, 3 Bde., Berlin 1956 69, S. 106.

[ 3 ]
Dürer-Nachlaß [Anm. 2], Bd. 1, S. 106.

[ 4 ]
Dürer-Nachlaß [Anm. 2], Bd. 1, S. 108.

[ 5 ]
Dürer-Nachlaß [Anm. 2], Bd. 1, S. 14S f., 148, u. Bd. 3, S. 168 f.

[ 6 ]
Dürer-Nachlaß [Anm. 2], Bd. 1, S. 148, u. Bd. 3, S.296.

[ 7 ]
Dürer-Nachlaß [Anm. 2], Bd. 3, S.295.

[ 8 ]
Dürer-Nachlaß [Anm. 2], Bd. 3, S. 295.

[ 9 ]
Dürer-Nachlaß [Anm. 2], Bd. 2, S. 109.

[ 10 ]
Im Neuplatonismus bezog man sich dabei sowohl auf Platons Timaios undPhilebos (51 c) wie auch, dem Modell der Korrespondenz zwischen Bibel und antiker Philosophie folgend, auf Weisheit Salomons XI,2l: "Alles hast du wohlgeordnet nach Maß, Zahl und Gewicht" ö ein von Dürer in seinen Schriften häufig zitierter Satz.

[ 11 ]
Dürer-Nachlaß [Anm. 2], Bd. 2, S. 100, 120.

[ 12 ]
Giordano Bruno: Das Aschermittwochsmahl, übers. v. F. Fellmann, eingel. v. H. Blumenberg. Frankfurt/M. 1969, S. 72 f. Im übrigen wird zitiert aus: Giordano Bruno: Eroia furore. Dialog vom Helden und Schwärmer, in: Werke in 5 Bdn., (Hg. L. Kuhlenbeck), Jena 1904-09, hier: Bd. V.

[ 13 ]
Bruno: Aschermittwochsmahl [Anm. 12], S.71.

[ 14 ]
Bruno kannte den Aktaion-Mythos wohl nur in der Fassung von Ovid: Metamorphosen, Buch III, v. 138 ff. - Das Gemälde Tizians "Diana e Atteone" von 1559, das Tizian in Venedig gefertigt, doch an den spanischen Hof geschickt hatte, konnte er nicht kennen.

[ 15 ]
Bruno: Eroici furore [Anm. 12], S.71. ö Vgl. dazu die materialreiche Arbeit von Heinz-Ulrich Schmidt: Das Problem des Heros bei Giordano Bruno, Bonn 1968. Ferner: Ernesto Grassi: Heroische Leidenschaften und individuelles Leben, Hamburg 1957, S. 70ff.

[ 16 ]
Bruno: Eroici furore [Anm 12], S. 185, 73, 87 u. ö.

[ 17 ]
Paravelsus: Werke in 5Bdn., (Hg. W.-E. Peuckert), Darmstadt 1965ff., hier: Bd. I, S. 297ff.

[ 18 ]
Konrad von Megenburg: Das Buch der Natur (Hg. Fr. Pfeiffer [1861]), Hildesheim 1962. ö Traude-Marie Nischik: Das volkssprachliche Naturbach im späten Mittelalter. Sachkunde and Dinginterpretation bei J. v. Maerlant and K. v. Megenburg, Tübingen 1984. - Zur Buch-Metapher allgemein: Ernst-Robert Curtius: Europäische Literatar und lateinisches Mittelalter, 2. Aufl., Bern 1954, S. 302ff. - Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt/M. 1981.

[ 19 ]
"Das Buch der Philosophie ist das Buch der Natur, das vor unseren Augen daliegt, das jedoch nur wenige zu entziffern und zu lesen vermögen, da es in Buchstaben, die von denen unseres Alphabets verschieden sind, in Dreiecken und Quadraten, in Kreisen und Kugeln, in Kegeln und Pyramiden verfaßt und geschrieben ist." (Galilei an Fortunio Liceti, zit. nach Hermann Noack: Symbol and Existenz der Wissenschaft, Halle/ Saale 1936, S.69.) An anderer Stelle spricht Galilei von "Chiffren", "d. h. mathematischen Figuren und deren notwendige Verknüpfung" (zit. nach Ernst Cassirer: Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance [1927], Darmstadt 1963, S. 165.) -Dies ist nicht mehr natura loquax, sondern natura more geometrico, der entscheidende Übergang von einer semiologisch zu einer mathematisch verfahrenden Naturwissenschaft. Von hier aus betrachtet, gehört Paracelsus mit seiner Zeichenlehre noch zum Mittelalter. Vgl. Erich Rothacker: Das "Buch der Natur". Materialien and Grundsätzliches zur Metapherngeschichte, Bonn 1979, S- 15,45.

[ 20 ]
Ralph Waldo Emerson: Natur, Zürich 1982, S. 10.

[ 21 ]
Serge Moscovici: Versuch über die menschliche Geschichte der Natur, Frankfurt/M. 1982, S.13ff.

[ 22 ]
Moscovici [Anm. 21], S. 57ff., 464ff.

[ 23 ]
Th. W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1970, S.98.

[ 24 ]
Adorno [Anm. 23], S.103-113.

[ 25 ]
Adorno [Anm . 23], S 114/l5.

[ 26 ]
Adorno [Anm. 23], S.121.

[ 27 ]
Adorno [Anm. 23], S. 115.

[ 28 ]
Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt/M. 1970, S.729-818, hier: 817. Ich beziehe mich ausschließlich auf das Natur-Kapitel des Prinzip Hoffnung, gehe nicht auf die zurückhaltenderen Formulierungen Bloch in Experimentum Mundi (Frankfurt/M. 1975, S. 212ff.) ein.